Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Die Weihnachtsbotschaft vom Frieden auf Erden hören wir in diesem Jahr voller Sehnsucht, aber auch voll schmerzlicher Wehmut. Denn es ist Krieg. Heute vor zehn Monaten begann der Angriff Russlands auf die Ukraine. Auch in anderen Jahren haben wir hier Weihnachten gefeiert, während anderswo Krieg war. Dieser Krieg aber wütet in unserer Nachbarschaft und zwischen Menschen, die uns durch unsere Geschichte, in unserer Kultur, Manchen auch persönlich nahe sind. Und nun ist uns dieser Krieg auch dadurch nahegekommen, dass wir seine Folgen auch hier spüren. Gewiss, verglichen mit den Menschen, die mittendrinstecken in den Schrecken des Kriegs, geht es uns gut. Doch die gestiegenen und weiter steigenden Preise bringen Viele in allerlei Sorgen, Verlegenheit und Bedrängnis. Viele müssen sehr viel genauer aufs Geld gucken als noch vor einem Jahr.

Es ist finster, und wir sehnen uns nach Licht – in den Finsternissen des Weltgeschehens und der Düsternis in uns selbst, der Dunkelheit unserer Herzen und Seelen. Und dieser nächtliche Gottesdienst weckt in uns die zaghafte Hoffnung, die vertraute und doch geheimnisvolle Weihnachtsgeschichte könnte ein solches Licht sein, könnte unsere dunkle Nacht hellmachen, wie es den Hirten in der Gegend von Bethlehem geschah. Wie ihnen soll diese Botschaft auch uns, das wünschen wir uns, unserer großen Furcht überzeugend und wirksam große Freude entgegensetzen.

Sie hatten keinen Raum in der Herberge, hörten wir, keinen Ort: ou topos. Da klingt das Wort Utopie an. Unser heutiger Predigttext aus dem Buch Hesekiel klingt utopisch. Er soll uns dabei helfen, der Weihnachtsbotschaft nachzudenken und nachzusinnen, ihren Hinweisen und Anspielungen nachzugehen, ihre Worte in unserem Herzen zu bewegen. Es passt zu unserer Situation, dass es sich bei diesem Text um politische Verheißungen handelt:

Ich lasse erstehen über ihnen einen einzigen Hirten, der sie weiden soll, meinen Knecht David, der soll sie weiden, der soll ihnen zum Hirten werden. Ich, der Ewige, werde ihnen zum Gott, mein Knecht David wird Fürst sein mitten unter ihnen. Ich, der Ewige, habe geredet. Einen Bund des Friedens schließe ich mit ihnen, böse Tiere schaffe ich aus dem Land, in der Wüste können sie in Sicherheit wohnen, in den Wäldern können sie schlafen. Segen gebe ich ihnen rings um meinen Hügel, Regen sende ich zu seiner Zeit, Ströme von Segen werden das sein. Der Baum des Feldes gibt seine Frucht, das Erdland gibt sein Gewächs, auf ihrem Boden sind sie in Sicherheit. Dann werden sie erkennen, dass ich, der Ewige, es bin, wenn ich die Stangen ihres Jochs zerschlage und sie aus der Hand derer rette, die sie knechten. Den Völkern werden sie nicht mehr zum Raub, die wilden Tiere des Landes werden sie nicht fressen, in Sicherheit wohnen sie nun, und keiner scheucht sie auf. Ich lasse ihnen erstehen eine Pflanzung zum Ruhm, niemand im Land wird mehr an Hunger zugrundegehen, nicht mehr müssen sie die Schmähung der Völker tragen. Dann werden sie erkennen, dass ich, der Ewige, ihr Gott, mit ihnen bin und sie mein Volk sind, das Haus Israel – Ausspruch von meinem Herrn, dem Ewigen. Ihr seid meine Schafe, Schafe meiner Weide, Menschheit seid ihr, ich bin euer Gott – Ausspruch von meinem Herrn, dem Ewigen.

Ein neuer David wird angekündigt – als Knecht Gottes und als Hirte seines Volkes. David war zwar eine zwiespältige Gestalt, blieb aber dennoch Gottes Liebling, und vor allem blieb in allen Jahrhunderten seither die Hoffnung, sie wuchs sogar, eines Tages werde ein Davidsohn, ein neuer David kommen, werde Israel befreien von seinen Hassern und die Welt zurechtbringen. Auf diese Hoffnung spielt auch Lukas an. Dreimal hören wir den Namen David. Josef bricht auf in die Stadt Davids, weil er zur Nachkommenschaft Davids gehört. Und der Engel, der Bote Gottes verkündet: Euch ist heute der Heiland, der Befreier geboren, der Gesalbte: in der Stadt Davids. Dass er diesen Namen für ein Hoffnungswort hält, zeigt auch der Aufbau seiner Geschichte: er stellt dem Goliath in Rom einen kleinen Davidsohn in Bethlehem gegenüber und entgegen.

Hesekiel vermeidet das Wort König – da ist er gebranntes Kind. Es lief nicht gut mit den Königen. Sie haben Israel in die Katastrophe geführt – Jerusalem und der Tempel wurden zerstört–, schließlich in die Deportation nach Babel. Stattdessen nennt er den neuen David einen Fürsten, einen Ersten unter Gleichen, legt Wert darauf, dass er sich nicht erhebt über seine Brüder und Schwestern, sondern mitten unter ihnen lebt und agiert. Und wir denken da an Jesus, der von sich sagt, er sei nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen – ein Knecht Gottes und der Menschen. Doch er wurde als König der Juden gekreuzigt. Die Römer meinten das als Hohn. Die Evangelisten aber fanden: da ist was Wahres dran. Gerade in seiner Ohnmacht, in seinem Leiden und Sterben vertritt er sein Volk unter den Völkern.

Hirte – das war im Alten Orient, nicht nur in Israel, Selbstbezeichnung der Herrschenden, der Könige; eine schmeichelhafte Selbstbezeichnung. Doch unser Kapitel beginnt mit einer scharfen Kritik Gottes an den Hirten, den Herrschenden seines Volkes: sie haben sich nicht der Schwachen angenommen, die Verlorenen nicht gesucht, sich auch nicht drum geschert, dass die Starken die Schwachen bedrängen und verdrängen – Schafe haben zwar keine erkennbaren Ellenbogen, aber Hufe und Hörner. Die sogenannten Hirten haben auf Kosten ihrer Herde für sich selbst gesorgt, statt die Herde zu weiden. Wir haben, trotz gelegentlicher Korruption, keinen Grund, den uns Regierenden vorzuwerfen, dass sie in die eigene Tasche wirtschaften. Doch der prophetische Hinweis auf die Wenigen, die im Überfluss leben, und die Vielen, die in Not und Bedrängnis sind, erinnert uns daran, dass der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl auch bei uns nicht gelöst ist und weltweit schon gar nicht.

Gott kündigt die Entlassung der Hirten an, will selbst guter Hirte seines Volkes sein. Es ist darum nicht ganz klar, was die Rolle und Aufgabe des neuen David als Hirte seines Volkes sein soll. Doch es ist charakteristisch für den Gott Israels, dass er seinen guten, seinen menschenfreundlichen Willen nicht ohne menschliche Bundesgenossen, nicht über die Köpfe seiner Leute hinweg durchsetzen will, auch wenn wir uns das manchmal verzweifelt wünschen. Er ist nicht absolut, nicht absolutistisch, sondern in Beziehung; ein Gott mit uns, nicht ohne uns. Sie werden erkennen, dass ich, der Ewige, ihr Gott, mit ihnen bin, hörten wir. Der Gottesknecht David, der Gottesknecht Jesus sollen diese Erkenntnis bewirken.

Jesus hat sich als guten Hirten bezeichnet und angepriesen. Er hat damit beansprucht und angekündigt, politisch zu lenken und zu leiten. Er wollte damit aber nicht mit Gott, seinem Vater, konkurrieren um die Hirtenrolle, ihn nicht ausschalten und ersetzen. Er redet und handelt in enger Gemeinschaft mit ihm, in einer Arbeitsgemeinschaft. So wird in diesem Menschen deutlich, wer Gott ist und wie er ist und was er will. Gott hat sich so mit ihm identifiziert, dass er durchsichtig, dass er zum Bild und Gleichnis des unsichtbaren Gottes wird. In ihm zeigt Gott seine Menschlichkeit.

Die Überschrift dieses Zusammenwirkens zwischen Gott und Gottesknecht, zwischen diesem und jenem Hirten ist: Einen Bund des Friedens schließe ich mit ihnen. Das hören wir ebenso sehsüchtig und wehmütig wie vorhin die Botschaft vom Frieden auf Erden. Was dieser Bund enthält und bewirkt, wird dann ausgemalt. Da ist viel von üppig sprießend fruchtbarem Land die Rede: Regen sende ich zu seiner Zeit, Ströme von Segen werden das sein; der Baum des Feldes gibt seine Frucht, das Erdland gibt sein Gewächs; niemand im Land wird mehr an Hunger zugrundegehen. Die Klimakatastrophe, die schon begonnen hat – Überflutungen da, Dürren dort –, hat uns die biblische Sicht näher gebracht, dass das alles nicht von Natur aus so ist, sondern von geschichtlich politischen Bedingungen abhängt. Auch in unserem Text ist das Naturwüchsige eng mit politischen Entwicklungen verbunden: Dann werden sie erkennen, dass ich, der Ewige, es bin, wenn ich die Stangen ihres Jochs zerschlage und sie aus der Hand derer rette, die sie knechten.

Auffällig, auch beunruhigend ist dabei die enge Nachbarschaft zwischen wilden Tieren und den Feinden Israels, den anderen Völkern: den Völkern werden sie nicht mehr zum Raub – die wilden Tiere werden sie nicht fressen. Ebenso parallel sind leiblicher Hunger und der Hass der Völker: nicht mehr werden Menschen im Land an Hunger zugrundegehen – nicht mehr müssen sie die Schmähung der Völker tragen. Das klingt so, als sei die Judenfeindlichkeit der Völker geradezu ein Naturtatbestand: wie Raubtiere nun mal Raubtiere sind, so sind die Völker nun mal Feinde Israels. Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher, hat Hannah Arendt gesagt, was freilich nur gilt, solange der nicht besiedelt ist. Doch in einer biblischen Utopie wohnt der Wolf beim Lamm, werden Kalb und Löwe miteinander grasen, Kuh und Bärin zusammen weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Das wird dann geschehen, wenn die Wurzel Isais – Davids Vater – dasteht als Zeichen für die Völker und die Völker nach ihm fragen.

Israel soll sicher wohnen – das soll der Bund des Friedens erreichen. Dreimal steht das in unserem Abschnitt: selbst in der Wüste können sie sicher wohnen; auf ihrem Boden sind sie in Sicherheit; in Sicherheit wohnen sie nun, und keiner scheucht sie auf. Dass Israel sicher und im Frieden lebt unter den Völkern in aller Welt, das ist biblisch die Bedingung für Frieden auf Erden. Angesichts eines so weltumspannenden Festes wie Weihnachten kommt uns diese sehr besondere Sicht aufs Weltgeschehen ein bisschen klein vor, ein bisschen schmal, allzu speziell. Im Advent haben wir Jesus als Heiland aller Welt zugleich besungen und als der Heiden Heiland, als Befreier der Völker. Doch gerade die verschiedenen Nationalismen, die unsere Welt so blutig zerreißen und zerfleischen, könnten aufhören, wenigstens relativiert werden, wenn die Völker erkennen: Gott kommt in Israel zur Welt. Zumal kaum ein Nationalismus ohne Antisemitismus auskommt. Und leider gilt das auch für all die Befreiungsbewegungen unserer Zeit, denen es um Black Lives, um People of Color, um Rassismus und Postkolonialismus, Gender und Queerness geht.

Man kann von den Völkern nicht fordern, sie sollten sich davon beeindrucken und beeinflussen lassen, dass Gottes Sohn Jude wurde. Aber von den Christen. Und die gibt es in fast allen Völkern. Sie müssen nicht länger gekränkt sein, dass Gott sein Volk aufrechterhält neben der Kirche und gegen sie. Sie können darin ein Zeichen seiner Treue erkennen und sich darüber freuen. Und sie können sich daraufhin betätigen als Dolmetscher dieses Volkes, wenn es nötig wird, auch als Schutzmacht, beitragen zum Frieden und zur Sicherheit Israels unter den Völkern und so zum Frieden auf Erden.

Zu Weihnachten geht es nicht um Appelle. Sondern darum, zu sehen und zu verstehen und zu feiern, was Gott uns hat beschert. Doch Gottes Gaben sind immer Aufgaben, und Aufgaben müssen nicht bedrückend, können beglückend und verlockend sein, unser Leben reich machen. Weihnachten ist eine Einladung zum Mittun an dem, was damals dort in Bethlehem begann.

Amen.