Was sucht ihr?
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm!

Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wirst du bleiben? Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.

Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.

Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

 

Was sucht ihr? Was sucht ihr hier? Warum seid ihr gekommen? Warum seid ihr nicht im Bett geblieben oder in den Wald gegangen?

Was sucht ihr? Sucht ihr Zuversicht? Die Zeiten sind grad sehr hoffnungslos.

Sucht ihr Trost, weil ihr traurig seid über euer Leben? Sucht ihr Liebe, weil ihr sie verloren habt?

Was sucht ihr? Sucht ihr Vergebung, weil euch eine unheimliche Schuld plagt? Sucht ihr Vergewisserung, weil keiner mehr weiß, was gilt? Sucht ihr Wahrheit in einer Welt, in der es so viele Wahrheiten gibt wie Sand am Meer und Sterne am Himmel?

Was sucht ihr? Sucht ihr Segen? Das Versprechen, dass Gott euch nicht aus den Augen verliert, weil euch sonst keiner mehr sieht?

Sucht ihr Ruhe, Stille, Besinnung, Konzentration, weil es zu Hause so laut ist? Oder sucht ihr einen, mit dem ihr ein paar Worte wechseln könnt, weil es zu Hause so still und einsam ist?

Was sucht ihr? Sucht ihr die alten Geschichten, die alten Lieder, die alten Worte, weil die neuen Geschichten und die neuen Lieder und die neuen Worte euch zu fad geworden sind?

Oder sucht ihr Orientierung? Soll ich euch heute sagen, was ihr denken, fühlen und tun sollte? Wollt ihr mit mir die Welt retten?

Was sucht ihr?

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Der erste Satz, den Jesus im Johannesevangelium spricht. Was sucht ihr?

Das Johannesevangelium ist kein biographisches Dokument über den Jesus von Nazareth, es ist ein Kunstprodukt. Es will also was sagen, wenn der erste Satz aus Jesu Mund in diesem Text über Jesus Christus die Fragen ist: Was sucht ihr? Er stellt sie nicht nur den beiden Jüngern des Täufers, er stellt sie uns. Wer sich auf diesen Jesu einlässt, wer sich auf die Kirche einlässt, muss sich zunächst dieser Frage stellen: Was suche ich eigentlich?

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In dem Ausschnitt, den wir vorhin gelesen haben, kommen zu den beiden Täuferjüngern schnell weitere hinzu: Simon, Philippus und Natanael. In den 17 Versen des Abschnitts gibt es im Grunde nur zwei Verben: sehen und finden. Sehen 12 mal und finden 5 mal. Finden ist die Antwort auf Suchen. Dazwischen liegt das Sehen.

Was sucht ihr? Sie kommen, sehen und finden. Sie haben gefunden, aber sie sahen Unterschiedliches.

Johannes der Täufer sieht in ihm das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Seine beide Jünger sehen in ihm zunächst den Rabbi, also den Lehrer. Andreas aber, der seinen Bruder Simon findet, sagt: Wir haben den Messias gefunden, also den Christus.

Philippus findet Natanael und sagt: Wir haben den gefunden, von dem die Tora und die Propheten gesprochen haben, Jesus, Josefs Sohn aus Nazareth. Und der erst skeptische Natanael sagt, nachdem er von Jesus als wahrer Israelit gefunden wurde: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

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Was sucht ihr, fragt Jesus. Die, die ihn sehen, finden schnell eine Antwort. Aber die Antwort ist keine Sache – Trost, Hoffnung, Zuversicht, Liebe, Wahrheit, Gemeinschaft, Segen, Orientierung – die Antwort ist ein Mensch. Die Antwort auf die Frage: Was sucht ihr, ist eine Person. Wir haben ihn gefunden, den Lehrer, das Lamm, den Messias, den, von dem schon geschrieben wurde, der König, der Sohn Josefs, der Sohn Gottes.

Jeder sieht ihn. Jeder, der ihn sieht, findet. Aber jeder sieht in ihm einen anderen. Jeder findet einen anderen.

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Besonders interessant ist die Entdeckung des Natanael, eine Entdeckung in doppeltem Sinne: Er wird entdeckt und er entdeckt.

Natanael will erst nicht. Er hat es sich unter seinem Feigenbaum gut eingerichtet, ein wahrer Israelit, der weiß, was er gefunden hat. Er muss nicht mehr suchen. Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Philippus, der Natanael gefunden hat, sagt zu ihm: Komm und sieh! Aber bevor er sieht, sieht Jesus ihn, entdeckt ihn: Siehe, ein rechter Israelit, in dem nichts Falsches ist.

Natanael fühlt sich erkannt. Der echte Jude unter dem Feigenbaum. Und dann sagt dieser echte Jude etwas, was ein echter Jude eigentlich gar nicht sagen kann. Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

Nicht, dass er Jesus mit Rabbi anredet, nicht, dass er ihn zum König von Israel proklamiert ist das hier höchst Verwunderliche, sondern dass er sagt: Du bist der Sohn Gottes. Ein solches Bekenntnis ist einem echten Israeliten eigentlich nicht möglich. Lehrer und König, Messias und Lamm – alles kann ein echter Jude in Jesus sehen, aber nicht den Sohn Gottes. Nathanael hat etwas gefunden, was außerhalb des Suchgebietes liegt, in dem ein echter Israelit sich bewegt.

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Was sucht ihr? Wissen wir es, wenn wir in die Kirche gehen? Was sind unsere Erwartungen? Kennen wir sie überhaupt? Und müssen wir sie überhaupt können? Ist es nicht eher so: Wer zu festgelegte Erwartungen hat, wird nur enttäuscht werden? Vielleicht ist es gut, dass wir gar nicht so genau wissen, warum wir hier sind und was wir hier suchen. Dann sind wir offen für die Begegnung mit einem, der vieles ist. Einem, der uns entdeckt und herausholt aus dem Schatten unserer Gedanken und Weltbilder, in denen wir uns gut eingerichtet zu haben glauben.

Die Begegnung mit diesem Menschen, der vieles ist, lässt uns Sätze sagen, die nicht aus uns kommen, weil sie jenseits unsere eigenen Denk- und Gefühlshorizonts liegen, weit außerhalb unseres Sinnsuchgebiets und uns dann doch – wir wissen nicht genau wie – über die Lippen kommen und uns hinausführen, weit über die Grenzen unserer kleinen Welten hinaus.

Du wirst noch Größeres sehen als das. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

Was sucht ihr? Kommt und seht!

Amen.