Die Geschichte vom Gericht Gottes - ein Hoffnungswort
Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Wenn der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit. Und alle Völker werden vor ihm versammelt, und er wird sie voneinander trennen, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken trennt. Und die Schafe wird er zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken. Dann wird der König zu denen zu seiner Rechten sagen: herbei, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist seit der Gründung der Welt. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben, fremd war ich, und ihr habt mich aufgenommen, nackt war ich, und ihr habt mich gekleidet, krank war ich, und ihr habt nach mir gesehen, im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dich gespeist oder durstig und dich getränkt? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und dich aufgenommen oder nackt und dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und ihnen sagen: Amen, ich sage euch: Wieviel ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch denen zu seiner Linken sagen: weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr habt mich nicht getränkt, fremd war ich, und ihr habt mich nicht aufgenommen, nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet, krank und im Gefängnis, und ihr habt nicht nach mir gesehen. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht gedient? Dann wird er antworten und ihnen sagen: Amen, ich sage euch: wieviel ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Und diese werden hingehen in ewige Pein, die Gerechten aber ins ewige Leben.

Die Geschichte, die wir gehört haben, ist ein Opfer ihres Erfolgs, ihrer Bekanntheit. Das ist ähnlich wie mit der vom barmherzigen Samariter. Als Jesus sie erzählte, war es eine Provokation, dass da die Frommen an einem Menschen in Not vorbeigehen und ausgerechnet ein Fremder, vor allem: ein verachteter und gemiedener Fremder das tut, was von menschlichen Menschen überhaupt, erstrecht aber von Frommen zu erwarten wäre, nämlich: sich erbarmt. Inzwischen gelten alle Samariter als barmherzig oder umgekehrt: jeder, der sich erbarmt, gilt als Samariter, wie etwa der eigentümliche Name „Arbeitersamariterbund“ zeigt. Und die ausführliche Geschichte vom Weltgericht wird meist sehr knapp zusammengefasst: Jesus hat gesagt: was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. Das hat, wie wir hörten, Jesus nicht gesagt, sondern: dann wird der König sagen. Seine Geschichte lebt ja davon, dass beide Gruppen völlig überrascht sind, beide ganz verwundert fragen: wann haben wir dich arm, krank, im Gefängnis oder als Fremdling gesehen? Die Menschen, die hier gelobt und belohnt werden, haben Menschen in Not geholfen, weil sie in Not waren und nicht weil sie mit prophetischem Durchblick erkannt hatten, dass ihnen da ihr Herr und Heiland in verhüllter Gestalt begegnete. Und die anderen haben – vielleicht nicht ganz leichten Herzens, vielleicht leicht schlechten Gewissens – nicht geholfen. Vielleicht ist auch manchen derer, denen geholfen wird, unbehaglich, wenn sie nun, angesichts der Bekanntheit dieser Geschichte, denken müssen: Ich bin dir als Person herzlich egal oder sogar höchst unsympathisch, du hilfst mir nur, um damit Jesus Gutes zu tun. Sie wären vermutlich pragmatisch genug, die Hilfe dennoch anzunehmen, weil sie in Not sind. Jesus selbst ist ähnlich pragmatisch. Er will ja was bewirken, wenn er uns einen Blick in die Zukunft, auf das Weltgericht werfen lässt und die Pointe der Geschichte ausplaudert. Und wir spüren ja auch, dass beide Geschichten wirken, piksen, uns unruhig machen, auch wenn sie durch ihre Bekanntheit ihr Überraschungsmoment und etwas von ihrer Provokation verloren haben.

Wenn der Menschensohn kommt in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm – so beginnt die Geschichte. Der Menschensohn – das ist eine Hoffnungsgestalt aus dem Buch Daniel, Kapitel sieben. In einer Vision tauchen da nacheinander lauter Weltreiche auf, die grässlichen Raubtieren gleichen, eins immer schlimmer als das andere – von menschlichem Fortschritt, einer Entwicklung zu mehr Menschlichkeit kann keine Rede sein. Doch die Raubtiere werden abgelöst von einer Gestalt, die einem Menschen, einem Menschensohn gleicht – Hoffnung auf eine menschliche Welt, ein Weltreich mit menschlichem Angesicht. Dieser Menschensohn wird damit beauftragt, Gericht zu halten – Hoffnung auf ein menschliches Gericht.

Menschensohn – das ist ein Hoffnungswort auch im Neuen Testament. Es kommt da freilich nur in Jesusworten vor und auch nur in 3. Person, so dass offenbleibt, ob Jesus da von sich selbst spricht oder einen anderen erwartet, doch wenn nicht schon er selbst, dann haben spätestens die vier Evangelisten ihn mit dem Menschensohn identifiziert. Und wenn Jesus vom Reich Gottes redet, ist erkennbar jenes menschliche Weltreich gemeint.

Auch in unserer Geschichte wird der Menschensohn rasch zum König, der Gericht hält. Auch er ist kein Alleinherrscher, sondern ein Mandatsträger; er macht deutlich, dass ihm Königtum und Gericht anvertraut wurde, spricht vom Reich seines Vaters: ein menschliches Reich, ein menschliches Gericht. Nun mag es unseren Vorstellungen von Menschlichkeit widersprechen, dass hier die Verurteilten in ewigem Feuer landen, doch Jesus erzählt die Geschichte ja auch mit dem Ziel, diese Gruppe zu verkleinern, möglichst auf null zu reduzieren.

Es ist ein Gericht nach den Werken, und das ist nun trotz der Bekanntheit der Geschichte etwas überraschend, jedenfalls für evangelische Christen, denn wir haben lange gelehrt und gelernt, dass es auf unsere Werke nicht ankommt, wir allein durch Glauben vor Gott gerechtfertigt sind. Doch dieser Richter interessiert sich nicht für den Glauben, sondern für die Taten und – bei den Verurteilten – die Unterlassungen. In einem lichten Moment ihrer Geschichte aber haben Teile der evangelischen Kirche erkannt, dass diese Gegenüberstellung, das Auseinanderreißen von Glaube und Werken vollkommen unbiblisch und damit unchristlich ist. In der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 heißt es: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn wiederfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“ Diese Erklärung gehört inzwischen zu den Bekenntnisschriften unserer Kirche.

So gerät auch eine andere protestantische Grundüberzeugung hier ins Wanken: Gottes Weisung, die Gebote Jesu seien geradezu prinzipiell unerfüllbar, uns nicht dazu gegeben, dass wir sie tun, sondern dazu, dass wir erkennen, sie nicht tun zu können; dass wir Sünder sind, auf Vergebung der Sünden angewiesen. Denn es sind ja keine großen Taten, die die einen getan, die anderen nicht getan haben. Der König sagt nicht: ich war krank, und ihr habt mich geheilt; ich war im Gefängnis, und ihr habt mich befreit; ich war fremd, doch ihr habt weltweit Gerechtigkeit und Frieden durchgesetzt und so alle Fluchtgründe beseitigt; ich war hungrig und durstig und nackt, doch ihr habt alle Verhältnisse umgeworfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Der Menschensohn, heißt es, wird sich setzten auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt. Anders als im Psalm 50, aus dem wir zu Beginn hörten, geht es hier im Weltgericht nicht um Gottes Volk Israel, sondern um die anderen Völker. Auch das passt zur Vision im Daniel-Buch: in jenem siebten Kapitel stellt sich heraus, dass es sich beim Menschensohn um eine Personifikation des Volks der Heiligen des Höchsten, des Volks Israel handelt. Die Völker der Welt werden auch im Blick auf das Volk Gottes beurteilt. Zu Beginn, noch vor Beginn der Israel-Geschichte hatte Gott Abraham verheißen, er und seine Nachkommen werden ein Segen sein für alle Völker, doch schon da wurde, wie hier, zwischen den Völkern geschieden: Segnen will ich, die dich segnen – die dich fluchen, fluche ich. Und so lässt sich im Blick auf die Situation Israels und die der Juden in diesem Land und in dieser Stadt heute ein weiterer Punkt in der Urteilbegründung denken: ich wurde verachtet und gemieden, geschmäht und bespuckt, verleumdet und bedroht, und ihr habt mich besucht, euch telefonisch gemeldet und Kontakt gehalten, habt Anteil genommen. Oder habt das nicht getan, sondern gesagt, die Lage ist komplex und kompliziert, und man müsse auch den Kontext, müsse auch die andere Seite sehen.

Wir hören diese Geschichte in einer Zeit, in der Politiker fast aller Parteien sich darin einig sind, dass die Situation von Fremden in diesem Land verschlechtert werden muss, um andere davon abzuschrecken, sich ihrerseits auf den Weg nach Europa und speziell nach Deutschland zu machen, und sich nun darin überbieten, noch härtere Forderungen zu stellen. Doch zum einen ist nicht sicher, ob die Kommunen bereits genug dabei unterstützt werden, die Ankömmlinge mit Wohnraum und Integrationskursen zu versorgen und ihre Kinder mit Plätzen in Schulen und Kitas. Die Ratsvorsitzende der EKD hat es vor kurzem gewagt, den Konsens infrage zu stellen, die Fähigkeit unseres Landes, Fremde aufzunehmen, sei bereits erschöpft. Zum anderen ist nicht nur unsicher, sondern höchst zweifelhaft, dass sich irgendjemand davon abhalten lässt, aus Elend und Krieg zu fliehen, weil er oder sie davon gehört hat, dass es in Deutschland künftig Bezahlkarten statt Bargeld gibt und die Frist bis zum Erhalt von Bürgergeld verlängert wurde. Zum dritten ist kaum glaubhaft, dass die Verfechter solcher Maßnahmen selbst an ihre Wirkung glauben. Sie scheinen vielmehr, getrieben von den Erfolgen der AfD, zeigen zu wollen: wir machen was. Doch wenn die Forderungen einer offen fremdenfeindlichen, rassistischen Partei erfüllt werden in der Hoffnung, ihr Wähler wegzunehmen, regiert sie bereits mit.

Und wir hören sie nach einer Woche, in der ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Frage aufwirft, ob es möglich ist oder: warum es offenbar unmöglich ist, Menschen mit sehr hohem Einkommen und mit sehr großem Vermögen stärker als bisher an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben – Bekämpfung von Armut und Bildungsmangel; Verhinderung oder Verminderung weiterer Klimakatastrophen – zu beteiligen.

Doch so richtig und wichtig es ist, dass das Evangelium von der Solidarisierung Gottes mit den Menschen in seinem Sohn Christen und Kirchen dazu motiviert, ihrerseits politisch für eine solidarische Gesellschaft zu kämpfen und zu arbeiten, die Geschichte vom Weltgericht ist und bleibt doch auch ein Stachel in unserem eigenen Fleisch. Es stellt uns die Frage: woher kommt eigentlich deine Kälte, deine Zugeknöpftheit, deine Abwehr und dein tiefes Misstrauen gegen Fremde und gegen Arme? Warum widerfährt dir so wenig, so selten frohe Befreiung durch das Evangelium?

Die biblische Rede vom Gericht hat in der Geschichte der Kirche oft Angst und Schrecken verbreitet. Für die Bibel, jedenfalls für die meisten ihrer Autoren aber ist das Gericht Gottes ein Hoffnungswort. Das gilt auch für unsere Geschichte. Ihre frohe Botschaft ist: der Gott Israels identifiziert sich mit Armen, mit Kranken mit Gefangenen. Nicht die Reichen und Erfolgreichen sind Sieger der Geschichte, sondern ihre Opfer. Matthäus unterstreicht diese Botschaft. Er stellt diese Rede vom Weltgericht unmittelbar vor den Beginn der Leidensgeschichte Jesu: Jesus gerät in Haft, wird geschlagen und gedemütigt, nackt ausgezogen, ihn dürstet, er wird zu Tode gequält. Er wird nicht nur von den Seinen verlassen, verraten, verleugnet, er klagt auch Gott an, ihn verlassen zu haben. Doch gerade er wird zum Erstling aus den Toten, zeigt und gibt denen Zukunft, die dem Augenschein nach keine haben. Und das ist frohe Botschaft auch für diejenigen unter uns, die in diesen Zeiten, in diesen Tagen so gar kein Zeichen der Gegenwart Gottes, keine Lebenszeichen des lebendigen, des auferstandenen Jesu entdecken können. Ja, ganz direkt und unmittelbar – Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott – habt ihr in der Tat mit Gott nichts zu tun. Aber es ist gar nicht schwer, mit Gott in Kontakt zu kommen. Ihr müsst nur den Ortsangaben dieser Geschichte und der biblischen Botschaft insgesamt folgen: euch Israel, dem jüdischen Volk zugesellen; euren Wohlstand, euer Leben mit Armen teilen; Kranke und Gefangene besuchen gehen. Dann werdet ihr was erleben.

Amen.