Ungefähr 3000
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Es waren fünf. Sie streiften ihre Schuhe ab und ließen sie im Sand zurück. Sie gingen vorsichtig ins Wasser. Der Morgen war noch klar, schon angenehm warm, noch nicht heiß. Langsam tasteten sie sich voran, Meter für Meter. Nach 5 Minuten waren sie so weit draußen, dass sie bis zur Gürtellinie im Wasser standen. Der Wannsee ist am östlichen Ufer lange flach. Die beiden jungen Frauen hatte weiße Kleider an, meine Frau trug unterm schwarzen Talar einen Badeanzug (aber das wusste nur ich), der Saum des Talars schwamm oben auf.

Vom Ufer aus sah ich, dass sie mit den beiden jungen Frauen redete, hören konnte ich nichts, es war zu weit draußen.

Direkt am Ufer standen viele Menschen in Gruppen zusammen, bei jeder Gruppe eine Pfarrerin im Talar, viele wurde getauft, fast alle nah am Ufer. Die Täuflinge standen mit den Füßen im Wasser, das Wannseewasser wurde in Taufschalen gefüllt und von dort über sie gegossen.

Das war vor 4 Wochen, am Johannistag, am Tag Johannes des Täufers, der Jesus im Jordan taufte. Tauffest am Wannsee. Eines von vielen in diesem Jahr der Taufe.

Die beiden Studentinnen, Zwillinge, die sich kurzfristig noch angemeldet hatten, wollten getauft werden. Ohne Familie, ohne Feier, ohne Gemeinde, nur für sich. Die eine brachte ihre Freundin mit, die andere ihren Freund. Und sie wollten untertauchen. Richtig eintauchen. Dazu muss man sich ziemlich weit rauswagen. Der Wannsee ist lange flach. Also wagte sich meine Frau im Talar mit den vier jungen Leuten weit raus in den See.

Ein junger Mann in einer braunen Kutte verließ den Uferbereich und folgte der Gruppe um meine Frau. Er sah aus wie ein junger Mönch, wie ein Narziss, wie ein Goldmund. Er betrachtete die Taufe der Zwillinge mit Abstand. Nach der Taufe sprach er meine Frau an. Ich befürchtete schon, er mache ihr Vorwürfe, wolle mit ihr diskutieren über die Rechtmäßigkeit dessen, was sie da eben getan habe. Aber dann sah ich, dass er sich näherte. Es sah eher nach einem freundlichen Gespräch aus als nach einer erregten Diskussion. Dann tauchte auch er unter. Als er wieder hochkam, hielt meine Frau ihre Hand auf seinen Kopf und segnete ihn.

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Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen. Und an jenem Tag wurden ungefähr dreitausend Menschen der Gemeinde zugeführt.

Das war am Pfingsttag. Vor 2000 Jahren. Nicht am Wannsee, sondern in Jerusalem. An jenem Tag also, an dem der Heilige Geist über die Jünger kam und sie zu Aposteln machte. Petrus trat hervor und predigte und sagte, sie sollen umkehren und sich taufen lassen. Und so wurden etwa 3000 Menschen getauft an jenem Tag. Vermeldete Lukas in seiner Apostelgeschichte.

Ich weiß nicht, wie viele sich in diesem Jahr am Johannistag haben taufen lassen. Es gab in ganz Deutschland diese Tauffeste. Am Wannsee waren es über 40. Es könnten im ganzen Land also auch gut 3000 gewesen sein.

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Und wie geht das nun weiter? Mit den Getauften und mit der Kirche?

In der Apostelgeschichte geht es so weiter:

Sie aber hielten fest an der Lehre der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und am Gebet.

Und Furcht erfasste alle: Viele Zeichen und Wunder geschahen durch die Apostel. Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte. Einträchtig hielten sie sich Tag für Tag im Tempel auf und brachen das Brot in ihren Häusern; sie aßen und tranken in ungetrübter Freude und mit lauterem Herzen, priesen Gott und standen in der Gunst des ganzen Volkes. Der Herr aber führte ihrem Kreis Tag für Tag neue zu, die gerettet werden sollten.

Viele Exegeten und Fachleute sagen: So war das ja wohl nicht. Das ist ein Idealbild von Kirche und Gemeinde, das Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, hier zeichnet.

Über 3000 Taufen an einem Tag an einem Ort. Einmütigkeit im Glauben und in der Lehre, Gemeinschaft beim Abendmahl, ungetrübte Freude beim Lob Gottes. Ein Idealbild. So sollte eine Gemeinde sein. So sollte Kirche sein. Meint Lukas. Aber war es je so?

An dem vielleicht auffälligsten Punkt dieses kleinen Berichtes eines schönen Urzustandes erregten sich seit jeher die Gemüter ganz besonders: Sie verkauften alles, was sie hatten, und hatten alles, was sie dafür bekamen, gemeinsam. Der urchristliche Liebeskommunismus. So hat man das genannt. Schon in dieser Bezeichnung klingen Skepsis und Spott mit. Kommunismus, eine gefährliche und gescheiterte Ideologie gepaart mit Liebesschwärmerei. Sollte dem Christentum diese explosive Mischung in die Wiege gelegt sein?

Scharfsinnig wiesen viele Exegeten nach, dass das nicht Realität war. Die angebliche Gütergemeinschaft der Urgemeinde habe in anderen Texten des Neuen Testaments keine Spuren hinterlassen. Es wird nur einmal von einem Barnabas erzählt, der einen Acker hatte, ihn verkaufte und den Aposteln den Verkaufserlös zu Füßen legte. Eine großzügige Spende macht noch keinen Kommunismus.

Aber es gibt auch andere, die meinen, es könne durchaus so etwas wie einen urchristlichen Kommunismus gegeben haben. Das war ja noch keine Staatsideologie, sondern die alternative Lebensform einer keinen Gruppe. Und es würde gut zu dem passen, was Jesus von Nazareth lehrte und wie er mit seinem Freunden lebte. Wie dem auch sei – wenn es diese Form von Kommunismus, die Gütergemeinschaft der Christen in den ersten Gemeinden je gab, ist sie der Kirche abhandengekommen. Und nachdem verschiedene Experimente mit gesamtgesellschaftlichen und staatlich verordnetem Sozialismus und Kommunismus gescheitert sind, weil sie viel mehr Leid als Glück gebracht haben, schauen wir auf dieses Schlaglicht aus der Urgemeinde einerseits mit einer gewissen Skepsis, andererseits doch auch mit einer gewissen und irgendwie ungläubigen Faszination. Würde die Würde jedes einzelnen Menschen nicht viel mehr leuchten können, wenn er sich nicht mehr so abhängig fühlen müsste von seinem Besitz und seinem Einkommen, wenn also die materielle Seite des Wohlstandes unseren Blick auf den Mitmenschen nicht mehr so stark bestimmen würde?

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Die Urgemeinde und die Kirche in Deutschland 2000 Jahr später. Etwa 3000 kamen an jenem Urkirchentag hinzu, etwa 3000 verlassen an jedem Werktag die beiden großen Kirchen in Deutschland.

Es gibt noch keine Statistiken darüber, wie viele Menschen am 24. Juni 2023, am Johannistag getauft wurden. Vielleicht waren es auch etwa 3000.

Es gibt ja – Gott sei Dank – noch Menschen, die getauft werden wollen. Die Taufen am See oder am Fluss, die Taufen im Freien, die Taufen außerhalb von Kirchen oder auch in Kirchen nur außerhalb des Gemeindegottesdienstes sind offenbar ein Renner. Taufe ja, ein Versprechen Gottes für mein Leben - ja, das gerne, das tut mir gut, das brauche ich, das lässt mich hoffen. Aber keine Taufe, die mich an eine Gemeinde kettet.

Der Verdacht, man wolle damit nur die Kirchensteuer umgehen, bestätigt sich nicht. Allen, die zu den Tauffesten und zu den Spontantaufen, den sog. „Popup-Taufen“, kommen, wird gesagt, dass sie mit der Taufe auch Mitglied der Kirche werden und Kirchensteuer bezahlen müssen. Dazu sind sie offenbar bereit. Das ist also nicht der Punkt. Mitglied der Kirche will man werden, aber nicht auch gleichzeitig Mitglied einer Gemeinde.

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Der junge Mann in seiner Kutte, der meiner Frau und den Zwillingen ins tiefe Wasser hinterher watete, hatte nicht mal die Zeit gefunden, sich unmittelbar vorher zur Taufe anzumelden. Meine Frau taufte ihn trotzdem. Er wollte getauft werden – unbedingt – tatsächlich unbedingt, ohne Bedingungen. Das ist ja die Taufe: eine zeichenhafte Zuwendung Gottes ohne Vorbedingungen. Ich rufe dich bei deinem Namen, du bist mein Kind!

Nach der Taufe wieder an Land nahm meine Frau seinen Namen und seine Mailadresse auf und drückte ihm den Anmeldebogen zur Taufe in die Hand; den solle er ihr ausgefüllt zuzusenden. Dann hörte sie nichts mehr von ihm. Eine Woche später war Gemeindefest in der Gemeinde meiner Frau. Nach dem Gottesdienst gab ihr eine Frau aus dem Kirchenchor einen Zettel. Der habe mit einem Stein beschwert auf einem der Bierzelttische gelegen. Es war die Taufanmeldung des jungen Mannes. Er muss dagewesen sein. In der Gemeinde. Aber keiner hatte ihn gesehen.

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Wieso wollen Menschen sich taufen lassen, wieso wollen sie dabei auch ein- und untertauchen, in die Tiefe gehen, sich weit rauswagen, nicht nur eine Symbolhandlung über sich ergehen lassen, sondern ihre Taufe zu einem einschneidenden Erlebnis machen – wieso machen sie all das und wollen dann nicht in der Gemeinde sichtbar werden? Sie wollen etwas von Gott wissen und erfahren, aber nicht von der Gemeinde. Liegt es an ihnen oder liegt es an der Gemeinde?

Auf den ersten Blick würde ich denken, es liegt an ihnen und nicht an den Gemeinden. Die Menschen werden immer individualistischer, sie leben in ihren Milieus, die Gemeinschaft ihresgleichen genügt ihnen. Sie brauchen keine neuen Gemeinschaften. Und die Gemeinden sind doch offen, neue Menschen werden freundlich aufgenommen, keiner wird überfordert mit überhöhten moralischen Ansprüchen.

Doch ist das wirklich so? Ich denke, wir müssten uns die Mühe des zweiten Blicks erlauben. Repräsentiert eine evangelische Kirchengemeinde nicht auch nur ein ganz bestimmtes Milieu? In unserem Fall doch ein ziemlich bildungsbürgerliches Milieu. Das dürfte in den meisten evangelischen Gemeinden kaum anders sein. Und geht von uns nicht doch auch eine Erwartungshaltung aus - unbewusst und unausgesprochen vielleicht, und dennoch spürbar? Verspüren Menschen, die neu in eine Gemeinde kommen und dort ja auch herzlich aufgenommen werden, dann nicht doch auch einen Druck, sich öfter blicken zu lassen oder gar sich einzubringen und zu engagieren?

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Keine Frage: Der Glaube braucht die Gemeinschaft, denn er braucht das Gespräch. Er muss sich austauschen und er muss sich immer wieder nähren lassen durch das Wort Gottes. Wenn der Glaube nicht im Gespräch bleibt mit seinen Wurzeln, mit dem Wort Gottes, das gelesen, aber auch ausgelegt und gedeutet und in die Zeit gezogen wird, und nicht auch im Austausch mit den anderen ist, dann wird er weltfremd, lebensuntauglich und verkümmert schließlich oder verhärtet.

Also: Glaube ohne Kirche geht nicht. Aber Kirche ist nicht nur die verfasste Kirchengemeinde vor Ort. Kirche ist überall, wo über das gesprochen wird, was einen glauben und hoffen und lieben lässt.

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Die drei, die am Wannsee in die Tiefe wollten, ein- und untertauchen, die werden ihre Gemeinde finden, die Menschen, mit denen sie das weiter vertiefen können, was sie von Gott vernommen und verspürt haben. Kirche ist überall, wo der Glaube, die Hoffnung und die Liebe in die Tiefe gehen. Dort ist Kirche, dort ist Gottes Geist.

Vielleicht sogar dort, wo man in einer Gruppe beschließt, auf Besitz zu verzichten und eine kommunitäre Gemeinschaft zu bilden. Vielleicht lebt der junge Mann, der spontan hinzukam, längst in einer WG, in der sie alles miteinander teilen. Und vielleicht beten sie dort auch, bevor sie das Brot brechen und gemeinsam essen.

Der Geist macht die Kirche. Und der weht, wo er will. Nicht nur in der Französischen Kirche, nicht nur in der EKBO. Die Kirche war schon immer größer als ihre gezählten Mitglieder. Allein Gott weiß, wie groß seine Kirche ist. Selbst der Evangelist und Apostel Lukas wusste es nicht genau. Ungefähr 3000 am ersten Tag – ungefähr, genau weiß man es nie.

Amen.