Vier hors d'oevres
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Manchmal bedauere ich ja doch, dass wir hier keine Bilder in der Kirche haben. Heute könnte ich sie gut gebrauchen. Heute könntet ihr sehen, wie die vier Evangelisten streiten. Wenn wir sie sehen könnten. Vier große Bilder der vier Evangelisten. Sagen wir da oben in den vier Ecken, wo diese medaillonartigen Ornamente wie leere Bilderrahmen sind. In Kirchen, in denen Bilder sind, sind irgendwo auch die Evangelisten. Vorzugsweise dort, wo vier Ecken sind. Bei einer Vierung oder auf einer viereckigen Kanzel. Hier drinnen leider nicht, aber draußen durften sie Platz nehmen, am Französischen Dom oben auf den vier Ecken, bevor der Turm rund wird. 

Ihr wisst ja, dass man die heiligen Figuren in den Kirchen immer erkennen kann. Nicht an ihren Gesichtern, sondern an den Beigaben, den sog. Attributen. Bei den vier Evangelisten sind das: Engel, Löwe, Stier und Adler. Ich merke mir das mit „Elsa“, die ersten Buchstaben. Dann muss man nur noch die Reihenfolge in der Bibel wissen: Matthäus, Markus, Lukas, Johannes – Elsa: E wie Engel für Matthäus, L wie Löwe für Markus, S wie Stier für Lukas und A wie Adler für Johannes. 

Schade, dass sie heute nicht da oben in den Ecken thronen mit ihren Tierchen und dem Engel. Ihr könntet sehen, wie sie streiten. An Weihnachten streiten sie immer. An Ostern sind sie ein Herz und eine Seele. An Ostern und Karfreitag wird im Gottesdienst mal aus diesem und mal aus jenem Evangelium gelesen und sie hören immer interessiert zu. Da gibt es keine so großen Unterschiede zwischen ihnen, im Großen und Ganzen dieselbe Geschichte. Beim Ende sind sie sich einig, aber beim Anfang nicht. 

Drei gucken mürrisch und Lukas grinst überlegen. Denn immer wird seine Geschichte gelesen, der Dauerbrenner zu Weihnachten. Und die anderen drei fühlen sich zu kurz gekommen. Bei den Anfängen ihrer Evangelien sind sie alle vier sehr verschieden. Jeder fängt anders an, jeder hat eine grundsätzlich andere Idee, wie ein Evangelium überhaupt anfangen müsse und jeder denkt, sein Anfang ist der beste. 

An diesen sehr verschiedenen Anfängen kommen sehr verschiedene Erzählcharaktere zum Vorschein. Der eine ist ein mathematischer Erzähler, der zweite mag die Kurzgeschichten, der dritte liebt die verwobenen Erzählstränge und der vierte ist der Philosoph. Und nicht nur unterschiedliche Erzählcharakteren, sondern auch unterschiedliche Glaubenscharakteren. Deshalb lohnt ein Blick auf diese vier Anfänge. An Weihnachten geht es ja um die Anfänge. 

Matthäus, der mit dem Engel und in der Reihenfolge des Neuen Testaments erste, ist der mathematische Evangelist. Da geht es so los: 

Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob, Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serach mit Tamar, Perez zeugte Hezron, Hezron zeugte Ram, Ram zeugte Amminadab, Amminadab zeugte Nachschon, Nachschon zeugte Salmon, Salmon zeugte Boas mit Rachab, Boas zeugte Obed mit Rut, Obed zeugte Isai, 6Isai zeugte den König David. (Mt 1,1-6)

Und dann gibt es nochmal eine Zeugungsreihe von David bis zum Babylonischen Exil und eine dritte von dort bis zu einem Jakob und dann heißt es: 

Jakob zeugte Josef, den Mann Marias; von ihr wurde Jesus geboren, welcher der Christus genannt wird. Im Ganzen also sind es vierzehn Generationen von Abraham bis David, vierzehn Generationen von David bis zur babylonischen Verbannung und vierzehn Generationen von der babylonischen Verbannung bis zum Christus. (Mt 1,16-17)

So beginnt das Matthäusevangelium. Mit einem Stammbaum, mit einer Ahnenreihe, mehr Mathematik als Erzählung. Bevor sich der Autor den Worten und Taten dieser wichtigen Person widmen kann, muss er erst die Verhältnisse ordnen, erst Ordnung in die Ahnenreihe bringen. Ein ordentlicher Einstieg ist das A und das O. Es scheint wie bei einem bedeutenden Gemälde: Man möchte schon einen belastbaren Provenienznachweis haben. Der macht das Bild echter und irgendwie auch schöner. 

Der Anfang also muss ordentlich, muss nachweislich sein. 

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Lukas, der mit dem Stier und alljährliche Sieger bei der evangelistischen Weihnachtstombola, ist der große Romancier und Geschichtenerzähler. Er fängt mit Vorgeschichten an und davon gleich mehreren, die er kunstvoll ineinander verwebt. 

Und wie ein richtiger Schriftsteller beginnt er mit einem Vorwort und einer Widmung: 

Da will einer am Anfang anfangen – das ist sinnvoll – und dann der Reihe nach vorgehen. Und fängt dann doch völlig außerhalb der Reihe an, nämlich nicht bei Jesus, nicht bei dessen Eltern und Vorfahren, sondern bei zwei ganz anderen, als wolle er uns erstmal auf eine ganz andere Spur lenken oder gar in die Irre führen. 

Das sind nicht die Eltern von Jesus, das sind die Eltern von Johannes dem Täufer. Erstmal wird dessen Geburtsgeschichte erzählt. Während der Schwangerschaft von Elisabeth kündigt ein Engel Maria ihre Schwangerschaft an. Dann besucht die jüngere Schwangere die ältere und die beiden Ungeborenen grüßen einander. Das ist alles erzählerisch so grandios gemacht, dass ich gut verstehen kann, dass Lukas jedes Jahr gewinnt. Diese Geschichten wird man nie leid. Erst nach einem lagen und verwobenen ersten Kapitel geht es dann mit der eigentlichen Weihnachtsgeschichte los, also erstmals mit jenem Gebot vom Kaiser August, das erklärt, warum Jesus von Nazareth in Bethlehem geboren wird, wie sich das gehört, weil es der Prophet so gesehen hat. 

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Wenn wir jetzt hier in den vier Ecken die vier so unterschiedlichen Evangelisten sehen könnten, würdet ihr mir zustimmen, dass Lukas strahlt, während Matthäus versunken unter sich schaut und nachrechnet. Johannes sieht auch eher nachdenklich aus, so in Gedanken, dass er gar nicht merkt, wie der Adler neben ihm die Schwingen schlägt und viel Staub aufwirbelt. Johannes ist geneigt, seinem Kollegen Lukas zuzustimmen: Man muss mit dem Anfang anfangen. Aber der Anfang ist doch nicht bei irgendwelchen Familiengeschichten und schon gar nicht staubig vergilbten Ahnenreihen. Das alles ist noch nicht wirklich der Anfang. Der Anfang liegt doch ganz am Anfang. Vor allem Anfang. Bei Gott fängt doch wohl alles an. Und was war vor allem Anfang, also bevor überhaupt etwas war, das hätte anfangen können? 

Ihr merkt es, Johannes ist ein Metaphysiker. Und deshalb kann sein Evangelium auch gar nicht anders anfangen als mit dem Anfang aller Anfänge und der geht so: 

Johannes beginnt sein Evangelium mit der Schöpfung. Aber philosophisch: Das Wort am Anfang ist das Wort Anfang und das, was am Anfang ist, ist eben das Wort. Die Schöpfung als Sprechakt kann nicht anders, als das Wort an den Anfang zu setzen. Dann folgen schnell weitere Urbegriffe, um die es ja von Anfang bis zum Ende geht: Gott, die Dinge, das Leben, das Licht, der Mensch. Ein philosophisch metaphysisches Gedicht steht am Anfang. Ein schöpferisches Ursprungsgedichtetes. Und, damit das Ganze dramatische Energie aufnimmt und als Geschichte in Fahrt kommen kann, gleich das erste Negativwort, die erste Antithese, nämlich zu Licht: Finsternis. 

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Da brüllt der Löwe. Markus ist gereizt, leicht genervt vom Geschwurbele seiner Kollegen. Er wolle nur mal dran erinnern, dass er als erstes auf die Idee gekommen sei, ein Evangelium zu schreiben. Und statt sich umständlich zu überlegen, wie man so ein Evangelium am besten anfangen könne, solle man halt einfach mal anfangen. So habe er es gemacht. Er schrieb eine Überschrift, das muss schon sein: Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. (Mk 1,1) Dann habe er mit einem Prophetenzitat begonnen und sei direkt auf Johannes den Täufer zu sprechen gekommen, um dann in knappen Worten die Taufe Jesu zu berichten. Damit sei es doch eigentlich erst losgegangen. Alles vorher ist doch nur Augenwischerei. Er halte es aus pädagogischen oder dramaturgischen, vielleicht auch aus theologischen Gründen für sinnvoll, im Vorfeld nicht so viele Spuren zu legen und Andeutungen und Hinweise zu geben. Die Geschichte, die sie da erzählten, sei ohnehin schon verwirrend und vieldeutig und rätselhaft, man solle sich doch bitte erst dann ein Bild davon machen und einen Reim auf diesen Jesus Christus, wenn man seine Geschichte bis zum Ende verfolgt habe. Vorher mache das gar keinen Sinn. Also habe er beschlossen, alles was man sich so als Vorgeschichte und Geburtsgeschichte erzähle, wegzulassen. 

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Und da debattieren sie wieder, die vier, über ihre vier Anfänge, wie jedes Jahr an Weihnachten. Sie debattieren bis zum Beginn der Passionszeit. Dann werden sie immer stiller und immer ergriffener. 

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Und du? Wie erzählst du deine Geschichten, deine Erlebnisse, deine Begegnungen? Bist du ein Löwe des Pragmatismus wie Markus? Fängst einfach an, kommst gleich zur Sache? Und was es mit dem Glauben auf sich hat, kann man ohnehin erst am Ende sehen. 

Oder bist du ein Adler der Weisheit wie Johannes? Fängst erst gar nichts an, wenn es nicht eine tiefere Bedeutung hat? Und erzählst eigentlich gar keine Geschichten, sondern dozierst mehr. Hat der Glaube für dich etwas mit Weisheit zu tun, mit Verstehen und mit großen Worten? 

Oder bist du ein Stier fruchtbarer Anekdoten? Das klingt jetzt komisch, der Stier passt nicht recht zu Lukas etwas weitschweifigem Erzählstil. Und glaubst du, dass der Glaube Geschichten braucht, Lebensgeschichten; dass er erzählt werden muss und sich vom erzählten Leben nährt? 

Oder bist du der berechnende Analytiker, ein Ordnungsmensch wie Matthäus? Und glaubst du, dass der Glaube Ordnung ins Leben bringt, eine Reihenfolge, eine Richtung, eine Orientierung? 

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Wie auch immer wir unsere Geschichten anfangen – sie werden am Ende alle zu dem einen Ziel führen: Zu Gott, weil er unsere Geschichten in seiner großen Geschichte einmünden lasst. Diese eine große Geschichte Gottes kann erzählt werden als Geschichte des Lebens und als Geschichte vieler Leben, sie kann bedacht werden mit großen bedeutenden Worten und sie gibt dem Leben und der ganzen Welt eine Woher und Wohin. Aber die die ganze Wahrheit, die gibt es erst am Ende. 

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Und wie komme ich jetzt endlich zum Schluss dieser Predigt? Mal sehen, was mir die vier anbieten. Lukas: Die Jünger waren allezeit im Tempel und priesen Gott. (Lk 24,53) Nicht schlecht. Oder Johannes? Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären. (Joh 21,25) Tiefsinnig bis zum Schluss. 

Markus? So knapp, wie er begann, hört er auch auf. Ein junger Mann sagt den Frauen am leeren Grab: Der, den sie suchten, sei auferstanden. (Mk 16,8) Da fliehen die Frauen und fürchten sich. Das sei kein guter Schluss, empfanden spätere Generationen und schrieben noch einen Schluss für Markus. (Mk 16,9-20)

Und Matthäus? Der hat einen echten Schluss. 

Ich entscheide mich für Matthäus, ein Schluss wie ihn nur ein Engel schreiben kann: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Mt 28,20) 

Dem ist gegen Ende diesen Weihnachtsfestes nichts hinzuzufügen.

Amen.