Die Unerträglichkeit der Gnade
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Als aber Gott das Tun [der Leute von Ninive] sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig und betete zum Herrn und sprach: Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. Aber der Herr sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst?

Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Gott der Herr aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus.

Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus, dass er verdorrte. Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben.

Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. Und der Herr sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere? (Jona 4)

 

Der erste Sommersonntag, ein Sonnensonntag, ein Gnadensonnensommersonntag. Die Sonne scheint über allen, die Gnade auch. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. (Ps 103,11)

Drei Erzählungen von Gottes Gnädigsein, eine kleine, eine mittelgroße und eine große.

Die kleine erzählt von dem, der hundert Schafe hat und dem einen nachgeht, das sich verirrt hat, bis er es findet. Gott ist gnädig. Er gibt keinen einzigen von uns verloren, er sucht uns, bis er uns findet.

Und die mittelgroße erzählt von dem, der zwei Söhne hatte. Unterschiedliche Söhne. Der eine will in die Welt, der andere bleibt zu Hause. Der in der Welt geht, verspielt alles, was er vom Vater bekommen hat. Er kommt reumütig zurück, der Vater empfängt ihn mit offenen Armen. Gott ist gnädig. Wer umkehrt zu ihm, den nimmt er in Gnaden auf.

Und die große Geschichte vom Propheten, der nicht will. Aber über abenteuerliche Wege – auf seiner Fluchtroute übers gefährliche Mittelmeer über Bord gegangen und vom Walfisch gerettet - doch dort hinkommt, wo er hinkommen soll, nach Ninive. Und dann predigt Jona in Ninive: noch 40 Tage bis zum Untergang. Da kehrten sie alle um (man hat nie erfahren, von was eigentlich genau), der König und der Bettler, die Rinder und die Schafe. Und Gott blies den Untergang ab.

Gott ist gnädig. Er bereut seinen Zorn.

Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. (Ps 103,11)

So weit, so schön.

***

Es gibt aber in all diesen Geschichten Widerspruch, Protest. Diese Geschichten sind nicht glatt. Sie haben eine Sollbruchstelle und zwei von ihnen brechen tatsächlich vor unseren Augen. Ich glaube, das ist ihr heimliches Thema. Es geht eigentlich nicht nur um Gottes Gnädigsein, es geht auch und vielleicht vor allem um die Unerträglichkeit seines Gnädigseins. Seine Gnade ist himmelhoch, also sehr hoch. Zu hoch?

Da gibt es eben noch jenen anderen Sohn, der zu Hause geblieben ist und brav war. Und nun merkt, dass sich das nicht auszahlt. Der wilde Sohn kehrt zurück und der Vater ist aus dem Häuschen. Beim braven Sohn war der Vater nie aus dem Häuschen. Gott ist gnädig – ja, und dabei ist er ungerecht.

Jona ist sauer, dass die Leute von Ninive en masse umkehren und Gott den Untergang abgeblasen hat. Dem Wal entkrochen, hat Jona sich zum Affen Gottes machen sollen. Er ist zornig: „Ich hab‘s von Anfang an gewusst, dass du gnädig bist und das Übel bereust, das du ihnen ansagst“, beklagt er sich bei Gott.

Werden eigentlich die Klimakleber auch so zornig wie Jona, wenn Gott den Klimawandel einfach abbläst?

In beiden Geschichten gibt es diese Sollbruchstellen. Es ist alles so märchenhaft schön, das mit der Umkehr läuft wie am Schnürchen und Gott ist gnädig. Sie wussten es alle vorher schon, dass Gott gnädig sein würde. Man weiß es ja.

Aber am Ende der Geschichte treten dann welche aus, die gar nicht damit einverstanden sind, der brave Sohn, der zornige Prophet. Sie kommen mit dem Gnädigsein nicht klar.

Wieso eigentlich? Wo liegt das Problem?

In der kleinsten der drei Geschichten gibt es diese sollbruchstelle nicht, gibt es den Protest nicht. Jedenfalls wird er nicht erzählt. Aber er stellt sich sofort ein, wenn man eine Sekunde vernünftig über diese Geschichte nachdenkt. Wer ist unter euch, der, wenn er ein Schaf verloren hat, nicht 99 allein in der Wüste lässt und dem einen nachgeht? Im Ernst jetzt? Keiner macht das! Du gehst dem einen nach, hast es – wenn es gut geht – gefunden, kommst zurück und die Wölfe haben sich zehn Schafen gerissen. Eines gefunden, aber zehn verloren. Was ist das für eine Rechnung?

Gott ist gnädig – und ziemlich unvernünftig. Ineffizient. So rechnet sich das nicht. Auch nicht in der Landwirtschaft und ehrlich gesagt: Auch nicht in der Kirche.

Gott ist gnädig. Aber das Problem mit Gottes Gnädigsein ist: Es rechnet sich nicht, es scheint ungerecht und selbst auf den Ernst der Lage kann man sich nicht mehr verlassen. Gottes Gnädigsein macht ernsthaften Propheten, braven Kindern und verantwortungsvollen Unternehmern zu schaffen. Und auch manchen anderen. Es verstößt gegen Regeln, es erzeugt zumindest das Gefühl von Ungerechtigkeit, es missachtet unser Verantwortungsbewusstsein. Gnade hat immer etwas Willkürliches. Wo ist Gottes Wertschätzung für die, die sich brav an die Regeln halten? Wo ist Gottes Wertschätzung für die, die den Mut haben, den Kopf nicht in den Sand zu stecken und laut rufen: „So geht es nicht weiter!“ - und uns wachrütteln?

***

Der Vater freut sich über seinen heimgekehrten Sohn, aber der brave Sohn ist zornig. Gott freut sich über die schnelle Umkehr der Einwohner von Ninive, aber der Prophet ist zornig. Ist es ihr gutes Recht? Glaubst du, dass du ein Recht auf Zorn hast, fragt Gott den Jona. Wenn man darüber nachdenkt, könnte man Gründe für ein Recht auf Zorn finden.

***

Aber der springende Punkt in all diesen Geschichten vom Gnädigsein Gottes ist ja ein ganz anderer. Der Punkt springt und hüpft tatsächlich, denn es geht in ihm um die Freude.

Seht ihr den Menschen dort springen und hüpfen, als er sein verlorenes Schaf wiederhat? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. 6Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir.

Seht ihr den Vater seinem verlorenen Sohn entgegenspringen, ganz aus dem Häuschen? Du solltest auch fröhlich sein, sagt der Vater zum braven und jetzt zornigen Sohn, und dich mit mir freuen!

Und seht ihr, wie Jona einmal lacht, ein einziges Mal in seiner Geschichte, als er unter dem Rizinus saß, den Gott ihm wachsen ließ, um ihm Schatten zu spenden unter der gleisenden Gnadensonne Gottes, die ihm das Hirn so zu verdorren schien, dass es ganz humorlos wurde?

Freude! Man müsste sich doch zumindest freuen können!

Wer sich freut, rechnet und kalkuliert nicht mehr kleinlich rum. Wer sich freut, schaut nicht mehr neidisch auf seinen Bruder oder seine Schwester, sondern freut ich mit ihr.

Manchmal ist es, als bliebe die Gnade hoch im Himmel hängen und als liege die Gerechtigkeit bleischwer auf der Erde. Es ist die Freude, die beides füreinander öffnet, den Himmel für die Gerechtigkeit auf Erden und die Erde für die Gnade des Himmels. Wer sich freut, hört auf, Gott die Gnade als Unrecht anzurechnen.

Freilich, man kann sich nicht immer freuen. Manchmal geht es eben nicht. Manchmal drückt etwas zu schwer aufs Gemüt. Was aber eigentlich immer geht, auch dann, wenn du in dir selber grad keinen Grund zur Freude findest, ist, sich mitzufreuen. Sich mit einem anderen freuen, geht doch immer! Such dir eine, die sich freut, und die sagt: Freu dich mit mir!

Und wenn sich keiner findet, der sich freut – einen gibt es immer. Der ist im Himmel droben und freut sich. Er lässt seine Gnade über allen scheinen und freut sich. Denn irgendwo auf dieser Erde ist immer einer, der umkehrt. Und dann freut sich der Himmel. So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lk 15,7)

Haben wir ein Recht auf Zorn? Wenn selbst Gott denkt, er habe kein Recht auf Zorn – der doch alles Recht der Welt dazu hätte! – wie können wir da denken, wir hätten ein Recht auf Zorn? Wenn selbst Gott sich freut über einen, der sich ändert und es nun besser macht – wie sollten wir uns nicht mit ihm freuen?

***

Sich freuen. Sich mit anderen freuen, die sich freuen. Sich mit Gott freuen.

Ihr hört ihn doch auch hin und wieder lachen, dort oben vom Himmel hoch her – immer noch und trotz allen lacht er.

***

Kleine Anmerkung zum Schluss, nicht, dass ich falsch verstanden oder falsch zitiert werde. Ich habe nicht gesagt: Gott bläst den Klimawandel ab. Ich weiß nicht, ob er das tut oder nicht. Ich weiß, er ist gnädig und ich denke, er könnte es tun, wenn er will. Ich weiß aber nicht, ob er will. Aber wenn er will und ihn abbläst, würde ich mich freuen.

Amen.