Die Geschicht der namenlosen Fußmasseurin
Prof. Dr. Philipp Enger

Liebe Gemeinde im Französischen Dom,

der Bibeltext des heutigen Sonntags ist der erotischste des ansonsten sehr keuschen Neuen Testaments. Mehr noch, er ist zur Inspiration für die schwülsten Fantasien männlicher Theologen geworden und zum Ausgangspunkt der Legendenbildung um eine der faszinierendsten Frauengestalt der Christentumsgeschichte. Darüber hinaus ist er Mittelpunkt eines veritablen, theologischen Skandals um die Vertuschung des großen Einflusses von Frauen in der Urchristenheit. Meine Herren, meine Damen, habe ich Sie jetzt genug angeheizt für Lukas 7,36-50?

36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. 37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl 38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl. 39 Da aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. 40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben? 43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. 44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt? 50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Diese namenlose Frau, die Jesu von hinten zärtlich berührt, ihm die Füße mit ihren Tränen wäscht, sie mit ihren Haaren abtrocknet und mit teurem Nardenöl massiert, diese namenlose Frau, von der der Evangelist Markus schreibt, dass Jesus über sie gesagt hätte: „Überall auf der Erde, wo das Evangelium verkündet wird, da werden Menschen auch davon erzählen, was diese Frau heute getan hat.“, diese Frau kennen Sie unter dem Namen Maria Magdalena. Unser Predigttext ist der Ausgangspunkt einer Legendenbildung, die zum einen die Erinnerung an eine der einflussreichsten Frauen der Urchristenheit einfangen und übertünchen soll und zum anderen die perfekte schwül-keusche Männerphantasie bildet.

„Eine Gestalt wie die Maria Magdalena ist für einen Mann die erotisch anziehendste Frau überhaupt, eine trauernde Sünderin“, so sprach Peter Handke in einem Zeit-Interview vor einigen Jahren und bestätigte ein Zerrbild von einer Maria Magdalena, die von der Freundin Jesu und ersten Apostelin zur großen Sündern mit allen fleischlichen Reizen verfälscht wurde. Die mächtigen Männer der Kirche setzten eine pralle, bunte Lügengeschichte in die Welt, die bis heute an Faszination nichts verloren hat. Stellen wir uns nur einmal vor, was für einen Skandal es gegeben hätte, wenn Frauen den Apostel Petrus zum Prostituierten umgedeutet und erniedrigt hätten. Also was wissen wir heute wirklich über die zärtliche Sünderin aus Lukas 7 und Maria Magdalena?

In Lukas 8,2, also gleich im Anschluss an unseren Predigttext, wird berichtet, dass Maria Magdalena eine offenbar alleinlebende Frau aus der Stadt Magdala am See Genezareth war, die mit anderen Frauen und der Jüngergruppe Jesus durch Galiläa begleitete und schließlich mit ihm nach Jerusalem hinaufzogen. Nach dem Bericht im Lukasevangelium ist sie nach der Heilung von einer Krankheit, die als Besessenheit durch sieben Dämonen beschrieben wird, in die Nachfolge Jesu geraten. Auf den Listen in den Passions- und Auferstehungsgeschichten genannten Frauen ist Maria Magdalena immer als erste aufgeführt; parallel zu Petrus, der in der Männergruppe immer zuerst genannt ist. Das weist auf ihre große Autorität hin, die sie in den frühen Gemeinden besaß. Nach der Apostelgeschichte besteht diese Autorität (Apg 1,21.25) in der Zeugenschaft der Auferstehung. Mit anderen Frauen war sie bei Kreuzigung und Grablegung zugegen und bekam am Ostermorgen den exklusiven Auftrag, den davongelaufenen Jüngern die Auferstehungsbotschaft zu verkündigen. Der Evangelist Johannes erzählt sogar von ihrer Einzelbegegnung mit Jesus und scheint sie auch als Teilnehmerin am letzten Mahl vor seinem Tod gesehen zu haben.

In späteren nicht offiziell anerkannten Evangelien treiben die Fantasien um Maria Magdalena erste erotische Blüten. Im Philippusevangelium wird von häufigen Küssen zwischen Jesus und Maria berichtet. Sie gilt als »Gefährtin« des Erlösers. Die anderen Jünger werden eifersüchtig und fragen: »Warum liebst du sie mehr als uns alle?« Der Kuss auf den Mund allerdings war in der spätantiken Zeit und Kultur eine übliche Begrüßungsform und Bezeugung enger geistlicher Gemeinschaft war. Im Philippusevangelium kommt der Kuss auf den Mund immer wieder vor, - auch zwischen Männern. Die gnostische Gemeinschaft, der das Philippus-Evangelium zugerechnet wird, zeichnet sich durch eine radikale Entgegensetzung von geistlicher und körperlicher Welt aus und vertritt eine grundsätzliche Verachtung der Welt, insbesondere jeglicher geschlechtlichen Vereinigung und Fortpflanzung. Daher möchte die erwähnte Textstelle gewiss nicht andeuten, dass Jesus mit Maria Magdalena ein intimes Verhältnis oder gar Kinder gehabt hätte.

Nun fragen Sie sich sicherlich, wann kommt denn endlich unser Predigttext ins Spiel? Ganz einfach, als die Kirche das römische Reich übernahm und kirchliche Ämter mit Macht verbunden wurden. Ab dem 4. Jahrhundert nach Christus reduziert sich die Vielfalt und Spielarten christlicher Gemeinden und Theologien im römischen Reich und viele sogenannten Häresien, deren Gemeinden oft einen hohen Führungsanteil von Frauen hatten, wurden von der sogenannten orthodoxen Kirche ausgemerzt. Dadurch rückte auch die Gallionsfigur der weiblichen Führungskräfte in der Kirche in den Fokus der mächtigen Männer. Beim Kirchenfürsten Ambrosius von Mailand findet sich zum ersten Mal die Hypothese, die „große Sünderin“ von Lukas 7 und die in Lukas 8 genannte Maria Magdalena seien eine einzige Person. Die Verbindung schuf eine dritte Frauengestalt: Maria von Betanien, die Schwester Marthas, die nach Johannes 12 diejenige war, die Jesus die Füße mit teurem Nardenöl gesalbt und abschließend mit aufgelösten Haaren abgewischt hatte. Die namenlose Salberin von Lukas 7, die als Sünderin beschrieben wird, wurde mit der tadellosen Maria aus Johannes 12 identifiziert. Sie bekam den Namen „Maria“ und wurde zugleich identisch mit der von Krankheit, von bösen Geistern geheilten Maria Magdalena. Warum sollte in der männer-dominierten Kirche nicht ausschweifende Sexualität als die weibliche Krankheit angesehen werden? Ein schillerndes, zu Mitleid rührendes und reizvolles Frauenbild begann sich abzuzeichnen: Maria Magdalena, Freundin Jesu, einstige Prostituierte, meditative Schwester der aktiven Martha von Bethanien. Der große Kirchenvater Augustin (354-430), der bei Ambrosius in Mailand die neue Deutung über die Person Maria Magdalenas vernahm, förderte die Identifizierung der drei Frauen aus persönlicher Betroffenheit. Augustin war als junger Mann alles andere als ein Asket. Es musste für ihn ein Trost gewesen sein, dass Jesus so oft bei Maria einkehrte, obwohl sie einst wie Augustin selbst die Sexualität zu ihrem Lebensmittelpunkt machte.

Der Magdalenenkult, der sich im Mittelalter entfaltete, orientiert sich an diesem Einheitsbild der drei Frauen. Im Mittelpunkt steht das Motiv der „bekehrten, nun keuschen Sünderin“, Magdalena ist die engste Gefährtin Jesu, ihr Kuss gilt nicht seinem Mund, sondern seinen Füßen. Maria Magdalena wird „Freundin“ Jesu genannt, sie ist im Gegensatz zu den Jüngern die standhafte, die nicht flieht und in der Begegnung mit dem Auferstandenen zum „Apostel für die Apostel“ wird, zur „Verkünderin für die Verkünder“. Sie wird zur betörenden Predigerin, hat Jünger wie ihr Freund und Meister Jesus und wird zur Missionsheiligen Frankreichs.

Aber was die lateinischen Kirchenväter zu Beginn des Abendlandes vor bald 15 Jahrhunderten mit ihrer Erfindung der Magdalenengestalt gewollt hatten, den menschlichen Lebensweg zwischen Trieb und Tötung des Fleisches, zwischen Hurerei und Heiligkeit, zwischen Sünde und Gnade festzuschreiben, musste letzten Endes misslingen. Spätestens seit der Renaissance war aus der zu verachtenden Sünderin und Dirne die reizvolle Kurtisane geworden, wie Tizian sie im 16. Jahrhundert darstellt. Die lockere Hetäre und halbseidene Gesellschaftsdame, wie der jüdische Ökumeniker Shalom Ben Chorin sie heute sieht. Oder die sanfte Groopie der Rock-Oper »Jesus Christ Superstar«. Was der patriarchalen Kirche dennoch gelungen war, ist: das Bild der unabhängigen ersten Frau der Christenheit zu ruineren.

Nun werden sich diejenigen unter Ihnen, die sich an Historienromanen oder Hollywood-Filmen ergötzen, erinnern: Da gab es doch einen Bestseller und Blockbuster, der die verlorene Ehre der Maria Magdalena wiederherzustellen versuchte? Genau, Dan Brown, landete 2003 mit „The Da Vinci Code“ einen Millionenbestseller, der 2006 mit Tom Hanks in der Hauptrolle des Symbologen Robert Langdon verfilmt wurde. Aber in diesem Roman geht es nicht, wie vordergründig behauptet, um die gerechte Sache der Wiederherstellung einer Würde des Weiblichen in der christlichen Religion, sondern viel handgreiflicher und machtpolitischer um die Fiktion einer bis heute überlebenden „Blutlinie Christi“. Um diese Pointe verstehen zu können, muss zunächst an die Ursprünge des Christentums erinnert werden. Die christlichen Evangelien antworteten auf den jüdischen Krieg und die Zerstörung des Tempels (im Jahre 70) mit der apokalyptisch geprägten „frohen Botschaft“ vom nahen Ende der Welt und von der unmittelbar bevorstehenden Wiederkehr des Erlösers, der ein Himmelreich auf Erden begründen werde: ein Himmelreich ohne Tod, folglich auch ohne Geburten. In den Evangelien werden die Verwandtschaftsbindungen an zahlreichen Stellen abgelehnt. Diese antigenealogische, antidynastische Haltung wurde auch in den folgenden Jahrhunderten nicht aufgegeben: weder aufgrund enttäuschter apokalyptischer Erwartungen noch aufgrund der allmählichen Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich. Niemand sollte zum Christen oder zur Christin avancieren durch Rang oder durch höhere Geburt. An die Stelle der Geburt trat die Taufe, an die Stelle der Eltern traten die Paten. Ins Kloster traten keine Mönchskinder ein, und zu Priestern wurden nicht die Nachkommen von Priestern geweiht. Die Amtsfolge der Kirchenämter folgte einer Logik der Berufungen, keiner dynastischen Logik der Stammbäume. Diese Organisationsform der geistlichen Macht musste lange Zeit gegen die weltliche Macht der mittelalterlichen Könige verteidigt werden; denn die „wundertätigen Könige“ legitimierten ihre Herrschaft häufig durch die behauptete Herkunft aus dem Hause Davids, also durch ihre Verwandtschaft mit Jesus Christus. Der Zölibat, anfänglich bloß ein Ehe- und kein Sexualverbot, verdeutlichte die Radikalität der eigenen Haltung: Papst- oder Pfarrerskinder sollten zumindest nicht als legitime Nachfahren und Erben innerhalb der Kirche auftreten können.

Warum gipfelt die Verklärung Maria Magdalenas ausgerechnet in der Fiktion vom Überleben der Kinder Christi in den Merowingern, der uralten ersten Herrscherdynastie im Frankenreich, die von Karl Martell, dem Großvater Karls des Großen, abserviert wurden? Im Gewand der progressiven Kritik an der kirchlichen Ausschließung der Frauen verkörpert Browns dynastische Vorstellung ein Ideal, das im Kern reaktionärer ist als jeder geheime Männerbund. Die Natur des Weiblichen wird reduziert auf das Gebären und den Kampf um die Durchsetzung der Blutsverwandtschaft. Der heilige Gral des Massenerfolgs von Dan Browns Thriller ist schlicht und einfach die Gebärmutter Maria Magdalenas. In seiner Faszination für die Dynastie Christi (und Maria Magdalenas) folgt der „Da Vinci Code“ dem aktuellsten Trend überhaupt: seit der Entzifferung der DNA, des „Codes aller Codes“ wird alles genetisch bestimmt und biotechnologisch die Wiederkehr der Stammbäume und genealogischen Diskurse ermöglicht. Hätten wir nur eine einzige Knochenreliquie von Jesus Christus oder zumindest Maria Magdalenas, wir könnten durch DNA-Analyse zahlreiche Kindeskinder ihren prominenten Ureltern zuordnen; und womöglich könnten wir sogar den Erlöser klonen, um ihn zur lang erwarteten Wiederkehr zu nötigen. Am Ende bleibt die Ernüchterung, dass die Urururahnin Jesu Christi gar nichts besonderes an sich hat, außer dass sie Kopfschmerzen und Platzangst durch bloßes Handauflegen mildern kann.

Dafür wird die eigenständige Frau, die Freundin Jesu, die uns zu Gottes Freundinnen und Freunden macht, geopfert, und zur Trägerin des Heilandssamens degradiert. In einer materialistischen und biologistischen Welt reicht es nicht Maria Magdalena als »Apostelin aller Apostel«, die die Nähe und Unmittelbarkeit Gottes neu verkündet, zu rehabilitieren. Die männlichen Jünger, die flohen und deren Gottesbild stets durch Schuldgefühle und Distanz geprägt blieb, rächen sich ein weiteres Mal, mit einer Verschwörungsgeschichte um den verborgenen Nachfahren des Gottessohns, der uns ewig entzogen bleibt. Dabei wollten Jesus und Maria uns zu Kindern Gottes machen und nicht zu Lakaien einer königlichen Dynastie der Gottessöhne und –töchter. Das ist das Ende des Stammbaumes Jesu.

Amen.