Warten auf die Liebe
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Advent. Er kommt. Er steht schon vor der Tür. Der Herr. Gott. Gott als Mensch, als Schwester, als Bruder. Bald klopft es. Oder es klingelt. Er kommt. Sie kommt. Bald!

Wenn wichtiger Besuch erwartet wird, schaue ich bei mir zu Hause, wie es so aussieht. Ob noch geputzt und aufgeräumt werden muss.

Advent ist die Zeit bis er kommt, die Zeit der Vorbereitung. Und das ist durchaus eine kritische Zeit. Nachgucken, wie es bei uns selber aussieht, ob wir bereit sind. Sich ehrlich machen. Wir werden das gleich sehen an dem Text, auf den wir heute hören sollen.

Dass es in diesem Jahr keinen gemütlichen Weihnachtsmarkt neben der Kirche gibt, sondern eine Baustelle passt eigentlich ganz gut. Baustelle mit Aufreißen, Baggern, Graben, Niederreißen passt besser zum Advent, als Budenzauber mit Glühweinseligkeit und Jingle bells.

Doch da läutet noch nicht das Weihnachtsglöckchen, da läuten erstmal die Alarmglocken.

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: So spricht, der das Amen ist, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes:

15Ich kenne deine Werke und weiß, dass du weder kalt noch warm bist. Wärst du doch kalt oder warm! 16Nun aber, da du lau bist, weder warm noch kalt, will ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17Du sagst: Ich bin reich, ich bin wohlhabend und habe nichts nötig, und merkst nicht, dass gerade du elend bist, erbärmlich, arm, blind und nackt. 18Darum rate ich dir: Kauf Gold von mir, das im Feuer geläutert ist, dass du reich wirst, und weiße Gewänder, dass du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht zum Vorschein kommt, und Salbe, dass du sie auf deine Augen streichst und wieder sehen kannst.

19Die ich liebe, weise ich zurecht und erziehe sie. Empöre dich, kehre um!

20Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer immer auf meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich einkehren und das Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.

21Wer den Sieg erringt, soll mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie ich, nachdem ich den Sieg errungen habe, mit meinem Vater auf seinem Thron sitze.

22Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.

 

Liebe Gemeinde, Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.

Am Anfang der Offenbarung des Johannes werden Zensuren verteilt. Sieben Gemeinde werden beurteilt. Die Sieben kommt in der Offenbarung ganz oft vor und steht für die Gesamtheit der Welt. Aber der alten Welt, der Welt, die noch nicht die Welt Gottes ist. Die sieben Gemeinden sollen stellvertretend für alle christlichen Gemeinden bezeugen, dass Christus der Herr der Welt ist und dass deshalb die Herren der Welt ausgespielt haben, die widergöttlichen Mächte entthront wurden. Das sollen die Gemeinden bezeugen, damit keiner mehr die falschen Götter anbetet, keiner mehr sich vor den falschen Mächten verbeugt, keiner mehr denen seine Reverenz erweist, die die anderen unterdrücken, statt sie in die Freiheit zu führen.

Haben die Gemeinden ihre Aufgabe erfüllt? Sie werden beurteilt, erhalten Verbalnoten, sogenannte Sendschreiben. Das Arbeitszeugnis für die siebte Gemeinde, für Laodizea fällt besonders schlecht aus, wir haben es eben gehört. Sie sind lau, zum Ausspeien. Auf gut Deutsch heißt das: zum Kotzen. Das Arbeitszeugnis steckt nicht nur voller Kritik, sondern sogar voller Spott und Ironie.

Laodizea ist eine reiche Stadt in Kleinasien, in der Nähe des heutigen Pamukkale in der Türkei. Es gab dort ein florierendes Bankenwesen sowie Baumwollanbau und die Verarbeitung schwarzer Stoffe zu purpurroten. Berühmt war Loadizea auch für seine Augenheilkunde und seine Augensalbe.

All das spiegelt sich in der Kritik wieder. Die Gemeinde ist reich und doch arm. Sie soll sich Gold kaufen, das im Feuer bewährt wurde. Die Gemeinde hat viel kostbaren Purpurstoff. Aber sie soll sich weiße Kleider kaufen, weil sie eigentlich nackt ist. Die Gemeinde hat eine Augensalbe, aber sie ist eigentlich blind.

Laodizea, eine reiche, edel ausgestattete Gemeinde, die aber eigentlich ganz arm, ganz nackt und ganz blind ist. Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea ist eine Ohrfeige.

Die Gemeinde ist lau, unentschieden, brennt weder für etwas noch gegen etwas, ist lasch und selbstgenügsam, hat alles, was sie braucht und weiß doch nichts damit anzufangen. Eine blinde Gemeinde im Zentrum der antiken Augenheilkunde und sieht nicht, worauf es ankommt. Sollen sie sich doch endlich mal Augensalbe kaufen.

So! So viel zu Laodizea. Ganz interessant, nicht wahr? Jetzt singen wir noch ein paar Liedchen und gehen dann nach Hause. Oder müssten wir doch erst noch ein bisschen über uns reden? Das sollten wir wohl! Das ist der Advent. Besinnlich. Die Besinnung auf sich selber ist nicht gemütlich. Sie ist peinlich. Bevor Er kommt und an unsere Tür klopft, müssen wir nachsehen, wie es bei uns selber aussieht; die Gemeinde, die Kirche einer kritischen Revision unterziehen: Haben wir denn gemacht, was wir sollten, oder sind auch wir wie die Gemeinde in Laodizea, reich und selbstgenügsam, aber eigentlich nackt und blind für alles, was jetzt an der Zeit wäre?

Zumindest in einem Bereich sind wir es offensichtlich. Auch wir sind vergleichsweise reich. Was machen wir mit dem Geld? Wir leisten uns ein Museum, drei defizitäre Friedhöfe, zwei Pfarrer für eine relativ kleine Gemeinde, eine diakonische Mitarbeiterin, schöne Kirchenmusik für die ganze Stadt. Und können uns selbstgenügsam auf die Schulter klopfen und uns zunicken: Wir machen doch was! Stehen wir damit besser da, als die in Laodizea? Du bist lau, weder warm noch kalt, will ich dich ausspeien aus meinem Munde.

Und wie ist es mit der Evangelischen Kirche insgesamt?

Auch hier könnte ich ein bekanntes Klagelied anstimmen: Da ist viel Geld, da sind viele aufrichtige Menschen, die sich redlich bemühen. Aber eine Begeisterung, ein Brennen ist nirgends zu spüren. Es gibt keine Visionen, keine Entschiedenheiten, kein Feuer, keine Radikalität, keine Eindeutigkeit. Im Grunde ist die Ev. Kirche ein Abbild der unterschiedlichsten Einstellungen und Positionen der bürgerlichen Gesellschaft. Eine Mehrheit ist dafür, dass man der Ukraine hilft – auch mit Waffen, eine gewiss nicht kleine Minderheit ist strikt gegen Waffenlieferungen. Das neuste Streitthema ist die Sympathie, die die jüngste EKD-Synode dem zivilen Ungehorsam der sog. „Letzten Generation“ entgegengebracht hat. Die einen feiern das als entschiedene und also gar nicht laue Äußerung, die anderen sind entsetzt, dass die EKD Gesetzesverstöße legitimiert und wollen aus der Kirche austreten. Beides stimmt übrigens nicht, denn auch das, was auf der Synode gesagt wurde, war differenzierter, als es dann gehört wird.

Empöre dich! Empfiehlt das Sendschreiben den Christen in Laodizea. Empöre dich. Bei uns empört sich nicht die Kirche. Bei uns empören sich nur die Leute über die Kirche. Die einen, weil sich die Kirche nicht empört, zu zahm, zu lau, zu staatsnah, zu mainstreamig ist. Und die anderen empören sich, dass die Kirche zu politisch, zu moralisch, ist und sich zu allem meint äußern zu müssen.

Ohne Zweifel, eine laue Kirche braucht niemand. Wir sollen Salz der Erde sein, sagt Jesus in der Bergpredigt. „Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten“ (Mt 5,13). Und noch einmal: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen“ (Mt 5,37). Wir aber sagen immer: Ja, aber oder Ja und Nein.

Du bist lau, weder warm noch kalt.

Lau sind wir eigentlich nicht. Wir äußern und schon, wir haben schon eine Meinung. Aber die ist oft differenziert. Wir sind eine diskutierende Gemeinde, wir sind eine diskutierende Kirche. Und wir merken: Es ist in unserer Welt gar nicht so leicht, klar ja! ja! oder nein! nein! zu sagen, es ist ehrlicherweise nicht einfach, das Richtige zu erkennen. Wir verschließen nicht die Augen, wir sind nicht blind, wir sehen uns alles genau an. Und trotzdem erscheint der richtige Weg selten ganz klar vor Augen. Denn die Welt ist komplizierter geworden, vielschichtiger als sie es in der Antike war.

Nein, lau sind wir nicht. Eher abwägend und besonnen. Weil wir uns davor hüten zu meinen, wir wüssten ganz klar, wo es langgeht.

Lauheit ist zum Kotzen. Aber Besonnenheit ist eine Gabe Gottes. Gott hat nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. (2. Tim 1,7)

Besonnenheit ist schon in der Kirche. Und dennoch kann man ihr den Eindruck einer gewissen Lauheit nicht absprechen. Den Geist der Besonnenheit, den hat sie schon. Wovon sie zu wenige hat, das ist vom Geist der Liebe. Liebe wäre ja das, was die Lauheit überwindet, was die Kirche und die Gemeinden erwärmen, erhitzen, begeistern. Denn wo Liebe ist, ist auch Feuer.

Liebe ist etwas Persönliches, die stärkste Bindung zu einem Menschen. Aber auch etwas Unverfügbares. Wir können uns hinsetzen und uns eine Meinung über dieses oder jenes bilden, überlegen, ob wir uns für oder gegen etwas engagieren. Wir können uns aber nicht hinsetzen und uns eine Agenda zu Gewinnung von mehr Liebe ausdenken. So funktioniert das nicht. Liebe funktioniert überhaupt nicht. Liebe ist deshalb auch gar nichts für Funktionäre. Auch nicht für Kirchen- und Gemeindefunktionäre. Liebe geht nicht mit Programmen und Projekten, Agenden und Agenturen. Liebe geht nur mit Menschen. Unverfügbar und unplanbar. Mit einem, der plötzlich vor der Tür steht und anklopft. Und in dem die ganze Liebe und Wärme Gottes, die ganze Güte und Geborgenheit, die ganze Klarheit und die ganze Herrlichkeit des Himmels zu mir kommt und mich begeistert.

Darauf warten wir. Aber die Liebe Gottes kommt. Sie kommt in Menschen, in einem Menschen. Ich werde ihn entdecken, ich werde sie finden.

Können wir gar nichts tun außer warten? Doch, eins können wir tun. In dem alten dicken Buch lesen. Eine bessere Idee habe ich nicht. In der Bibel lesen und uns aufwärmen, damit wir wissen, wer da kommt, wer sie ist und wie er ist: sanft und gerecht, friedlich, unwiderstehlich, glücklich, himmlisch. Er kommt.

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Fürbitten

Komm, Gott, komm zu uns, klopf an, wir machen dir auf.

Komm Gott und bring Liebe mit. Deine Liebe zu uns, und davon so viel, dass es auch noch gut für unsere Liebe zu dir reicht. Dann merken wir, dass wir leben und wissen, wofür wir leben. Dann begeistern wir uns für dich, Gott, und nichts wird uns von dir trennen, und nichts wird uns wichtiger sein als dich froh zu machen. Denn das wird auch uns froh machen.

Komm Gott und bring Liebe mit. Deine Liebe, unsre Liebe und die Liebe zu den anderen. Die auch nur Menschen sind. Liebe und Nachsicht, Liebe und Freundlichkeit, Liebe und bei ihnen sein und helfen und trösten.

Komm Gott und bring Liebe mit. Und hilf uns aufräumen, alles wegzuschaffen, was die Liebe hemmt, alle Eitelkeit und alle Ängstlichkeit, den Geiz und den Neid.

Komm Gott und begeistere uns für Dich und für deine Taten, für deine Nachsicht und deine Treue, und dafür, dass du die Geduld mit uns nicht verlierst und die Hoffnung nicht aufgibst, die Hoffnung darauf, dass wir doch noch einmal dich nur halb so glühend werden lieben wie du uns.

Komm Gott und bring Liebe mit. Klopfe an und wir öffnen dir die Tür. Wir überwinden alles, was zwischen uns steht.

Amen.