Kaum bist du zehn Jahre, findest du neun Uhr abends nicht mehr spät. Bist du zwölf, ist es zehn. Teenager entdecken dann Jahr für Jahr und Schritt für Schritt den Reiz der Nacht. Abends muss ausgehandelt und ausgefochten werden, wie lange sie aufbleiben und ausbleiben dürfen. Eltern bremsen, weil sie langweiligerweise glauben, der Tag mit seinen Forderungen sei wichtiger als die Nacht mit ihren Lockungen. Dabei sollten es die Erwachsenen als Ex-Jugendliche eigentlich besser wissen. „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“, singt Ulrich Tukur in einem Schlager der Babylon-Berlin-Epoche (von Gustaf Gründgens). „Die Nacht ist da, dass was gescheh´!“
Nick kommt in der Nacht zu jenem rätselhaften Mann. Er kommt im Schutz der Nacht – es könnte gefährlich oder doch peinlich sein, mit ihm gesehen zu werden. Nick kommt in der Nacht, er weiß: Gespräche, wie er eines führen möchte, sind nachts eher möglich als tags. Denn Tag bedeutet Aufstehen und Arbeiten, Pflicht und Eile. Manchmal kannst du tags gar nicht atmen und nachdenken, Gedanken und Fragen können in dir gar nicht aufsteigen. Jahre könne so wie solche Tage sein, so gedanken- und fraglos; Erwachsene kennen das eher als Jugendliche. Gut, wenn dann wieder eine Nacht kommt, wenn du wieder Jahre erlebst mit Gedanken und Fragen und Hoffnungen. Nick kommt in der Nacht mit Gedanken und Fragen, für die er sich nicht schämen will; es gibt so Nachtfragen, die Lebensfragen sind. Nick kommt in der Nacht, in der besonderen Konzentration der dunklen Stunden, wenn die Müdigkeit erst überwunden ist und die Party um drei Uhr erst so richtig abgeht. Nick kommt in der Nacht. Er hat die richtige Tageszeit gewählt, wohl auch den richtigen Zeitpunkt in seinem Leben: Wenn du nachdenkst über das Leben, wohin es für dich gehen soll, was du vom Leben erwartest – dann ist es wohl eine gute Idee, einmal zu Jesus zu gehen.
1 Es war ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. 2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.
Nick kommt in der Nacht zu jenem rätselhaften Mann. Die Nacht ist eine gute Zeit, um mit Jesus zu sprechen. Nachts zeigt sich, wer Jesus ist. Nachts wird er später festgenommen, für einige ist er gefährlich, für alle Menschen stirbt er tags darauf am Kreuz. Und Nick wird das Öl bezahlen, mit dem der tote Jesus einbalsamiert wird; er tut für Jesus, was er noch tun kann an jenem Tag. Jetzt aber, in der Nacht, wird sichtbar, was nicht zu Tage liegt.
Die Nacht also – man kann Konfirmandenunterricht am Samstag von elf bis drei machen wie wir, aber vielleicht wäre es besser, dass dieser nicht vormittags den Schlaf in das Wochenende abrupt beendet, sondern dass der Konfirmandenunterricht nachts von elf bis drei stattfindet, in den Stunden also, die auch Nick bevorzugte mit seinen Nacht- und Lebensfragen. (Da würde ich aber mächtig Ärger bekommen mit euren Eltern und mit unserem Consistoire. Ich hätte trotzdem Lust, in unserer Gemeinde einen Nikodemuskreis zu gründen, der sich nach den Tagesthemen trifft!)
Nick weiß: Jesus ist von Gott gekommen, er kann von Gott erzählen wie kein anderer – er nennt ihn nämlich „Vater“ – und darum von der Welt und von uns Menschen erzählen wie kein anderer. Von Jesus kannst du noch etwas lernen über Himmel und Erde und Gott und Mensch. Aber schwer zu verstehen ist das – kein Wunder, dass Nick verwirrt redet von Mutter und Geburt. Ach, so sehr wünscht er sich ein Leben, das neu ist! So neu wie nur das Leben Neugeborener sein kann. Neugeborene sind schon da und sie sind ganz sie selbst, aber ihr Sein ist ein Werden: sie werden, was sie sein sollen, sie wachsen, werden größer und ausdifferenzierter. Die Zeit, ihre Zeit schreibt sich ein in ihr Gesicht und in ihren Körper, jede Woche sehen wir den Kleinen an.
Ihr Konfirmanden habt euch etwas von diesem Sein im Werden bewahrt. Und die Konfirmation will euch darin bestärken, bevor ihr in die Welt von Erwachsenen geht: Ihr seid Menschen des Anfangens und Werdens. Das hängt nicht so sehr mit dem Lebensalter zusammen als mit dem Glauben, mit dem, was Gott mit euch vorhat. „Wir alle bleiben Gottes Kind, auch wenn wir schon erwachsen sind“, dichtete ein älterer Herr, dem wunderbare Worte des Glaubens eingefallen sind, Hanns Dieter Hüsch. „Gottes Kind“ – vor Gott Menschen des Anfangens und Werdens.
Wie das? Nick steht ratlos vor Jesus, er bleibt bei seinen Fragen stecken. Und so soll es sein, sagt Jesus. Deine Fragen, dein Suchen – das ist dein Anfang. So geht es los. So bleibst du in Bewegung. Menschen des Anfangens und Werdens spüren, wenn Bewegung da ist, auch wenn man es nicht sehen kann. Ihr habt ein Sensorium für den Wind, für Gottes Geist, den wir nicht dingfest machen können: Gottes Geist kommt einmal aus der Richtung, dann aus jener, kühlt, was allzu aufgeheizt ist, tröstet wie ein zarter Luftzug auf der Haut, pustet uns ordentlich durch, wenn es bei uns stickig und muffig ist. Ihr spürt das besser als die Großen, ihr seid open minded, neugierig, seht, was werden soll, ihr bleibt bei den Fragen. Wir brauchen euch und eure Neugier, wir in der Kirche, in unserer Gesellschaft. Damit es gut weitergeht. „Durch Neugier hat man alles“, schrieb der französische Sänger Charles Aznavour. „Man liebt alles Fremde. Und hat nie Langeweile. Seit Urgedenken ist die Neugier das Erwachen der Welt.“
Allerdings: so anfänglich kann kein Anfang mitten im Leben sein, dass wir nicht doch Erfahrungen aus unserem bisherigen Leben mitschleppen: besonders unsere Kindheit, die Zeit, die ihr Konfirmand/innen gerade verlasst: zur Freude aller Psychoanalytiker nehmen wir das Kind, das wir waren, mit, verdrängen es, verbergen, was uns quält und beschämt. Tragen es aber auch wie einen Schatz in uns, wenn wir viel Liebe erfahren haben.
Wasser und Geist sorgen für das Leben im Anfangen und Werden, sagt Jesus. Wasser und Geist waren da, als die Welt neugeboren wurde und Gott loslegen konnte mit seinen Träumen für seine Schöpfung. Mehr Anfang geht nicht. Wasser und Geist: Wenn Materie und Geist auseinanderstoßen, wird Energie freigesetzt, da geschieht etwas. Der große Künstler Joseph Beuys hatte davon eine Ahnung, die ihn künstlerisch umtrieb. Ob er auch wohl in der Nacht an seiner Kunst gearbeitet hat? Hat er Nächte durchdiskutiert wie Nick, mit Worten gefilzt, metallene Sätze geschweißt? In unserer Mitte steht seine „Dumme Kiste“, als sei sie unsere. Wir kennen, was sie zeigt, wir hoffen, was sie andeutet:
Es ist vergeblich, darin etwas aufzubewahren:
Kinderkram oder abgelegte Dinge mit Rissen und abgeschlagenen Ecken, Dinge, denen etwas verloren gegangen ist, das Scharnier vielleicht oder der Griff, das eine Auge beim Kuscheltier.
Es ist vergeblich, hineinzusagen die Sätze, die heute nicht mehr klingen, die schräg klingen, wenn man vierzehn ist, die falsch klingen in der Postmoderne, in der nachchristlichen Gesellschaft, post coronam.
Ohne Deckel, alles liegt zu Tage, als gäbe es keine Nacht. Es liegt zu Tage auch, was wir gerne verbergen würden. Die Dumme Kiste nötigt zur Wahrhaftigkeit und ist darum so dumm nicht.
Mit Filz abgedichtet ist die Dumme Kiste, Filz ist aber kein Kleber, kein Kitt, keine ordentliche Schweißnaht, Filz ist ein untauglicher Versuch zu verhindern, dass von dem, das darin liegt, etwas herausrinnt, dass böse Mäuschen hineindringen und an dem nagen, was wir hineingelegt haben in unsere Kiste an Schmerzen und Freude, an Erfahrungen und Wünschen, an Glaubensversuchen, Irrtümern und dummem Zeug.
Der Wind zieht durch den Filz in den Ritzen. Staub wird aufgewirbelt, Staubmäuse bilden sich. In der Dummen Kiste ist was los.
Was wie ein Sarg aussieht, was erstarrt ist in seiner Form und in seinem Sinn, erhält Energie, Leben, Geist. Und wird neu. Die Dumme Kiste verwandelt das Alte, Abgelegte, das sie birgt, das, wenn wir es ihr entnehmen, neu wird in unseren Händen und Augen und Herzen. So will ich glauben: Meine festgefügten Gedanken in die „Dumme Kiste“ legen, herausnehmen und neu und frei werden in Herz und Kopf. Das macht die Dumme Kiste mit mir.
Wer seine Nacht- und Lebensfragen mit zu Jesus bringt, kommt wie Nick nach Hause, wenn die Sonne aufgeht, ein neuer Tag, in den er oder sie hineingehen kann – selbstbewusst und mutig.
In diesen Tag geht Nick mit Fragen und mit Hoffnung: dass der Geist, von dem Jesus spricht, ihn begleitet. Dass er aus der Begegnung mit Jesus in der Nacht anders in den Tag geht und in sein Leben. Du bist Nick.