Er ging hinaus und weinte bitterlich
Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Simon, Simon, siehe, der Satan hat sich ausgebeten, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe im Blick auf dich begehrt, dass deine Treue nicht schwindet. Und wenn du dich dann umwendest, mach deine Brüder fest. Er aber sprach zu ihm: Herr, mit dir bin ich bereit, ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Es kräht heute kein Hahn, ehe du dreimal geleugnet hast, mich zu kennen.

Sie nahmen ihn fest, führten ihn ab und führten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Sie zündeten ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd, als er gegen das Licht saß, sah ihn unverwandt an und sprach: Der war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und kurz darauf sah ihn ein anderer und sagte: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin's nicht. Und nach etwa einer Stunde bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und auf der Stelle, noch während er redete, krähte ein Hahn. Und der Herr wandte sich und blickte Petrus an. Und Petrus gedachte an das Wort des Herrn, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute ein Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.

Es wurde geweint in Deutschland, bitterlich geweint. Viele Tote waren zu beklagen – gefallene Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder, Freunde, Verwandte; von Bomben Getötete fast überall. Auch der Verlust schöner Städte und großer Teile des Landes war Grund zum Weinen. Geweint wurde gewiss schon im Krieg, da freilich in privaten Räumen, denn offiziell wurden die Toten „mit stolzer Trauer“ annonciert. Geweint wurde auch nach dem Krieg, doch schon bald mischte sich in die Trauer um die Toten Groll, Gekränktheit, Ressentiment, Zorn auf die Besatzungsmächte. Vom bitteren Weinen blieb zunehmend nur die Bitterkeit: Verbitterung und Erbitterung. 

Theophil Wurm, württembergischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der EKD, schieb 1948, „dass es ein Unglück ist, wenn die Besatzungsmächte emigrierten Juden das Heft in die Hand gegeben haben, um ihre begreifliche Rachegefühle abzureagieren“. Der Massenmord am jüdischen Volk hat kirchliche Irrlehren nicht erschüttert: Jüdisch ist Rache – Liebe ist christlich.

Von Petrus heißt es: Er ging hinaus und weinte bitterlich. Er weint aus tiefer Reue, bereut sein Versagen. Gab es solche Tränen der Reue, der Scham in Deutschland nach dem Krieg?

Mitte der sechziger Jahre haben die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich bei den Deutschen eine Unfähigkeit zu trauern diagnostiziert. Sie beschrieben die Begeisterung vieler, der meisten von ihnen für die Nationalsozialisten als eine massenhafte Verliebtheit in den Führer. Und die war eine Liebe zu sich selbst. Hitler hatte versprochen, Deutschland wieder groß zu machen und damit die Deutschen. Die Niederlage entzog dieser Selbstliebe die Grundlage, war eine tiefe narzisstische Kränkung. Und die erschwerte die Trauer auch um die eigenen Toten, erstrecht die Einfühlung in die Opfer des Nationalsozialismus. Solche Einfühlung hätte der schmerzhaften, schamvollen Einsicht bedurft, in heller Begeisterung und heißer Liebe einer Mörderbande verfallen gewesen zu sein und bei deren Verbrechen mitgetan zu haben. Das ließ sich leugnen, verdrängen, wegschieben in jenem Groll auf die Alliierten – auf ihre Bemühungen um reeducation und um Entnazifizierung: die Fragebögen, die Spruchkammern; der Bombenkrieg sollte beweisen: die sind auch nicht besser; die Nürnberger Prozesse waren für die meisten nicht augenöffnend für das Ausmaß der Verbrechen, sondern galten als Siegerjustiz. Groll auch gegen die Insassen der DP-Lager und gegen die, die, den Nazis entflohen, im Exil überlebt hatten. Und Melancholie, Depression, sonst oft Folge narzisstischer Kränkungen, ließ sich abwehren durch verbissene Anstrengungen beim Wiederaufbau der Wirtschaft.

Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.

Er war Jesus nachgefolgt, im Unterschied zu den anderen Jüngern, wenn auch von ferne. Wer mir nachfolgt, hatte Jesus gesagt, verleugne sich selbst. Petrus aber verleugnet seinen Herrn. Wer mich verleugnet vor den Menschen, auch das hatte Jesus gesagt, wird verleugnet werden vor den Engeln.

Die, die Jesus festgenommen und zum Hohenpriester gebracht hatten, zünden ein Feuer an mitten im Hof. Es ist Nacht und es ist kalt. Das Feuer wärmt, und die Gemeinschaft wärmt auch: sie setzen sich zusammen. Petrus setzt sich dazu, will zu dieser Lagerfeuergemeinschaft gehören, sitzt in ihrer Mitte. Das Feuer aber gibt nicht nur Wärme, es gibt auch Licht. Eine Magd sieht sich Petrus genau an, der vom Feuer hell beleuchtet wird, sieht ihn unverwandt, unerbittlich an und sagt schließlich: Der war auch mit ihm. Petrus leugnet. Ein anderer spricht ihn direkt an, sagt nicht Der, sondern Du: Du bist auch einer von denen. Du sitzt zwar mitten unter uns, aber du gehörst nicht zu uns, sondern zu denen, zu den anderen. Wieder leugnet Petrus. Ein dritter bekräftigt die Anschuldigung, redet wieder in dritter Person von Petrus, spricht auch nicht mehr von denen, sondern wieder von ihm, von Jesus, sagt wie zuvor die Magd: Der war auch mit ihm. Und Petrus leugnet zum dritten Mal.

Er leugnet seine Gemeinschaft mit ihm. Mit ihm, der da in Sicht-, wahrscheinlich auch Hörweite gedemütigt, gequält, verhöhnt wird, will er nichts zu tun haben; den kennt er gar nicht. Der ist ihm ganz fremd. Er möchte zu denen gehören, in deren Mitte er jetzt sitzt, zieht die Gemeinschaft derer, die da zusammensitzen, die Gemeinschaft der Sicheren der Gemeinschaft mit ihm, dem Bedrohten, dem Gescheiterten vor. Er schämt sich seiner Verbindung mit ihm, seiner Bindung an ihn. Jesus aber hatte auch angekündigt: Wer sich meiner schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommt.

Christen und Kirchen haben sich ihrer Verbindung mit den Juden geschämt, ihrer Bindung an den Juden Jesus und an den Gott Israels. Sie wollten zur Volksgemeinschaft gehören, wollten vermeiden, dass auch ihnen signalisiert wurde: Ihr gehört nicht dazu. Sondern zu denen, zu den anderen. Zu den Juden. Sie wollten verhindern, dass es auch von ihnen hieß, was den Juden stets unterstellt wurde: national nicht ganz zuverlässig zu sein, unter einer doppelten, also zwiespältigen Loyalität zu stehen, nämlich: nicht nur Bürger ihrer Länder zu sein, sondern zugleich nichtjüdische Untertanen des Königs der Juden; Anhänger und Anbeter des Gottes eines anderen Volks. Viel theologische Arbeit wurde getan, um das Christliche abzugrenzen von allem Jüdischen; Evangelium ist das, was nicht Gesetz ist. Der immer wieder erhobenen Forderung, die jüdische Bibel aus der christlichen zu entfernen, wurde zwar offiziell nie entsprochen, faktisch aber galt das Alte Testament als veraltet, durch das Neue überboten, überwunden; zudem sei es nur mithilfe des Neuen überhaupt recht zu deuten – bei vielen Christen ist das auch heute so. Doch die Christen wurden angesprochen auf ihre Verbindung zu den Juden, ihre Bindung an Gott und sein Volk, ihre Treue zu ihrem Herrn. Und sie leugneten.

Und wir? Und ich? Gewiss kein explizites Leugnen meiner Bindung an den Juden Jesus und sein Volk. Aber doch hin und wieder verlegenes Schweigen, wo Einspruch, Widerspruch dran wäre. Gewiss nicht aus Todes- oder auch nur Existenzangst. Sondern aus Scheu vor Konflikten, davor, mich zu exponieren und vielleicht zu blamieren; ein Störenfried zu sein; einer, der maßlos übertreibt. „Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat“, schreibt Adorno.

Als Petrus noch redet, als er zum dritten Mal leugnet, kräht ein Hahn. Jesus hatte angekündigt, dass Petrus ihn noch vor dem Morgengrauen, vor dem ersten Hahnenschrei dreimal verleugnen wird. Zuvor aber hatte er davon gesprochen, der Satan habe vor, die Jünger zu sieben, nahrhaftes Korn von der Spreu zu trennen, hatte aber diesem Ansinnen seinen eigenen Wunsch entgegengesetzt, Petrus möge ihm die Treue halten. Nun hat sich Petrus als Spreu erwiesen, die der Wind verweht. Jesus hatte das vorausgesehen, seinem gegenteiligen Wunsch zum Trotz. Bei seiner Rede von der trennscharfen Prüfungstätigkeit des Satans hatte er Petrus bei seinem Geburtsnamen Simon angesprochen, bei der Ankündigung der Verleugnung aber Petrus genannt: Fels. Er scheint das Leugnen, den Verrat für ein Wesensmerkmal seiner Kirche zu halten. Das ist beunruhigend, das ist bitter auch für uns. Die Hähne auf vielen Kirchtürmen, die ihre Richtung ändern, wenn der Wind sich dreht, erinnern uns daran, sind Mahnung und Warnung.

Nun, da Petrus sich an das Wort seines Herrn erinnert, kann er nicht länger mitten in der Runde, mitten in der wärmenden Gemeinschaft bleiben. Er geht hinaus. Und weint bitterlich. Er schämt sich, sich geschämt zu haben. Es ist ihm bitter leid.

Es war nicht nur der Hahn, der Petrus an die Worte Jesu erinnerte. Es war Jesus selbst. Er hatte Petrus zwar angekündigt, dass der sich umwenden wird, doch zunächst wendet er selbst sich um: Er blickt Petrus an.

Hat Jesus auch uns, seine Kirche angeblickt, vor und nach 1945? Ja. Einige seiner Jüngerinnen und Jünger hat sein Blick getroffen. Sie haben sich geschämt, bitter bereut. Und sich umgewandt. Viele aber sind seinem Blick ausgewichen. Sie redeten und machten weiter, als wäre nichts geschehen.

Nun hat uns Jesus wieder in den Blick genommen – fragend, ob wir ihn und seine Geschwister erneut verleugnen; flehend, dass unsere Treue nicht schwindet. Am 7. Oktober letzten Jahres ist Entsetzliches geschehen. Massenmörder haben Israel überfallen, Familien in ihrem Zuhause, Jugendliche auf einem Musik-Festival. Viele wurden bestialisch gequält und umgebracht, viele wurden verschleppt. Weil sie Juden waren. Mit ihren Taten und ihren Worten haben die Mörder klar gemacht: das Land vom Fluss bis zum Meer soll judenfrei sein. Und morgen die ganze Welt. Juden soll es nicht mehr geben. Die Täter haben ihre Taten weltweit verbreitet, voll Freude und Stolz sich beim Morden, Brennen und Vergewaltigen gefilmt, Frauen johlend als Trophäen präsentiert. Auch auf den Straßen dieser Stadt wurden die Morde bejubelt, die Chamas als antikoloniale Befreiungskämpfer gefeiert.

Viele waren entsetzt – über die Taten selbst und über die, die sie feierten. Doch der Wind hat sich rasch gedreht. Schon bald, sehr bald hieß es, auch in Kirchengemeinden, man verurteile die Gewalt beider Seiten und Krieg sei immer eine Niederlage und man müsse auch die andere Seite, müsse auch den Kontext sehen; die Morde am 7. Oktober seien schließlich nicht aus einem luftleeren Raum gekommen – was heißen soll: die Mörder hatten gute Gründe.

Für diejenigen unter uns, die sich umgewandt haben, abgewandt von den Irrlehren und Irrwegen der Kirche und den Juden zugewandt, kommt es nun darauf an, unsere Brüder und Schwestern festzumachen, zu stärken. Zunächst und vor allem unsere jüdischen Geschwister zu bestärken: sie zu besuchen, anzurufen, Kontakt mit ihnen zu halten, Anteil zu nehmen, ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Dazu gehört, denen zu widersprechen und zu widerstehen, die Israel erneut verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben. Es ist unsere Sache, Israel zu entschuldigen, Gutes von ihm zu reden und alles zum Besten zu kehren.

Es kommt aber auch darauf an, unsere christlichen Geschwister fest zu machen, die wanken und schwanken; die mit den Juden solidarisch sind, sofern – und solange – sie Opfer sind, verfolgt und ermordet werden, ihnen ihre Solidarität aber sofort entziehen, wenn sie sich wehren, noch dazu mit Waffengewalt. Da müssen wir unsererseits krähen.

Es kommt gewiss auch darauf an, dessen innezuwerden und nicht zu vergessen, dass der Wunsch, Juden soll es nicht mehr geben, im Schoß der Kirche ausgebrütet wurde. Doch die tiefe Scham, die bittere Reue darüber dürfen nicht nur Affekt und Gefühl bleiben. Sie müssen tätig werden.

Amen.