Zu Gott kommen
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!

3Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn;

mein Leib und Seele freuen sich

in dem lebendigen Gott.

4Der Vogel hat ein Haus gefunden

und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen –

deine Altäre, Herr Zebaoth,

mein König und mein Gott.

5Wohl denen, die

in deinem Hause wohnen;

die loben dich immerdar.

6Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten

und von Herzen dir nachwandeln!

7Wenn sie durchs dürre Tal ziehen,

wird es ihnen zum Quellgrund,

und Frühregen hüllt es in Segen.

8Sie gehen von einer Kraft zur andern

und schauen den wahren Gott in Zion.

9Herr, Gott Zebaoth, höre mein Gebet;

vernimm es, Gott Jakobs!

10Gott, unser Schild, schaue doch;

sieh an das Antlitz deines Gesalbten!

11Denn ein Tag in deinen Vorhöfen

ist besser als sonst tausend.

Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause

als wohnen in den Zelten der Frevler.

12Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; /

der Herr gibt Gnade und Ehre.

Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.

13Herr Zebaoth, wohl dem Menschen,

der sich auf dich verlässt!

 

Am 1. April geht es los. Sie schnallt sich den Rucksack, den sie schon seit Tagen sorgfältig gepackt hat, auf den Rücken, gibt ihrem Mann einen Kuss, öffnet die Haustür und geht. Die Straße herunter, dann rechts durch den Wald nach Süden. In den ersten Stunden wird ihr der Weg noch vertraut sein, sie kennt die Umgebung. Doch dann muss sie sich die Wege suchen, abseits der Straßen. Sie hat ihr Smartphone, sie kann sie nicht verloren gehen. Für die kommenden Tage hat sie ihre Übernachtungen schon festgemacht. In der ersten Woche will sie bis Leipzig kommen. Ein Zelt hat sie nicht dabei, aber Isomatte und Schlafsack. Wenn sie irgendwo kein Bett finden sollte.

Als Kerstin vor einigen Monaten zu ihrer Chefin ging und sagte: Ich will drei Monate Wandern, sagte die: „Ja, tolle Idee, mach mal!“ Sie bekommt weiter ihr Geld, aber übers ganze Jahr nur dreiviertel des Gehalts. Sie will nicht nach Santiago, sie will nur nach Taizé.

9 Tage an – reine Laufzeit, 211 Stunden. Sagt Google. Wenn sie 4 Stunden am Tag läuft, braucht sie 53 Tage, mit einigen Erholungstagen zwischendurch. In 3 Monaten müsste es zu machen sein.

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Der Weg ist das Ziel. Das ist der Satz, der beim Thema Pilgern immer fällt – und nicht nur dort. Oft auch als Ausrede für manches Chaos im Leben, in der Familie, im Beruf. Der Weg ist das Ziel. Das Unterwegssein ist wichtiger als das Ankommen. Beim Wandern wird der Kopf frei, die Seele wird leichter. Vieles von dem ab, was einem im Alltag belastet, fällt ab.

Ob Kerstin beim Wandern singt? Ob sie Kopfhörer dabeihat und beim Laufen Musik vom Handy hört?

Angeblich haben Pilger früher Pilgerlieder gesungen. Wahrscheinlich sogar schon im alten Israel. Etwa den Psalm, den wir vorhin miteinander gebetet und dann auch gesungen haben.

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.

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Die, die im alten Israel zum Tempel nach Jerusalem pilgerten, hätten mit dem Satz „Der Weg ist das Ziel“ vermutlich nicht so viel anfangen können. Sie hatten ein klares Ziel vor Augen: den Tempel auf dem Berg Zion in Jerusalem. Ihre Lieder besangen nicht die Schönheit des Wanderns, sondern die Schönheit des Tempels: Wie lieblich schön, Herr Zebaoth, sind deine Wohnungen. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen;

die loben dich immerdar. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und zu dir wallfahren!

Sie reisten zu Gott. Und sie wussten, wo er wohnt. Gott hatte eine Adresse. Nicht im Himmel, sondern auf Erden, in einer Stadt in einer Straße, Tempelberg 1, Jerusalem, Israel.

Auf dem Klingelschild sein Name. Dort wohnt er. Nicht leiblich. Aber sein Name wohnt dort. Bis ins Wohnzimmer Gottes aber kam man nicht. Privatgemächer sind Privatgemächer. Im Vorzimmer, in den Vorhöfen aber ist es auch schon schön.

Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.

In Versailles, in Sanssouci, auf der Prager Burg – lange Schlangen vor der Kasse. Schon die Vorhöfe sind so sehenswert. Man wartet gern.

Ins Allerheiligste darf man nicht. Aber die Schwalben kommen überall hin. Ganz nah. Sie bauen ihre Nester neben den Altären und über Gottes Wohnzimmer.

Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott.

Die Pilger aber können ihre Nester nicht im Tempel bauen. Die Pilger müssen wieder nach Hause. Einige Tage wird Kerstin in Taizé bleiben, vielleicht eine Woche. Aber dann muss sie wieder zurück.

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Ob Kerstin Durststrecken haben wird? Ob sie den Mut verlieren wird? Wenn es nicht mehr aufhört zu regnen. Wenn die Feuchtigkeit durchs Regencape kriecht.

Im Psalm wird auch das in Glück verwandelt:

Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, / wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen.

Sie gehen von einer Kraft zur andern bis sie vor Gott erscheinen auf Zion.

Das lässt sich aushalten, wenn das Ziel vor Augen bleibt. Das Ziel heißt Zion. Die Wohnung Gottes. Gott besuchen. Mit Gott sprechen. Beten.

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Wir machen es uns bequemer. Wir müssen nicht das Haus verlassen, um mit Gott zu reden, um zu beten. Das können wir auch zu Hause. Tun wir es auch?

Man kann überall beten, heißt es. Theoretisch ja. Praktisch auch? Mir fällt das leichter, wenn ich in der Kirche bin. Braucht es nicht mindestens einen Ortswechsel, vielleicht sogar mehr: einen Alltagswechsel, einen Sinnenwechsel, einen Seelenwechsel? Die Quälgeister des Alltags und des Berufs loswerden. Leer werden und sich dann mit neuem füllen. Ich muss merken, dass es so vieles abseits von dem gibt, was mich gerade beschäftigt und besorgt. Ich muss merken, dass ich mich selbst gar nicht mehr so wichtig nehmen muss.

Heute drückt man das mit der Formel aus: Zu sich selbst finden. Die alte Sprache christlicher Spiritualität formulierte: Von sich ablassen. Sich selbst verlieren. Das scheint genau das Gegenteil auszudrücken – zu sich selbst – von sich weg, meint aber möglicherweise das gleiche. Es meint, den Menschen abzustreifen, der so sehr von außen, aber eben nicht durch Gott, sondern durch fremde Einflüsse in der Lebensumwelt, im Beruf, in der Familie usw. bestimmt wird.

Pilgern: einen langen Weg gehen, um all das abzustreifen und etwas anderes, etwas Wesentlicheres zu finden.

Wer heute pilgert, will oft zu sich selber finden. Wer damals pilgerte nach Jerusalem zum Tempel, wollte Gott finden, Gott treffen, der dort wohnt.

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Allerdings wohnt dort ja nur sein Name, das an Gott, was angerufen werden kann, aber nichts, was man sehen kann. Gott kann man nicht sehen. Aber Gott kann sehen. Und er soll sehen, hinschauen:

Schau, Gott, auf unseren Schild, und blicke auf das Angesicht deines Gesalbten.

Wer ist der Gesalbte Gottes? Es könnte der König sein. Er ist Schild des Volkes, sein Beschützer. Könige wurden in Israel gesalbt. Die Pilger würden also am Ziel ihrer Reise im Jerusalemer Tempel um Gottes Segen für den König bitten.

Mit dem Gesalbten könnte aber auch ganz Israel gemeint sein. Dann bitten die Pilger, Gott solle auf die sehen, die zu ihm in den Tempel gekommen sind.

Für die Christen wurde Jesus von Nazareth der verheißener Messias, der Gesalbte des Herrn.

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Vor einigen Wochen war ich im Michaeliskloster in Hildesheim. Ich bin nicht gepilgert, sondern dorthin zu einer Konferenz gereist. Das Michaeliskloster ist ein herrlicher, sehr ebenmäßiger und schlichter romanischer Bau. Mit solcher Romanik könnten wir Reformierten noch gut mit.

Allerdings steht vorne in der Apsis ein großer Holzchristus auf einem Pfahl, ein langer, dürrer Christus ohne Kreuz mit ausgebreiteten Armen wie ein uraltes romanisches Kruzifix. Es ist aber ein ziemlich neues Kunstwerk und in der Gemeinde sehr umstritten. Aus der Ferne sieht es schön aus. Nähert man sich diesem ohne Kreuz Gekreuzigten, erkennt man seine gefolterte Gestalt und ein geradezu zerquetschtes Gesicht. Es gäbe Familien, hat man uns gesagt, die nicht mehr in diese Kirche kommen, weil sie den schrecklichen Anblick ihren Kindern ersparen wollen.

Schau, Gott, auf unseren Schild, und blicke auf das Angesicht deines Gesalbten.

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Wir sind in der Passionszeit. Der Gesalbte Gottes ist kein König und kein Sieger. Der Gesalbte Gottes ist ein Gezeichneter. Kein schöner Anblick. Keine Ergötzung, keine Augenweide, Der Mensch, dem Menschen übel mitgespielt haben.

Der Gesalbte Gottes, Christus oder Israel? In jedem Fall einer, der uns Menschen daran erinnert, dass wir es selber sind, die uns so viel Leid zufügen und die gerade durch die Erinnerung in der Kirche, im Tempel umkehren und sich versöhnen. Wie sich auch Gott durch Christus mit uns versöhnt hat.

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Gerade St. Michaelis in Hildesheim kann dazu eine schöne Geschichte erzählen. Eine kleine Tafel nahe dem Grundstein weist darauf hin: „Der Wiederaufbau nach 1945 wurde gefördert von Mr. B. R. Armour, USA, einem Sohn des verfolgten Volkes.“

Die alte Kirche wurde in den letzten Kriegstagen durch amerikanische Bomben fast vollständig zerstört. Schon bald nach dem Krieg sammelte Pfarrer Kurt Degener Geld für den Wiederaufbau. Er schrieb auch seinem 1930 nach Amerika ausgewanderten Bruder von der Zerstörung der schönen Kirche und der nahm Kontakt zu dem befreundeten Chemiefabrikanten Bernard R. Armour aus New York auf, der sich sofort daran machte, sowohl Geld und Baumaterial für den Wiederaufbau wie auch Carepakte nach Hildesheim zu schicken.

Bernard R. Armour konnte viel weniger Geld schicken als er vorhatte, denn er starb schon 1949. Aber das, was er schickte, war der Anfang des Wiederaufbaus von St. Michaelis in Hildesheim. Den Anfang machte ein amerikanischer Jude. In einem Brief an Pfr. Degener schrieb er: „Ich erinnere mich, als ich ein kleiner Junge war, dass meine Mutter mir einen Teil der Bibel vorlas, welcher mir so nachdrücklich darlegte, dass Buße, Gebet und Nächstenliebe die ganze Menschheit erlösen wird zur größeren Lebensfreude und Brüderlichkeit der Menschheit.“

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Wer pilgert, um sich zu finden oder Gott zu finden, muss sich darauf einstellen, dass es keine Traumreise wird. Man kann nur zu sich selber und zu Gott kommen, wenn man sich der Wahrheit stellt. Im Tempel des Herrn und in der Kirche schaut man auf den Gesalbten des Herrn. Kein schöner Anblick. Denn die Gesalbten des Herrn sind Menschen, wahre Menschen, Menschen, die leiden und gelitten haben. Doch nur, wer sich dem stellt, gewinnt die Kraft für die Versöhnung.

Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre. … Herr Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!

Amen.