Licht und Schatten. Wenn Jesus kommt, scheint immer die Sonne. Man kann es gar nicht anders sehen. Als Jesus ging, als er starb, zog eine Finsternis über das ganze Land. Es ist der einzige Wetterbericht in den Evangelien. Wenn Jesus da war, schien wohl immer die Sonne. Denn er ist das Licht der Welt.
Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Schatten ist dort, wo das Licht nicht hinkommt. Wo sich etwas dazwischenschiebt. Wenn aber Jesus kommt, scheint die Sonne, und die Menschen kommen aus dem Schatten ans Licht.
Als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf einen Berg, setzte sich und sprach:
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen? Es taugt zu nichts mehr, man wirft es weg und die Leute zertreten es.
Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die oben auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stellt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.
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„Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt.“ Aber wen meint er? Wer ist angesprochen? Ich mache vier Vorschläge.
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Licht und Schatten 1: die Menschheit.
Jesus spricht alle Menschen an, die Menschheit also. Die Menschen sind das Licht der Welt.
Der Mensch ist das entwickelste Wesen, das diese Welt bisher hervorgebracht hat. Kein anderes Lebewesen hat solche Fähigkeiten ausgeprägt wie der Mensch. Die Menschen haben das Feuer beherrschen gelernt, sie haben das Rad erfunden, sie haben Maschinen gebaut, die ihnen die Muskelkraft ersetzen, sie haben Computer konstruiert, die ihnen ihr Wissen organisieren und sie schaffen künstliche Intelligenzen, die ihnen das Denken abnehmen. Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid die Krone der Schöpfung. Alles ist euch untertan, alles dient zu eurem Überleben, eurem besseren Leben, eurer Bequemlichkeit. Man spricht jetzt vom Erdzeitalter des Menschen, vom Anthronozän. Der Einfluss des Menschen auf die Welt, auf die Umwelt in vielerlei Hinsicht nimmt dabei exponentiell zu. Die Menschheit ist mehr als Licht der Welt. Sie ist eher eine Explosion in der Welt. Uns wird zunehmend bewusst, dass wir der Welt gar nicht gut tun. Im Gegenteil: Wir schaden ihr. Wir tun uns gut, aber nicht der Welt. Die Krone der Schöpfung sollte ihr Licht lieber unter den Scheffel stellen und nicht mehr so hell leuchten lassen. Denn das Licht, das die Menschheit in die Welt gebracht hat, verbrennt die Erde mehr als dass es sie erleuchtet.
Dass die Menschheit das Licht der Welt sei, konnte man nur so lange behaupten, so lange man rücksichtslos voranschritt. Wer keine Rücksicht nimmt, wer nicht zurücksieht, sieht auch nicht den langen und immer längeren Schatten, den das rücksichtlose Vorgehen in die wirft.
Ihr seid das Licht der Welt. Mein erster Vorschlag, dass Jesus damit die ganze Menschheit meint, kann man heute nicht mehr guten Gewissens diskutieren.
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Licht und Schatten 2: die Christenheit.
Zweiter Vorschlag. Ihr seid das Licht der Welt. Mit „ihr“ meint Jesus die Christen. Es sind die Christen, die die Welt hell machen. Ohne die Christen wäre diese Welt ein ziemlich finsterer Ort. Waren es nicht Christen, die die Idee der Nächstenliebe und dann sogar der Feindesliebe in die Welt gebracht haben? Waren es nicht Christen, die Menschlichkeit in die Welt gebracht haben, also die Überzeugung, dass die Welt besser wird, wenn wir uns nicht mehr nur um uns selbst kümmern, sondern auch um die Schwachen, die Bedürftigen, die Kranken, die Alten, die Fremden, die Armen, die Obdachlosen, die Heimatlosen, die Flüchtenden?
Und sind die Ideen der Aufklärung, der Menschenrechte und der Demokratie nicht auch letztlich auf dem Boden Christentums entstanden? Es sind die Werte der westlichen Welt, also der christlichen Welt. Man spricht neuerdings nicht mehr von der christlichen, sondern von der jüdisch-christlichen Kultur, denn vieles davon ist gar keine Erfindung des Christentums, sondern geht auf das Judentum und die Tora zurück. Jesus war Jude. Wenn Jesus sagte: Ihr seid das Licht der Welt, sagte er das zu Juden.
Ihr seid das Licht der Welt, also wir Christen und wir Juden, wir Menschen aus dem Westen. Und da Jesus gesagt hat, wir sollen unser Licht leuchten lassen, haben wir das auch getan. Wir sind in alle Welt gefahren und haben gesagt: Wir sind das Licht der Welt. Wir haben die überlegene Religion, wir haben die überlegene Kultur, seht, wir haben Gewehre und Kanonen, Beweise unserer überlegenen Kultur. Und dann haben wir auch gesagt: Wir sind die überlegene Rasse. Also haben die Christen als Licht der Welt die Völker, die noch im Finstern leben, unterworfen, um sie mit Gewalt zu erleuchten, und haben sie diese Erleuchtung mit Sklavenarbeit und Rohstoffen bezahlen lassen.
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Hat das Christentum der Welt gutgetan? Pauschale historische Urteile sind schwierig. Triumphalistische Pauschalurteile wie: ‚Das Christentum hat die Welt zivilisiert und humanisiert‘ sind ebenso falsch wie pauschale Verdammungen wie: ‚Das Christentum ist verantwortlich für die Ausbeutung der Erde, die Unterjochung und Zerstörung anderer Kulturen und den Rassismus.‘ So einfach ist es nicht. Das Christentum hat der Welt Licht und Schatten gebracht. Deshalb können wir auch den zweiten Vorschlag heute nicht mehr guten Gewissens erörtern.
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Daher ein dritter Vorschlag: Licht und Schatten 3: die Armen vor seinen Augen.
Ihr seid das Licht der Welt. Jesus meint die, die vor ihm stehen. Das waren vermutlich eher sogenannte einfache Leute aus Galiläa, Fischer, Bauern, Handwerker, Händler. Ihr seid das Licht der Welt, ihr armen Leute und nicht die Reichen und die Herrschenden und die Gebildeten.
Das passt auch zu dem, was er vorher gesagt hat: Glücklich sind die Armen. Glücklich sind die Friedlichen. Glücklich sind die Sanften. Glücklich sind die, die sich nach Gerechtigkeit sehnen, denn ihnen soll Gerechtigkeit widerfahren. Glücklich sind die, die leiden, denn sie werden getröstet werden.
Wenn Jesus zu diesen Menschen, die eher am Rand der Gesellschaft stehen, sagt: Ihr seid das Licht der Welt, rückt er sie vom Rand in den Mittelpunkt. Auf sie, die sonst im Schatten der Weltgeschichte stehen, fällt das Licht, das Licht Jesu, das Licht Gottes.
Jesus ist der große Menschenentdecker. Er entdeckt die Menschen im Schatten und bringt sie ins Licht. Die Armen und die Leidenden, die, die zu sanft sind, um immer die Ellenbogen auszufahren und sich überall durchzubeißen. Die, die zu friedlich sind, um sich durchs Leben zu kämpfen. Die, denen das Recht vorenthalten wird, weil sie sich nicht zu wehren wissen.
Sie sind das Licht der Welt. Nicht die großen Leuchten sind das Licht der Welt, sondern die kleinen Lichter.
Auch die kleinen Lichter haben ihre guten Werke. Sie helfen ihren Nachbarn. Sie besuchen die Kranken. Sie trösten die Trauernden. Sie beherbergen Fremde in ihren kleinen Wohnungen. Der verachtete Zöllner Zachäus gibt die Hälfte seiner Einnahmen den Armen. Sieht nur keiner, will keiner wahrhaben. Muss erst Jesus kommen, dass das mal ans Licht kommt. Der Samariter, Mitglied einer jüdischen Sekte, der dem Verwundeten und Ausgeraubten am Straßenrand hilft, während der Priester und der Levit vorübergehen. Sieht nur keiner, will keiner wahrhaben. Muss erst Jesus kommen, dass das mal ans Licht kommt. Die Prostituierte, die Jesus Gastfreundschaft erweist, während der Pharisäer, sein offizieller Gastgeber, nur darauf lauert, dass er einen Fehler macht. Muss erst Jesus kommen, dass mal ans Licht kommt, dass Prostituierte anständige Menschen sein können. Die arme Witwe, die 2 Groschen in den Gotteskasten legt. Muss erst Jesus kommen, dass mal ans Licht kommt, dass 2 Groschen von nichts mehr sind als zweitausend von ganz viel.
Jesus holt die, die im Schatten sind, ans Licht. Jesus entdeckt ihre guten Werke, die keiner sieht, weil keiner sie ihnen zutraut. Und erst jetzt sehen auch wir es: Auch sie leuchten. Jede und jeder von ihnen tut etwas, das leuchtet. Und da es so viele kleine Lichter sind, wird die Welt dadurch ganz schön hell. Viele kleine Lichter sind eigentlich viel schöner als ein paar große helle Strahler, die nur blenden. Da muss erst Jesus kommen, dass uns das auffällt.
Und nun mein 4. Vorschlag: Licht und Schatten 4: Ihr.
Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid das, ihr, die ihr heute hier sitzt. Jesus sprach den Satz zu denen, die vor ihm standen. Matthäus hat ihn in sein Evangelium aufgenommen, damit alle, die ihn daraus lesen und hören, davon angesprochen werden. Heute und hier also ihr!
Ihr seid – zum großen Teil wenigstens – nicht die, die im Schatten leben. Freilich auch nicht die, die im grellen Licht stehen, jedenfalls nicht im Rampenlicht. Ihr – Wir – wir sind so im Halbschatten. Nicht richtig arm, nicht richtig reich. Keine Leidesgestalten, obwohl wir an manchem durchaus leiden. Nicht immer sanftmütig, aber auch nicht raubeinig. Nicht aggressiv, aber eben auch keine Pazifisten. So dazwischen, im Halbschatten, kleine Lichter, keine finsteren Gesellen, aber auch keine Glanzlichter. Man nennt dieses Dazwischen die breite Mitte bürgerlicher Existenz. Das sind die, die heute in die Kirche kommen, die bürgerliche Mitte. Wir sind hier und hören Jesus zu uns reden. Und er sagt zu uns: Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid das Salz der Erde. Das hören wir und vernehmen es halb ungläubig und halb verwundert, wie es ja nicht anders sein kann, wenn man im Halbschatten lebt.
Kommt also heraus aus diesem Halbschatten, aus diesem Zwielicht und werdet eindeutig! Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten! Ihr habt alle was Leuchtendes, ihr habt alle eure guten Werke. Ihr gebt, ihr helft, ihr besucht, ihr tröstet, seid da, wenn man euch ruft, hört zu, wenn jemand ein Ohr braucht, gebt Rat, wenn jemand einen Rat braucht, versöhnt die Streitenden, besänftigt die Wütenden, ermuntert die Niedergeschlagenen.
Und ihr seid das Salz der Erde. Also salzt die Erde! Denn ihr habt Würze. Ihr seid da und indem ihr da seid, bezeugt ihr: Es gibt einen Gott, der diese Welt hält, und der das Werk seiner Hände nicht preisgibt. Ihr seid da und bezeugt: Es gibt einen Gott, der seine Menschenkinder liebt und hält und rettet. Die Welt ist nicht ohne Gott und deshalb auch nicht ohne Hoffnung. Die Menschen sind nicht ohne Gott und deshalb auch nicht ohne Liebe. Ohne Gott wäre alles fad und leer. Aber wir sagen: Da ist ein Gott, der liebt und alles zum Besten wandelt. Sagt es und lebt es! Ohne euren Glauben, ohne eure Hoffnung, und ohne eure Liebe wäre das Leben fade und leer.
Ihr seid das Licht der Welt. Lasst eure guten Werke leuchten vor den Leuten! Ihr seid das Salz der Erde. Erzählt von eurer Hoffnung!
Was wäre die Welt ohne uns?
Amen.