Bindung an den Gott Israels
Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Naaman, der Armeechef des Königs von Aram, war ein großer Mann in den Augen seines Herrn, hatte großes Ansehen; denn durch ihn gab der HERR den Aramäern Sieg. Und der Mann, ein Held, wurde aussätzig. 

Als einst die Aramäer in Streifzügen ausgezogen waren, hatten sie ein kleines Mädchen aus dem Land Israel gefangen; die diente vor der Frau Naamans. Sie sprach zu ihrer Gebieterin: Ach, dass mein Herr wäre vor dem Propheten in Samaria! Dann würde der ihn von seinem Aussatz befreien. 

Da ging Naaman hin und sagte es seinem Herrn und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Land Israel geredet. Der König von Aram sprach: So geh hin, ich schicke dem König von Israel einen Brief. Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Goldgulden und zehn Gewänder und kam zum König von Israel mit einem Brief, der lautete: Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so habe ich meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist.

Es geschah: als der König von Israel den Brief las, zerriss er seine Kleider und sprach: Bin ich ein Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte? Denn der schickt ja zu mir, einen Mann von seinem Aussatz zu befreien! Erkennt und seht, wie er Streit mit mir sucht! 

Es geschah: als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Er komme zu mir und erkenne, dass ein Prophet in Israel ist. So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und bade siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden. 

Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und hertreten und den Namen des HERRN, seines Gottes, anrufen und seine Hand hin zu dem Ort schwingen und mich so von dem Aussatz befreien. Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, kann ich nicht in ihnen baden, dass ich rein werde? Und er wandte sich und zog weg im Zorn. 

Da traten seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: Mein Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, hättest du es nicht getan? Um wie viel mehr, wenn er zu dir sagt: Bade, so wirst du rein! Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben und er wurde rein. Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes mit allen seinen Leuten. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen, außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht. Elisa aber sprach: So wahr der HERR lebt, vor dem ich stehe: Ich nehme es nicht. Wie er auch in ihn drang es anzunehmen, er weigerte sich.

Da sprach Naaman: Wenn nicht, so möge doch deinem Knecht mitgegeben werden von dieser Erde eine Last, so viel zwei Maultiere tragen! Denn dein Knecht wird nicht mehr andern Göttern Schlachtopfern und Brandopfer darbringen, als nur dem HERRN. Nur das möge der HERR deinem Knecht verzeihen: Wenn mein Herr in das Haus Rimmons geht, um sich dort niederzuwerfen, und er stützt sich auf meine Hand, dann werfe auch ich mich nieder im Haus Rimmons, wenn er sich in Rimmons Haus niederwirft. Das möge der HERR deinem Knecht verzeihen. Er sprach zu ihm: Geh in Frieden!

Dass Menschen aus ganz anderen Völkern vom Gott eines anderen Volkes, ausgerechnet vom Gott des kleinen Volkes Israel sich was sagen lassen, auf ihn hoffen, ihm vertrauen, das ist immer wieder ein Wunder. Unsere Geschichte zeigt, dass sich das nicht von selbst versteht; dass verschiedene Hindernisse überwunden werden müssen, ehe das geschieht. Da gibt es in Damaskus, im auch damals schon Israel gegenüber feindlichen Ausland, einen mächtigen, militärisch erfolgreichen Mann. Doch der wird krank, aussätzig – und das bedeutet: er wird nicht nur untauglich für seinen Dienst, sondern – das deutsche Wort Aussatz deutet es an – völlig isoliert, nicht gesellschaftsfähig.

Da gibt es aber als Sklavin seiner Frau in seinem Haus ein Mädchen aus dem Land Israel. Seine Soldaten hatten es bei einem ihrer erfolgreichen Feldzüge einfach mitgenommen – als Kriegsbeute wie Vieh oder Wertgegenstände. Dieses Mädchen weiß Rat und erstaunlicherweise tut sie ihn auch kund, hat Mitleid mit ihrem Sklavenhalter, sucht der Stadt Bestes, in die sie weggeführt wurde, wie es Jahrhunderte später Jeremia seinen verschleppten Landsleuten empfahl. Das Mädchen aus Israel ist in einer Person Israel im Exil. Sie weiß, in Israel gibt es einen Propheten, einen Mann Gottes, der kann helfen, heilen, befreien. Vermutlich hat sie schon in ihren jungen Jahren von den spektakulären Aktionen des Propheten Elisa gehört – unter all den seltsamen Propheten Israels eine besonders bizarre Gestalt. Vor allem aber traut sie diesem Mann Gottes in Israel etwas zu, weil sie – trotz ihrer Gefangenschaft – dem Gott Israels traut.

Erstaunlich auch, dass die Herrin auf die Sklavin hört. Und vielleicht noch erstaunlicher, dass dieser mächtige Mann auf seine Frau hört. Wir machtgläubigen, immer wieder von großen oder starken Männern faszinierten Heiden neigen ja dazu, dem Blick von oben, dem Blick der Herrschenden auch Überblick, Einsicht ins Große und Ganze zuzutrauen. Oder, wie Wolfgang Neuss spottete, wir hoffen noch immer im Kopf irgendeines Politikers einen Strohhalm zu fin­den, an den wir uns klammern können. Die Erzählung deutet bereits hier zu Beginn eine Umkehrung dieser Blickrichtung an: Durchblick und Einblick bietet der Blick von unten.

Selbstverständlich teilt der König von Aram diese Einsicht nicht – wie könnte er. Wenn in Israel tatsächlich diese Therapiemöglichkeiten bestehen, dann wendet man sich doch am besten an den Chef, also den König von Israel. Sollten für die angestrebte Prozedur irgendwelche religiöse Instanzen und Funktionäre erforderlich sein, dann wird das ja der Kollege wissen und veranlassen. Mit einem staatsunabhängigen Gott und also auch mit einem Mann Gottes, einem Propheten, der dem König von Israel nicht untertan ist, rechnet der König von Aram nicht – wie er überhaupt mit keiner Besonderheit Israels rechnet, zumal es sich ja als militärisch unterlegen erwiesen hat.

Schlimmer: auch der König von Israel weiß offenbar nicht, was in Israel, wenn das verschleppte Mädchen typisch ist, jedes Kind weiß. Wieder zeigt sich, dass der Blick von oben nicht unbedingt mit Durchblick gesegnet ist. Der König versteht den Brief des Königs als Provokation. 

Der verlangt von ihm etwas, was er ganz offenkundig nicht kann, und das kann nur bedeuten: er sucht Streit. Bin ich denn Gott?, fragt er rhetorisch, setzt die Antwort als selbstverständlich voraus, dass er das natürlich nicht ist. Doch diese Antwort hätte ja der Anfang einer Einsicht sein, hätte ja zu der Frage führen können, wer denn, jedenfalls in Israel, Gott ist und wie und vielleicht auch durch wen dessen Hilfe zu erlangen wäre. Aber der König sieht nur politische Intrige zwischen König und König, befürchtet, dass der andere womöglich Vorwände sucht für einen weiteren Krieg.

Elisa, der Mann Gottes, hört vom Zornesausbruch des Königs. Er ist für ihn eine Gelegenheit für eine theologisch politische Demonstration. Er will dem ausländischen Staatsgast, er will aber wohl auch dem König von Israel zeigen, dass noch ein Prophet ist in Israel. Dem mächtigen Feldherrn, trotz seiner Krankheit noch auf hohem Ross, wird eine Lektion erteilt. Sie besteht zunächst darin, dass er diesen Wundermann gar nicht zu Gesicht bekommt, nur ein Bote ihm bestellt, was er tun soll. Vor Zorn schnaubt Naaman mit seinen Rossen um die Wette. Das ist nicht nur die Kränkung eines reichen Privatpatienten, der von der Sprechstundenhilfe abgefertigt wird. Er hat auch recht genaue Vorstellungen davon, was religiös eindrucksvoll ist – und was nicht: der Prophet sollte den Namen des HERRN, seines Gottes anrufen, seine Hand schwingen usw. Und dann ausgerechnet der Jordan, dieses kümmerliche Rinnsal. Da gibt es doch zuhause in Damaskus ganz andere Ströme: mächtiger, prächtiger. Die ganze Geschichte ist ihm einfach zu klein, zu unscheinbar, nicht eindrucksvoll genug.

Wieder ist es der Blick von unten, der ihm auf die Sprünge hilft. Es sind seine Diener, die hellsichtig den Nagel auf den Kopf treffen. Seltsamerweise bedienen sie sich dabei erfolgreich einer rabbinischen Argumentationsfigur, obwohl doch auch sie Fremde sind: dem Schluss vom Leichten aufs Schwere, kal wa chomer. Die kennen wir auch vom Rabbi Jesus: wenn ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, um wieviel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten? Inhaltlich kommen sie freilich vom Schweren aufs Leichte: Wenn der Prophet dir etwas Großes, also auch Großartiges aufgetragen hätte, argumentieren sie, dann hättest du es bereitwillig getan. Um wieviel mehr, wenn er nun bloß sagt: geh baden. Sie haben erkannt, dass ihr Herr so sehr nach Höherem strebt, gesellschaftlich-politisch und religiös, dass es ihm geradezu leichter fällt, etwas Schweres zu tun. Und der Herr hört auf seine Diener, ist bereit zum Abstieg.

Sein Untertauchen im Jordan macht ihn nicht nur heil und rein – wie neugeboren. Er gewinnt auch blitzartig lauter neue Einsichten – Einsichten, die die Kirche Jesu Christi in Jahrhunderten nicht gewonnen hat, jedenfalls nicht auf Dauer. Er erkennt, dass nur in Israel Gott zu finden ist. Er erkennt, dass dieser Gott sich nicht nur an ein bestimmtes Volk gebunden hat, sondern auch an ein bestimmtes Land, will darum auch etwas von seiner Erde, also ein kleines bisschen Eretz Israel mitnehmen, um künftig nicht mehr nur im eigenen Land, sondern auch in Israel verwurzelt zu sein. Zwei Maultierlasten Land Israel sollen seinem Glauben Boden unter den Füßen, eine materielle Grundlage geben. Und er erkennt, dass ihn diese Bindung an Israel in Konflikte bringen wird mit den heiligsten Gütern seiner eigenen Nation.

Diese Geschichte wird uns Christen aus den Völkern zum Vorbild erzählt, Naamans Untertauchen im Jordan ist ein Bild für die christliche Taufe. Ein Mensch aus der Völkerwelt, der Christ wird und sich taufen lässt, hat erkannt, dass nur in Israel Gott zu finden ist, und tritt darum ein in die Bundesgeschichte zwischen diesem Gott und seinem Volk, kann so auch in Konflikte geraten zwischen seiner Loyalität gegenüber dem eigenen Volk und Staat und seiner Bindung an Israel.

Freilich hat die christliche Kirche diese Bindung an Israel und seine besondere Geschichte mit Gott nicht durchgehalten. Schon bald hat sie sich geschämt der provinziellen Herkunft ihres Evangeliums, hat sich möglichst weit von Israel distanziert und versucht abzustreifen und abzuschütteln, was jüdisch klang. So wollte sie universal, allgemeinverständlich, weltläufig werden – und konnte bald selbst nicht mehr verstehen, wie eine so kleine, weltgeschichtlich belanglose Geschichte wichtig sein könnte für alle Welt. Sie hat dabei auch den Blick von unten verloren, nach Höherem gestrebt: geistig, religiös und gesellschaftlich-politisch.

Der große Alttestamentler Gerhard von Rad schreibt zu unserer Geschichte: „In dem theologischen Gespräch zwischen dem biblischen Glauben und dem griechischen Geist, das im Abendland immer neu geführt werden muss, wird gerade jene Maultierlast Erde eine Rolle zu spielen haben.“ Naamans Erdtransport ist eine Demonstration für den Materialismus Gottes, Protest gegen unseren Idealismus, unsere Allerweltsreligion und -moral, unseren Gott ohne Eigenschaften, ohne Geschichte, ohne Ziele, ohne Vorlieben und Abneigungen; Protest gegen eine Kirche, die sich ihrer Bindung an Israel schämt.

Und wir hören diesen Protest in einer Zeit, in der wir diese Bindung erneut zu bewähren haben. Juden in aller Welt werden beschimpft, bekämpft und bedroht. Viele fühlen sich allein-, fühlen sich im Stich gelassen. Auch unter uns Christen gibt es Menschen, die es für die Lösung der vielen Konflikte und Probleme im Nahen und Mittleren Osten halten, dass das Land zwischen Jordan und Mittelmeer judenfrei wird. Sie haben vergessen, haben verdrängt, was Naaman so rasch verstanden hatte: eine Bindung an den Gott Israels bedeutet eine Bindung auch an das Volk und das Land Israel.

In der Grundordnung unserer Kirche heißt es: „Sie (die Kirche) weiß sich zur Anteilnahme am Weg des jüdischen Volkes verpflichtet.“ Anteilnahme – das ist ein gutes Wort, ein guter Vorsatz. Anteilnahme – das ist eine Sache von Herz und Mund und Tat und Leben. Und zudem eine Sache der Ohren. Die Naaman-Geschichte erinnert uns an unsere Taufe und damit auch an diese Verpflichtung.

Amen.