Gott entdecken
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Der Morgen danach hat immer etwas Klares, Helles und Nüchternes (auch wenn er trübe ist wie heute). Auf den Heiligen Abend des Rausches, auf die stille Nacht der Stimmungen folgt der klare Morgen des Weihnachtstages. Die meisten schlafen noch. In die Kirche kommen heute die Spezialisten. Also die, die auch sonst mal in die Kirche kommen, weil ihnen am Glauben mehr liegt als bloß die Weihnachtsstimmung.

Der Unterschied zwischen dem 24.12. und dem 25.12. ist der zwischen Herz und Verstand, zwischen Gefühl und Denken, zwischen Stimmung und Intellekt.

Nichts gegen das Gefühl und eine gute Stimmung. Das ist auch mir sehr wichtig. Deshalb gehe ich gern an Heilig Abend in die Kirche.

Vielen reicht das. Aber mir reicht es nicht. Mir hat es noch nie gereicht, seit ich denken kann.

Ich bin in St. Ingbert im Saarland aufgewachsen, in der katholischsten Gegend der Republik. An Heilig Abend ging ich lange nach der Bescherung nach St. Hildegard in die Mitternachtsmette, wo mein Klavierlehrer die Orgel spielte, um mich am Weihrauch weihnachtlich zu berauschen und um Freunde zu treffen. Man hat in St. Ingbert immer nur katholische Freunde. Am nächsten Tag ging ich wieder in unsere Gemeinde zu unserem superreformierten, also extrem nüchternen Pfarrer, um eine biblische Vorlesung zu hören. Alles, was es in meiner Gemeinde gab, blieb im Hirn stecken, nicht mal die Klänge der elektronischen Orgel konnten in tiefere Schichten vordringen.

Aber zu denken gab es bei uns immer viel. Also gab mir unser Pfarrer den Konfirmationsspruch:

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. War ja klar, dass das etwas mit Erkenntnis und mit Weisheit zu haben musste.

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Das ist auch der Satz, über den wir dieses Jahr an Weihnachten nachdenken sollen. Ich frage mich bis heute, ob dieser Pfarrer damals schon wusste, dass ich Theologie studieren würde. Ich wusste es damals noch nicht.

Ich studierte tatsächlich Theologie. Nicht, weil ich Pfarrer werden wollte, sondern weil ich wissen wollte, was es mit Gott auf sich hat. Dafür gibt es einen alten theologischen Lehrsatz, der wie alle alten theologischen Lehrsätze lateinisch gesagt werden muss: fides quaerens intellectum, der Glaube, der nach dem Verstehen fragt. Man kann auch sagen: Der 24. Dezember, der den 25. Dezember nicht verschlafen will.

Also, liebe Gemeinde, kommen wir endlich in der ganzen Nüchternheit dieses Morgens zur Sache. Und die Sache ist die, dass es keine Sache ist. Es ist eine Person.

Die meisten Menschen glauben an Gott. Nicht unbedingt an den Gott der Bibel, aber sie glauben, dass da oben halt irgendetwas ist. Sie betreiben –ohne es zu wissen – die Kunst der negativen Theologie. Sie können von Gott nicht sagen, was, wer und wie er ist, sondern nur was, wer und wie er nicht ist. Gott ist nicht Frau oder Mann, nicht groß oder klein, nicht sterblich, nicht hässlich oder schön, nicht lieb oder böse, nicht freundlich oder mürrisch. Eigentlich kann man über Gott gar nichts sagen, da unsere Sprache eine Sprache von Menschen über Menschen ist. Wem dieses irgendetwas da oben reicht, kann heute Morgen im Bett bleiben. Mir reicht das nicht.

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Das ist die intellektuelle Zumutung des Weihnachtsmorgens: Ihr werdet Gott nie anders erkennen und finden als in Jesus Christus. In ihm ist Israel, in ihm ist der wahre Mensch, in ihm ist der wahre Gott.

Aber - in Jesus Christus ist die Weisheit und die Erkenntnis Gottes nicht offensichtlich, sondern verborgen. Sie ist nicht evident. Nicht so evident wie ein Naturgesetz, das auch ohne dich gilt. Es ist eine Erkenntnis, die nur gilt, wenn du selbst sie machst. Du musst Gott in Jesus Christus entdecken. Und du wirst ihn entdecken. Nicht, wenn du in den Himmel guckst, sondern wenn du die Menschen ansiehst, die neben dir sind und die dir begegnen. Wenn du in ihnen das Menschsein entdeckst, hast du Gott gefunden.

Ich finde Gott in einem Kind, das gerade geboren wurde. Ich finde Gott in einem alten Menschen, der gleich sterben wird. Ich finde Gott in einem leidenden Menschen, der mein Mitleid erregt. Ich finde Gott in einem liebenden Menschen, der mich glücklich macht. Ich finde Gott in einem Menschen, mit dem ich mich versöhnen kann, nachdem ich mit ihm in Streit geriet.

Ja, es ist schon was Emotionales dabei in alle den Begegnungen. Ich werde angefasst, ich werde berührt. Ich sag ja, der 24.12. gehört auch zu Weihnachten, der Heilige Abend mit seiner besonderen Stimmung. Aber am 25. muss ich darüber nachdenken, warum ich so berührt wurde und mich erinnern, dass Gott in Menschen zu mir kommt. Nicht anders.

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Geht in euer Leben, entdeckt Gott in Menschen. Wenn ihre Menschlichkeit euch anrührt, habt ihr Gott gefunden.

Amen.