Der andere Jahresrückblick
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Am Jahresende wird Rückschau gehalten. „Krisenmodus“ ist das Wort des Jahres. Jede Rückschau wird in diesem Jahr von den „Krisen“ reden, davon, dass es viele waren, dass sie sich die Klinke in die Hand geben, dass wir also gar nicht mehr ohne Krise leben. Krisenmodus, wir kommen gar nicht mehr heraus, sie überlagern sich. Flüchtlingskrise, Coronakrise, Klimakrise, Ukrainekrise, die ja eigentlich ein Krieg ist, Nahostkrise.

Gibt es noch Hoffnung auf eine Zeit ohne Krise? Aber auch für diesen Fall könnte man die Krise bemühen und sagen: Die Krise ist in die Krise. 

Wir halten heute auch einen Jahresrückblick. 

Unser Jahresrückblick aber soll keiner sein, wie sie jetzt auf allen Kanälen kamen. Unser Jahresrückblick wird auch sagen, was war, aber ganz anders. Er wird dabei die Krisen nicht verschweigen. Aber er wird auch ihren Gegensatz in Erinnerung rufen. Unser Jahresrückblick wird feststellen, dass alles da war, was das Leben so ausmacht. Alles hatte seine Zeit, aber er wird nichts datieren. Das müsst ihr selbst tun, denn es ist euer Jahresrückblick und nur ihr selbst könnt sagen, was wann war. 

Hier also der Jahresrückblick eines Weisen aus Israel:

Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; 

abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;

weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;

klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; 

herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;

suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; 

behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;

zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; 

schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;

lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; 

Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

 

Hier wird das Leben beschrieben. Viele haben versucht, das Leben zu definieren. Etwa philosophisch: das Leben ist Denken; Ich denke, also bin ich (Descartes) oder biologisch: Leben ist Stoffwechsel, oder theologisch: Leben ist schuldig werden vor Gott und von Gott gerechtfertigt werden (Luther).

Der Weise aus Israel aber versucht nicht, das Leben zu definieren, er beschreibt es vielmehr in einer Reihe von Zuständen. Es sind 14 Gegensatzpaare, mithin 28 Zeitzustände. Einen Monat Leben, nicht definiert in einem wesentlichen Punkt, sondern definiert in 28 gegensätzlichen Lebensäußerungen.

Wie ein Seil wird das Leben aufgespannt zwischen zwei Gegensätzen. Das Leben ist etwas zwischen geboren werden und sterben. Aber auch zwischen säen und ernten, zwischen töten und heilen, zwischen weinen und lachen, zwischen schweigen und reden, zwischen klagen und tanzen. Das Leben spielt dazwischen, zwischen den Extremen, zwischen der konstruktiven Lebensäußerung und ihrem destruktiven Gegensatz. 

Wenn in diesem Jahr in deiner Familie jemand geboren wurde, dein Sohn, deine Enkelin, wenn in diesem Jahr jemand gestorben ist, dein Bruder, deine Mutter, wenn du in diesem Jahr geweint hast und wenn du in diesem Jahr einmal von Herzen gelacht hast, wenn du einmal den Mund nicht aufgekriegt hast, wo du hättest unbedingt was sagen wollen, und ein andermal genau das gelungen ist und du dein Herz hast öffnen können, wenn du etwas verloren hast, an dem dir viel gelegen war und du einen Menschen wiedergefunden hast, den du schon verloren glaubtest, wenn all das oder auch nur einiges davon in diesem Jahr seine Zeit gehabt hat, dann hast du gelebt. Diese Momente sind es, die wir erinnern, diese Augenblicke Zeit sind es, die das Leben ausmachen, von denen wir leben. Das Dazwischen, die Normalität, die Routine, ist das, was wie am Schnürchen abläuft, das, was allermeist der Fall ist, wo man aber nicht fällt, sondern läuft und funktioniert. Dass wir leben, merken wir nicht, wenn wir funktionieren. Mühe und Arbeit, aber eigentlich kein Leben. 

Der Weise aus Israel drückt es so aus:

Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

Das normale Leben, das sich zwischen die Extreme der Lebensfälle aufspannt, ist das Funktionieren, das läuft wie am Schnürchen. Mühe und Arbeit ohne Gewinn nennt es der Weise aus Israel. Du merkst nicht, dass du lebst. Es ist dies ein Leben, von der die jüngere Generation, so hört man, immer deutlicher den Eindruck hat, dass es nicht das eigentliche Leben sei. Der Tanz auf dem Seil hält nicht mehr die „work-live-balance“.

Dass wir leben, merken wir erst, wenn wir an ein Ende des Seils gekommen sind, wenn geboren oder gestorben wird, wenn wir weinen oder lachen, wenn gehasst oder geliebt wird. Wenn die Lebensäußerungen, die der Weise aus Israel beschreibt, der Fall sind und ihre Zeit haben, dann merken wir, dass wir leben. 

Diese Zeiten sind heikel. Denn sie sind nicht der Normalfall. Sie sind mit besonderen Gefühlen und Stimmungen verbunden, mit Weltschmerz oder Lebensfreude, mit Melancholie oder Euphorie. Es sind Zeiten, in denen wir wacher sind, als sonst. Wacher dafür, dass das Leben wunderschön ist und ebenso hoch gefährdet. 

Das Leben beschrieben als Spanne zwischen gegensätzlichen Lebensäußerungen. Das Leben als Tanz auf einem gespannten Seil: meist konzentriert ein Schritt nach dem anderen, manchmal federleicht, manchmal so wackelig, dass man sich kaum oben halten kann. 

Wenn das Leben ein Tanz auf einem Seil ist, das zwischen zwei Extremen aufgespannt ist, dann müssen diese Enden fest gegründet sein, sie müssen guten Halt haben. Sonst verliert das Seil die Spannung und du fällst runter. 

Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit …; nur, dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

Die beiden Enden, die Extreme, liegen in Gott. Anfang und Ende des Lebens, lieben und hassen, lachen und weinen, verlieren und finden – liegen in Gott. Die Zeiten an den beiden Enden, zwischen denen das Lebensseil aufgespannt ist, sind Gottes Zeiten. 

Aber sie seien unergründlich, meint der Weise aus Israel. Es sind Momente, die wir kaum verstehen und die wir nicht kontrollieren können, Momente, in denen wir uns machtlos fühlen bisweilen gar ausgeliefert. 

Was bedeutet das? Welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus? Was machen wir?

Der Weise aus Israel zieht ein sehr sympathisches Fazit. 

Da merkte ich, schreibt er, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.

Fröhlich sein und gut leben, auf dem Seil tanzen, so gut es geht. Das normale Leben so gut gestalten, wie es eben möglich ist, darin liege schon eine Gabe Gottes. 

Das klingt ein bisschen nach einer Art theologischem Hedonismus. Ich erkenne Gottes Güte, wenn es mir gelingt, ein fröhliches und lustbetontes Leben zu haben. Immerhin empfiehlt der Weise nicht nur Essen, Trinken und gute Laune, sondern auch Gutes tun. 

Das entspricht der Lebenseinstellung vieler Menschen. Viele sagen an ihrem Lebensende: ‚Ich hatte ein gutes Leben‘, sie sind dankbar und erkennen darin Gottes Güte und Freundlichkeit. Es gibt keinen Grund, die Ehrlichkeit eines solchen Lebensfazits anzuzweifeln. 

Gleichwohl würde ich mit dem Weisen aus Israel gern ins Gespräch kommen. Ich würde zunächst zustimmen und sagen: Ja, ich glaube auch, dass Gott alles schön gemacht hat zu seiner Zeit. Und ich würde weiter zustimmen: Nein, ergründen können wir das, was Gott tut, nicht, weder Anfang noch Ende. Aber sollen wir darum den Anfang und das Ende und das, was Gott da tut, unbeachtet lassen? Sollen wir uns nur auf das konzentrieren, was wir in Händen haben und was wir beherrschen können, unsere Fröhlichkeit und das gute Leben, für uns und für andere? Sollten wir nicht auch diese besonderen Zeiten als Zeiten Gottes wahrnehmen? Gerade dann, wenn uns etwas anrührt, das wir nicht in Händen halten? Wenn etwas mit uns geschieht, was wir nicht kontrollieren können? 

Erfahren wir nicht gerade an den Rändern des Lebens, an den Extremen der Lebensäußerungen, dass wir gehalten werden? Im Weinen und Lachen, im Sterben und geboren werden, im Lieben und Hassen, im Verlieren und Finden? Es sind die Situationen, in denen du die Balance verlierst und dich nicht mehr auf dem Seil halten kannst. Du fällst, aber du wirst aufgefangen. 

Was uns umhaut und zu Fall bringt, ist der Hass, die Zerstörung, die Klage, der Verlust, der Tod. Aber ebenso auch das andere, das Gegenteil. Auch die Liebe haut uns um, auch das Lachen und das Tanzen, der Aufbau und das Finden und jedes neue Leben. Auch das haut dich aus der Bahn, du fällst und du wirst aufgefangen. 

Es ist das Tiefe und das Hohe, die Niedergeschlagenheit und das Hochgemute, in denen du eine Liebe spürst, die aus der Ewigkeit kommt. 

Es sind die Zeiten, es sind die Situationen, in denen dir danach ist zu beten. Gott etwas zu sagen und ihm etwas zu bitten. Oder zu jubeln, weil dich das Leben in einer Intensität berührt hat, die dich nicht mehr an Gott zweifeln lässt und du froh bist, wenn du Worte wie die des Paulus findest: Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. (Röm 8,38-39)

Den Weisen aus Israel würde ich gern fragen, ob er diese Euphorie des Paulus nicht auch kennt. 

Ich möchte auf diese Gewissheit nicht verzichten. Ich will versuchen, im Neuen Jahr das Beste draus zu machen, fröhlich zu sein und Gutes tun in meinem Leben, zu essen und zu trinken und guten Mut zu haben. Ich will aber auch die unkontrollierbaren Zeiten erleben in diesem Jahr, will lachen dürfen, aber auch weinen müssen, will finden dürfen, aber auch verlieren müssen, will lieben dürfen und auch hassen müssen, will tanzen dürfen, aber auch klagen müssen. Das Seil meines Lebens hängt an beiden Enden und an beiden Enden sind die Zeiten, die mir wertvoll sind, weil ich merke, dass ich lebe, und merke, dass Gott da ist, über mir und unter mir und um mich her. Das wünsche ich mir und ich wünsche es euch. 

Amen.