„Erfahrung als Maske des Erwachsenen“
Pfarrerin Senta Reisenbüchler

Liebe Gemeinde,

die Maske des Erwachsenen heißt Erfahrung. Diesen Satz habe ich vor einigen Jahren bei dem Philosophen Walter Benjamin gelesen und er lässt mich seitdem nicht mehr los. Die Maske des Erwachsenen heißt Erfahrung. 

Was meint das? Wie verhält sich das mit den Erfahrungen, die ich mache, zu der Person, die ich bin. Die ich geworden bin. Ist der oder die Einzelne am Ende gar nur das Produkt der eigenen Erfahrung? Und was heißt das überhaupt, eine Erfahrung als Maske zu nutzen? Was steckt dann hinter der Maske oder ist die Maske gar nicht nur das Vordergründige, sondern bereits das Eigentliche? Kein Dahinter.

Und ereignet sich eine Erfahrung einfach, so ganz ohne mein Zutun oder verdient erst die sprachliche Deutung dessen was mir widerfährt das Wort Erfahrung?

Um eine lebensverändernde Erfahrung geht es im heutigen Predigttext. Ich lese aus dem 2. Petrusbrief. Da heißt es:

Denn nicht weil wir klug ausgedachten Mythen gefolgt sind, haben wir euch die Macht und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus kundgetan, sondern weil wir Augenzeugen seines majestätischen Wesens geworden sind. Denn empfangen hat er von Gott, dem Vater, Ehre und Anerkennung, als eine Stimme von der erhabenen Herrlichkeit her erklang, die zu ihm sprach: Das ist mein Sohn, mein geliebter Sohn, an ihm habe ich Wohlgefallen. Und diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört, als wir mit ihm zusammen auf dem heiligen Berg waren.

Ich war dabei. Ich habe es selbst erlebt! Ich bin Augenzeuge gewesen von etwas ganz Großem. Von dieser Erfahrung zehre ich bis heute. Derjenige, der da so schreibt, das ist der Apostel Petrus. Und was er da so Großartiges miterlebt hat, das ist die Verklärung Jesu. Petrus, wir erinnern uns, ist ein Freund von Jesus gewesen, war mit ihm gemeinsam unterwegs. Einmal sind sie auf einen hohen Berg gestiegen, zusammen mit anderen Männern und dort hat es sich ereignet – Petrus hat dort auf dem Berg Gottes Stimme gehört. Ganz unmittelbar, ganz unvermittelt. Das ist mein Sohn, mein geliebter Sohn, an ihm habe ich Wohlgefallen. Auf Jesus haben sich diese Worte bezogen.

Petrus hat durch dieses Ereignis erfahren, dass sein Freund Jesus, den er doch so gut kannte, mit dem er täglich Umgang hatte, mehr ist als er von ihm dachte. In dem Moment der Verklärung erkannte Petrus, dass in diesem Jesus Gott selbst präsent ist. Gottes Gegenwart wurde für Petrus greifbar. Gott kam ihm ganz nahe. Und aus dieser Erfahrung speist sich sein Glaube. Dieser eine Moment Dieser eine Moment, der seine Selbst- und Weltgewissheit verändert. Dieser eine Moment, der Dreh- und Angelpunkt seiner Identität wird.

Und diesen Moment mit Gott, diese Gotteserfahrung deutet Petrus. Er tut dies anhand von dem was er bereits weißt, über Gott und die Welt. Anhand von dem was er bisher gelebt und geglaubt hat, war er gehört und gelesen hat. So heißt es weiter bei Petrus: 

Eine umso festere Grundlage haben wir darum im prophetischen Wort, und ihr tut gut daran, darauf zu achten, wie auf ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen. Denn - das sollt ihr vor allem andern wissen - keine Weissagung der Schrift verdankt sich menschlicher Anschauung. Denn was an Weissagung einst ergangen ist, geht nicht auf den Willen eines Menschen zurück, vielmehr haben, getrieben vom heiligen Geist, Menschen im Auftrag Gottes gesprochen.

Petrus deutet seine Erfahrung und dabei greifen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander. Die Erinnerung, an das, was er mit Gott erlebt hat, bestimmt seine Gegenwart und lässt ihn auf das Kommende hoffen. Petrus hat miterlebt wie der Himmel aufgegangen ist und Gottes Stimme erklang. Gut. Was haben wir erlebt? Wo haben wir Transzendenz erlebt, die uns hat staunen lassen? Einen Augenblick, bei dem uns ein Licht aufgegangen ist, es hell geworden ist um uns? Wir uns und die Welt neu gesehen und verstanden haben?

Vielleicht war Gott da, als nur Trauer und Einsamkeit da waren und keine Hoffnung auf Besserung. Oder eine Erfahrung der Bewahrung, an dessen Ende ein ehrliches „Gott sei Dank“ stand. Oder vielleicht gab es diesen einen besonderen Moment des ganz großen Glücks, bei dem diese Gewissheit da war – Gott ist da. Gott ist mit mir. Gott ist für mich. Alles wird gut.

In den evangelischen Kirchen betonen wir die Beziehung des einzelnen zu Gott. Und das ist ja auch wichtig. Christin bin ich nicht, weil ich eine gewisse Herkunft habe oder einem gewissen Milieu angehöre, sondern ich habe mich in aller Freiheit bewusst dazu entschieden. Oder auch dazu entschieden, eine Tradition, in die ich hineingeboren bin, weiterzutragen, für mich mit Sinn und Leben zu füllen. 

Ich denke meine eigene Erfahrung braucht als Pendant die Gemeinschaft, den Diskurs, den Austausch. Manchmal die Korrektur. Und gerade wenn mein eigener Glaube mir manchmal klein und zerbrechlich erscheint, tut es mir gut, wenn andere mich stärken und inspirieren. Von sich, von ihren Erfahrungen und Deutungen berichten.

Und dann sind da noch die Erfahrungen derjenigen, mit denen wir durch die Tradition verbunden sind. Es gab Christinnen, die lange vor uns Gottes Leuchten gesehen haben und an die wir anknüpfen können. Und es wird die geben, die nach uns kommen, und ihre Erfahrungen in einer neuen Zeit machen, die nicht mehr unsere ist. So verstehe ich die biblischen Schriften - als Dokument von Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Was sind die biblischen Geschichten, die für Sie, für dich, besondere Bedeutung haben? Vielleicht ist es der Taufspruch oder der Hochzeitsvers oder ein Spruch, der auf einer besonderen Kirche steht. Manchmal geraten diese Sprüche in den Hintergrund und beschäftigen uns über längere Zeit nicht, dann aber sind sie wieder präsent und sprechen zu uns.

Ich komme zum Schluss.

Vielleicht kennen Sie dieses Gedicht von Dietrich Bonhoeffer. Darin fragt er danach, wer er eigentlich ist. Er schwankt hin und her zwischen Verzweiflung und Gelassenheit, zwischen Zorn und Ohnmacht. Zum Schluss sagt er dann: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“ Die Erfahrung seines Glaubens, das Wissen darum, dass Gott da ist, bei ihm ist, für ihn ist – das macht Bonhoeffer aus. Das bestimmt seinen Blick auf sich, und auf andere. Die Gotteserfahrung ist seine Perspektive. Eigentlich gar nicht so weit weg von Petrus.

Petrus formuliert seine Hoffnung, so: Der Morgenstern wird in euren Herzen aufgehen. Er hofft darauf, dass das Licht sich durchsetzen wird. Das Licht, das er erlebt hat. Das Licht, das Jesu hat erleuchten lassen. Gleich werden wir das Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ singen. Darin wird Jesus als Freudenschein besungen, der alle einlädt und dessen Anwesenheit erfrischt und belebt. Jesus als Morgenstern – der Sohn Gottes, der zu uns in die Welt kommt und uns begegnet. Gerade erst haben wir das an Weihnachten gefeiert - Gottes Eingreifen in die Welt. Heute, am Ende der Epiphaniaszeit, vergegenwärtigen wir uns das erneut – durch Jesus ist es Licht geworden. Und dieses Licht gibt uns einen Vorgeschmack, eine Ahnung von dem Licht, das uns eines Tages ganz erfüllen wird. 

Und das wünsche ich uns, heute, hier: Dass wir Erfahrungen machen, die uns eine andere Perspektive geben, auf uns und auf die Welt. Erfahrungen, die uns die Gewissheit geben, dass Gott an unserer Seite steht. Erfahrungen, die uns tragen. 

Amen.