Ungekrönte Könige
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Als am Tag darauf die große Volksmenge, die zum Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem komme, nahmen sie die Palmzweige und zogen hinaus, ihn zu empfangen, und riefen: Hosanna, gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels.

Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht:

Fürchte dich nicht, Tochter Zion!

Siehe, dein König kommt,

sitzend auf dem Füllen einer Eselin.

Dies verstanden seine Jünger zunächst nicht, aber nachdem Jesus verherrlicht worden war, da erinnerten sie sich, dass dies über ihn geschrieben stand und dass man ihm solches getan hatte.

Das Volk nun, das bei ihm gewesen war, als er Lazarus aus dem Grab gerufen und ihn von den Toten auferweckt hatte, legte davon Zeugnis ab. Eben darum zog ihm das Volk entgegen, weil es gehört hatte, er habe dieses Zeichen getan.

Da sagten die Pharisäer zueinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet. Alle Welt läuft ihm bereits nach.

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Plötzlich war er da. Er kam vom Tor her, eine hagere Gestalt, ein schmales Gesicht, rote Wangen. Er ging auf die Menge zu. Sie jubelten ihm entgegen. Seit Stunden stehen sie am großen Tor, die große Menge, ihn zu begrüßen, ihm zuzujubeln. So lange hatten sie schon auf ihn gewartet, jetzt war er endlich da, ist gekommen, es ist für manche wie Advent, wie Weihnachten, sie haben Geschenke für ihn mitgebracht, sie drücken ihm Blumen in die Hand. Einem fiel vor Schreck sein gelbes Mützchen vom Haupt und fiel ihm vor die Absperrung. Der König bückte sich, hob das Mützchen auf und gab es dem braven Bürger. Der war selig. Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener. Eine Frau schien ihn mahnen zu wollen, sie fuchtelte mit dem erhobenen Zeigefinger vor seinem Gesicht herum, er aber hörte nicht auf zu lächeln. Er sprach auch mit ihnen, reichte ihnen die Hand und sagte… Was sagte er wohl? „Nice to meet you?“ In der zweiten Reihe jubelten und riefen ihm liebe Worte zu und schwenkten wild mit kleinen Fähnchen: schwarz, rot, gelb und den Union-Jack.

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Nicht mit bunten Fähnchen jubelte sie ihm zu, sondern mit Palmzweigen. Plötzlich war er da. Er kam vom Tor her, eine hagere Gestalt, ein schmales Gesicht, „die Farbe deiner Wangen, der roten Lippen Pracht, ist hin und ganz vergangen, des blassen Todes Macht.“ Ob er auch auf die Menge, die ihn empfing, zuging, ob sie ihm Geschenke gaben, ob er etwas zu ihnen sagte? „Nice to meet you“ wird er kaum zu ihnen gesagt haben.

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Zwei Könige ziehen in die Stadt ein und werden umjubelt empfangen. Charles hat beim Einzug in Berlin viel gelächelt und gewinkt. Jesus beim Einzug in Jerusalem eher nicht. Der eine kommt auf einem Esel, der andere im Bentley. Das Protokoll schreibt vieles vor: der Empfang mit militärischen Ehren, das Hören der Nationalhymnen, die demonstrierte Volksnähe beim Händeschütteln an der Absperrung. Auch bei Jesus schrieb das Protokoll einiges vor, etwa die Nutzung eines Esels. Das alte Protokoll für diesen Anlass schrieb Sacharja, der Prophet: Siehe, dein König kommt, sitzend auf dem Füllen einer Eselin. Wie sehr das Leben von Königen von Protokollen bestimmt wird – damals wie heute – versteht man nicht sofort.

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Charles ist ein echter König. Jesus nicht. Ist Charles ein echter König? Er hat keine Soldaten unter sich, nur Buttler, er kann nicht befehlen: Geh hierhin, geh dorthin. Er kann nur bitten, ihm den Tee zu reichen, und das tut er sicher sehr höflich, denn er ist ja der britische König. Er kann nur reden. Zum Beispiel im Bundestag. The kings speech, er tat es ohne zu stottern. Und er kann aufs Land fahren, ins Dorf Brodowin und die ökologische Landwirtschaft loben und den Leute dort Aufmerksamkeit verschaffen. Ja, Charles ist ein echter König. Aber was heißt schon, ein echter König zu sein in dieser Zeit?

Jesus, kein echter König, war auch nicht besser dran. Auch er war ein König ohne Macht, konnte keinem befehlen, hatte keine Soldaten, ein paar Jünger nur, die auch mal Bodyguard spielten und sich vor ihn stellten, ihn zu schützen und dabei anderen ein Ohr abhieben. Auch Jesus hatte nur die Macht der Worte und der Symbole, konnte nur reden, zum Beispiel auf einem Berg. Und er kann aufs Land fahren, ins Dorf Betanien zu den Menschen und ihre Toten auferwecken, den armen Lazarus und den Armen Aufmerksamkeit verschaffen.

Beide Könige, Charles und Jesus, sind Könige ohne wirkliche Macht.

Jesus sagte einmal: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele. (Mt 20,25-28)

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Charles und Jesus – was sind das beides für Könige? Herren oder Knechte?

Beide sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekrönt. Das kommt erst noch, bald schon. Der eine wird mit einer schweren Krone aus Gold und Edelsteinen gekrönt, der andere mit einer schmerzlichen Krone aus Dornen. Charles wird es vermutlich überleben, Jesus hat es nicht überlebt.

Jesus gab sein Leben als Lösegeld für die Welt. Das wird Charles erspart bleiben. Dieser Kelch wird an Charles vorübergehen.

Charles war am Abend in Schloss Bellevue. Dort sagte ihm der Bundespräsidenten bei einer Tischrede über des Königs Lieblingsthema Ökologie und Klimaschutz: „Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit“.

Ja, um nichts weniger ging es, als der dornengekrönte König getötet und von Gott auferweckt wurde. Um nichts weniger als um die Zukunft der Menschheit.

Es sind nicht die Könige, die die Menschheit retten. Es sind nicht die Mächtigen, die die Menschheit retten, nicht die Präsidenten und die Politiker. Es ist Gott, der sie gerettet hat. Indem er sich herabließ, um den Menschen zu dienen. Indem der den König Israels als Lösegeld gab. Wir sind freigekauft. Wir sind nicht mehr in Geiselhaft unserer Sünden. Wir sind frei von der Schuld unserer Vergehen und unseres Versagens. Wir können also auch anders. Oder doch nicht?

Die Zukunft der Menschheit liegt darin, dass wir auch anders können. Dass wir einfacher leben, wie Jesus einfach gelebt hat. Dass wir auf Liebgewordenes verzichten, wie Jesus auf Liebgewordenes verzichtet hat. Dass wir gnädig miteinander sind, wie Gott gnädig mit uns ist. Dass wir uns vergeben, wie Gott uns vergeben hat. Damit wir nicht ewig in den gleichen Spuren laufen, die nur ins Unheil führen.

Vergebung macht Umkehr möglich. Umkehr rettet die Menschheit.

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Als Jesus in Jerusalem einzog, jubelten ihm alle zu. Alle Welt läuft ihm nach, stellten seine Gegner fest. Wenig später schon, als er verhaftet, verhört und hingerichtet wurde, ließen ihn alle allein. Niemand jubelte mehr ihm zu.

Umkehr ist ein schmerzlicher Prozess. Niemandem fällt das leicht. Man muss einiges opfern. Man macht sich keine Freunde. Denn es geht dabei viel verloren, es geht dabei viel kaputt. Aber es wird am Ende noch weit mehr gewonnen. Nichts weniger als ein neues Leben, nichts weniger als die Zukunft der Menschheit.

Amen.