Das andere Zimmer
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Da ist er wieder, dieser Abend, dieser besondere Abend, dieser heilige Abend. Er ist so ganz anders als alle anderen Abende. Er hat seine eigene Stimmung, seine eigenen Abläufe, seine hohen Erwartungen, aber auch einen reichen – wie soll ich es nennen – Segen? 

Ich freue mich auf diesen Abend. Immer noch, nicht ganz wie ein Kind, aber fast. Ich freue mich auf den Gottesdienst, auf die Lieder, auf das Beisammensein mit der Familie nach der Arbeit, auf das Essen, auf die Weihnachtsrituale.

Als Kind musste man immer warten, bis die Tür zum Wohnzimmer geöffnet wurde, in dem der Weihnachtsbaum stand mit den Kerzen und den Geschenken drunter. An Weihnachten wurde das Wohnzimmer zum Kinderzimmer. 

Die kindliche Unmittelbarkeit habe ich verloren. Aber eine Sehnsucht ist geblieben. Und die treibt die Erwartungen an diesen Abend immer noch hoch, bisweilen absurd hoch. Bei mir zum Beispiel dergestalt, dass ich denke und erwarte: An diesem Abend, in dieser Nacht muss es doch geschehen, dass … nichts geschieht. Ich denke, eigentlich müsste es heute Abend auf der ganzen Welt friedlich sein. Nicht nur in den Familien, sondern auf der ganzen Welt. Ich denke, heute Abend keine Nachrichten. Lohnt nicht. Die Tagesschau ist heute in 10 Sekunden vorüber: „Guten Abend, meine Damen und Herrn, ich begrüße Sie zur Tagesschau. Heute ist nichts geschehen und auch das Wetter ist ganz normal. Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht.“

Das ist natürlich Blödsinn – ich weiß es. Es ist eine Illusion, eine kindliche Sehnsucht, naiv und einfältig. Und trotzdem erzeugt dieser Abend mit seiner Heiligkeit diese Sehnsucht in mir. Heute darf es keinen Hass geben, keine Gewalt, kein Unglück. Heute gibt es keine Nachrichten. Nur die eine: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Man gibt sich utopischen Sehnsüchten hin, die selbst Gott sich verbietet. Denn diese Weihnachtsgeschichte fängt ja mit einer Nachrichtenmeldung an. Rom hat beschlossen, eine umfangreiche Datenerhebung durchzuführen. Damit soll die Datenbasis für die jährliche Steuerschätzung verbessert werden. Die Regelung sieht vor, dass sich alle Einwohner an ihren Geburtsort begeben, um sich dort von den zuständigen Behörden registrieren zu lassen. 

Wenn selbst die Weihnachtsgeschichte mit einer Weltnachricht beginnt, wieso bilde ich mir dann ein, dass es heute keine Nachrichten geben dürfe, weil in dieser Heiligen Nacht nichts passieren darf – außer eben, dass Weihnachten ist? 

Dieser Heilige Abend hat seiner hohen Erwartungen, seine gewiss übertriebenen Erwartungen, denen man nicht so leicht entkommt. 

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Vor einigen Jahren hat die Schriftstellerin Sibylle Berg in einer Spiegelkolumne ihre vergeblichen Fluchtversuche beschrieben: 

„Gleich ist Heiligabend – schreibt sie. …Dieser miese Abend. Ich habe ja alles versucht. …Bei Freunden war ich und wir haben getan, als sei es ein Abend wie alle. Haben gelärmt gegen etwas Fahles, etwas Peinliches, das keiner aussprach. … Ich bin weggefahren, in heiße Länder, habe Touristen belächelt, die Plastikbäume in den Sand steckten. Doch auch da kam die Nacht und ein Sehnen, nach was nur. Wegfahren hilft nicht. Zu Hause bleiben ist wunderbar. …Daheim ist es warm, da ist der Computer, man kann Sushi essen. Kann man nicht. Weil alles geschlossen ist. Weißt du, ich könnte jetzt rausgehen, in einen Club gehen, wo all die Einsamen gegen die Traurigkeit antanzen, antrinken.

Aber es würde nicht helfen, nichts hilft in dieser verdammten Nacht. Verstehst du mich? Die Glocken, jetzt gehen die Glocken los. … Ich möchte verächtlich den Mund verziehen. Die Idioten belächeln, die in die Kirche gehen, sich ein Märchen anhören in schlecht geheiztem Gemäuer. Aber ich schließe nur die Augen und höre den Glocken zu. Dann ist Ruhe, und ich weiß, was jetzt passiert, in tausend Wohnungen. … Kinder fallen über die Geschenke her. … Das Essen ist angebrannt, vielleicht brennt später auch noch die Gardine. Lüg nicht, lüg dich nicht an. Was passiert, ist Heimat. Zu wissen, wo man hingehört. Ist Ruhe. Und wenn es auch nur die Idee von diesen Dingen ist.“

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Ja, so ist das wohl: Ob man will oder nicht, man entkommt diesem Abend nicht so leicht. Man entkommt dieser Heiligkeit nicht, selbst wenn man versucht, sie zu verachten. Dieser Abend holt dich ein, auch wenn du vor ihm fliehst. 

Ist er so aufdringlich und übergriffig oder rührt er etwas an, das auch die Hartgesottensten nur verleugnen können, wenn sie sich selbst belügen?

Was an diesem Abend passiert, ist Heimat, schreibt Sibylle Berg. Zu wissen, wo man hingehört.

Und ein anderer schrieb vor sehr langer Zeit, als es dieses ganze Weihnachten so noch gar nicht gab:

Als sich aber die Zeit erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn, zur Welt gebracht von ei-ner Frau und dem Gesetz unterstellt, um die unter dem Gesetz freizukaufen, damit wir als Söhne und Töchter angenommen würden. Weil ihr aber Söhne und Töchter seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, den Geist, der da ruft: Abba, Vater!

Paulus schrieb das in einem Brief an Gemeinde in Galatien, in einem der ältesten Texte des Neuen Testaments, geschrieben, Jahrzehnte bevor Lukas sein Evangelium mit der schönen Weihnachtsgeschichte geschrieben hat. 

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Heilig Abend - als sich aber die Zeit erfüllt hatte … Wir werden Söhne und Töchter – wieder Kinder. 

Heimat nennt es Sibylle Berg, Kinder Gottes werden, nennt es Paulus. Es ist wahrscheinlich dasselbe. 

An diesem Abend bricht etwas auf. An diesem Abend wird etwas klar. Du brauchst diesen Ort, wo du nicht mehr kämpfen musst. Nicht mehr kämpfen um deinen Platz, um dein Ansehen, um deinen Willen, um deine Freiheit und Selbstbestimmung. Du brauchst diesen Ort, wo du dich fallen lassen kannst, wo ein anderer alles für dich in die Hand nimmt, wo er dich selbst an die Hand nimmt und du weißt: Alles ist gut, alles wird gut. Der Ort, das ist der Ort des Vertrauens. Man kann ihn Heimat nennen, man kann ihn Kindheit nennen. 

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Weihnachten also ist: Gott sandte seinen Sohn, um uns zu Söhnen und Töchtern Gottes zu machen. 

Weihnachten ist nicht das, was die Psychologen eine Regression nennen. Dass wir wieder kindliche Verhaltensmuster an den Tag legen und das Erwachsensein verlassen. Kind Gottes zu sein bedeutet nicht, albern zu werden. Natürlich leben wir weiter als reife und vernünftige Menschen, die ihr Denken und Tun kontrollieren, die erwägen und abwägen, die sich informieren und entscheiden, die dabei der Wissenschaft vertrauen und sich an Regeln orientieren. Aber das ist sehr anstrengend. Darin gehen wir nicht auf. In dem, was Notwendig ist und unumgänglich – Paulus nennt es das Gesetzt. Daneben ist noch Raum für anderes. Ein Raum des Kindsein, ein Raum für die Kinder Gottes. Man kann in beiden Räumen leben, im Raum der Erwachsenen, der Vernunft, der Wissenschaft, der Regeln und des Gewissens, und im Raum der Kinder, im Raum des Glaubens, des Vertrauens und des Spielens. Allzu oft halten wir uns nur noch in dem Erwachsenenraum auf. Aber da ist noch der andere Raum, das Kinderzimmer. Seine Tür wird an Weihnachten geöffnet. Es ist schön. Nicht nur an Weihnachten.

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Was ich meine, hat Matthias Claudius in einer Strophe seines Abendlieds auf den Punkt gebracht:

Gott, lass dein Heil uns schauen,

auf nichts Vergänglichs trauen,

nicht Eitelkeit uns freun;

lass uns einfältig werden

und vor dir hier auf Erden

wie Kinder fromm und fröhlich sein.

Einfältig werden – das ist es. Einfältig. Das ist weder dumm noch blöd, weder albern noch unvernünftig. Es ist mehr bescheidener werden, geistig und seelsich. Nicht alles selber machen wollen, auch Gott machen lassen. Darauf verzichten, alles verstehen zu wollen. Auf Gott vertrauen, auch wenn mein Intellekt tausendmal fragt: Ist das dein Ernst? Einfältig werden, das ist auch, mir die ganzen Geschichten als seine Geschichten gefallen lassen, diese Märchen, wie Sibylle Berg sie nennt. Und das sind sie auch, wenn man im Erwachsenenzimmer bleibt. Wenn man ins Kinderzimmer geht, sind es die Geschichten, mit und in denen die Kinder Gottes fromm und fröhlich leben. Man muss nicht immer alles erklären, um verstehen zu können. 

Einfältig werden – je älter ich werde, desto mehr gefällt mir dieses Wort. Es ist nicht ein Wort aus einem Kinderlied, es ist ein Wort aus einem Abendlied! Die Sehnsucht nach Einfalt, das ist etwas für reife Menschen. 

Einfältig werden – was steht dem entgegen? Auch das wusste Matthias Claudius:

Gott, lass dein Heil uns schauen,

auf nichts Vergänglichs trauen,

nicht Eitelkeit uns freun;

Die Eitelkeit, sie mehr noch als das Bauen auf das Vergängliche, das Materielle, die Eitelkeit hindert uns daran, einfältig zu werden und wie Kinder fromm und fröhlich zu sein. Eitelkeit, dieser Selbstbehauptungszwang, diese „Ich aber“, das ist es, was du an der Garderobe abgeben musst, bevor du ins Kinderzimmer gehst. 

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Heiliger Abend. An diesem Abend geht die Tür auf zu diesem anderen Zimmer. Der Raum, in dem du die Kontrolle abgeben darfst. Der Raum, in dem du dich einem anderen anvertrauen darfst. Lasse es dir gefallen. Lass dir die Art und Weise gefallen, in der Gott dein Vertrauen sucht. 

Mit dieser Geschichte, in der vor langer Zeit ein Kind geboren wurde in Bethlehem im heiligen Lande. Und in der dann irgendwelchen Hirten mitgeteilt wird, was es zu bedeuten habe: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Diese wunderliche Geschichte. An Weihnachten üben wir das Kindgottes-Sein ein. Dann wissen wir an all den anderen Tagen des Jahres, dass das Kinderzimmer noch da ist und immer betreten werden kann, wenn wir einen Trost und eine Hoffnung brauchen, die nicht von dieser Welt sind. Damit wir uns nicht mehr fürchten. 

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Heilig Abend, da ist er wieder, dieser besondere Abend. Komm in die Familie der Kinder Gottes. Sie wird dich fröhlich machen und sanft und menschlicher. Versprochen. Und die Welt ein bisschen friedlicher. Wenigstens in dieser Heiligen Nacht, in der in Wahrheit nie etwas Anderes geschah, als dass vor langer Zeit ein Kind zur Welt kam in der Stadt Davids, die da heißt Bethlehem. 

Amen.