Heilige Orte
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Jakob aber zog weg von Beer-Scheba und ging nach Charan.

11Und er gelangte an einen Ort und blieb dort über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes, legte ihn unter seinen Kopf, und an jener Stelle legte er sich schlafen. 12Da hatte er einen Traum: Sieh, da stand eine Treppe auf der Erde, und ihre Spitze reichte bis an den Himmel. Und sieh, Boten Gottes stiegen auf ihr hinan und herab.

13Und sieh, der Herr stand vor ihm und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, dir und deinen Nachkommen will ich es geben.

14Und deine Nachkommen werden sein wie der Staub der Erde, und du wirst dich ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen werden Segen erlangen alle Sippen der Erde.

15Und sieh, ich bin mit dir und behüte dich, wohin du auch gehst, und ich werde dich in dieses Land zurückbringen. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich getan, was ich dir gesagt habe.

16Da erwachte Jakob aus seinem Schlaf und sprach: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht. 17Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar ist diese Stätte! Sie ist nichts Geringeres als das Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels.

18Am andern Morgen früh nahm Jakob den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, richtete ihn als Mazzebe auf und goss Öl darauf.

19Und er nannte jenen Ort Bet-El; früher aber hiess die Stadt Lus.

20Dann tat Jakob ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich auf diesem Weg, den ich jetzt gehe, behütet, wenn er mir Brot zu essen und Kleider anzuziehen gibt 21und wenn ich wohlbehalten in das Haus meines Vaters zurückkehre, so soll der Herr mein Gott sein.

22Und dieser Stein, den ich als Mazzebe aufgerichtet habe, soll ein Gotteshaus werden, und alles, was du mir geben wirst, will ich dir getreulich verzehnten.

Dann machte sich Jakob auf den Weg und ging in das Land der Söhne des Ostens.

 

Wo wohnt Gott? Wo ist er zu finden? Das ist ja keine unwichtige Frage, aber eine Frage, auf die es viele verschiedene Antworten geben kann.

Die Geschichte, die wir eben gehört haben, gibt einige Antworten auf diese Frage. Wir sehen sie uns an.

Wo wohnt Gott? Jakob richtet einen Stein auf, der soll ein Gotteshaus werden. Gott wohnt in einem Haus. Das ist dann das Haus Gottes oder Gotteshaus. Gotteshaus ist bei uns eine andere, irgendwie neutraler klingende Bezeichnung für eine Kirche. Auch eine Synagoge oder eine Moschee könnte man als Gotteshaus bezeichnen.

Gotteshäuser sind allerdings in unserer Vorstellung mehr Versammlungsräume der Gläubigen einer Religion als Häuser, in denen Gott wohnt, also in besonderer Weise präsent ist.

Jakob nennt den Ort seines Traumes, an dem ein Gotteshaus entstehen soll, Bethel, das heißt nichts anderes als Gotteshaus. Es gab in Bethel ein Heiligtum, einen Tempel, in dem eine Gottheit verehrt wurde. In Tempeln glaubte man die Gottheit gegenwärtig, Tempel waren echte Gotteshäuser, Wohnsitze der ihnen geweihten Götter.

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Gottheiten gab es aber schon, bevor man ihnen Häuser bauen konnte. Da wohnte er noch in Steinen, in Bäumen, in Felsen, in feuerspeienden Bergen. In allen Auffälligkeiten der Natur.

Religion und heilige Orte, das gehört zusammen. Alle Religionen haben heilige Orte, Orte der besonderen Präsenz des Göttlichen. Bevor man der Göttlichkeit Tempel bauen konnte, wohnte die Gottheit in dem, was von Natur aus da war.

Der Stein, auf dem Jakob schlief, war wohl vorher schon ein Mazzebe, ein Steinmal, das einen heiligen Ort markierte.

Wo wohnt Gott? Wir haben also aus der Geschichte von Jakobs Traum schon zwei Antworten: Gott wohnt in einem Stein (oder einen Baum oder einen Berg) und er wohnt in einem Haus aus Stein, einem Tempel, einem gemauerten Heiligtum, einem Gotteshaus.

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Es gibt in unserer Erzählung noch weitere Antworten auf diese Frage. Gott wohnt dort, wo der Himmel offen ist.

Jakob sieht eine Leiter in den Himmel ragen oder eine Treppe, die in den Himmel hinaufführt. Auf dieser Treppe oder Leiter ist reger Verkehr: Die Boten Gottes – in der Lutherbibel sind das Engel – steigen auf und ab. Jakob deutet diese Erscheinung als Haus Gottes und als Tor des Himmels.

Bethel also ist ein heiliger Ort, weil man dort eine Verbindung in den Himmel, einen Draht zu Gott bekommt.

Es gibt ja offenbar besondere Orte, magische Orte, Orte die was mit einem machen. Jedenfalls für Menschen, die dafür ein Gespür haben. Ich gehöre nicht zu denen. Natürlich kann ich sagen: „Hier ist es schön“ oder „Hier ist es nicht schön“. Aber ich spüre keine Aura oder good vibrations.

Was ein Tor des Himmels ist, kann man aber in dieser Erzählung noch präziser fassen. Es ist nicht nur der Ort, an dem man besondere Gefühle hat oder Schwingungen spürt. Es ist der Ort, an dem man Träume hat. Das könnte eine weitere Antwort auf unsere Frage sein: Gott wohnt in unseren Träumen. Wenn unsere Sinne und Gedanken nicht mehr unserem Bewusstsein und Willen unterworfen sind, wenn sie frei sind, kann Gott sich in uns einspielen. Träume und Visionen gehören seit jeher zum Offenbarungswerkzeugkasten der Religionen.

Nun hält sich die Erzählung bei diesem Punkt gar nicht lange auf und das ist bezeichnend. Eigentlich ist das ja eine Sensation: Jakob hat einen Traum und sieht Gott vor sich stehen. Der Erzähler dieser Geschichte könnte dabei verweilen und uns schildern, wie Gott aussieht, wie er da vor Jakob steht, was er tut usw. Doch daran ist der Erzähler gar nicht interessiert. Es gibt viel uralt Religiöses und manches Magische in der hebräischen Bibel, aber eines gibt es nirgendwo: Eine Beschreibung des Aussehens Gottes. Es gibt Menschen, die sehen Gott, aber sie erzählen uns nicht, wie er aussieht.

Das Entscheidende am Gott der Bibel ist nie sein Aussehen. Das Entscheidende sind immer seine Worte. Nicht sein Aussehen macht die Göttlichkeit des Gottes Israels aus, sondern sein Sprechen. Kommunikation statt Ästhetik. Die Visionen, Schauungen Gottes, die wir hier und da in der Bibel finden, geben wenig zu sehen, aber viel zu hören. Es sind mehr Auditionen, Hörungen.

Wo wohnt Gott? Er wohnt in Naturerscheinungen. Er wohnt in Tempeln. Er wohnt in Stelen. Er wohnt dort, wo Menschen mit ihm in Verbindung treten können. Er wohnt dort, wo Menschen Visionen hatten.

Alle diese Antworten finden sich in der Bibel und auch in unserer Erzählung. Aber das ist eigentlich nicht das, was diese Erzählung sagen will. Sie gibt viele Antworten auf die Frage: Wo wohnt Gott, und will doch nur eine gelten lassen. Gott ist dort, wo er spricht. Gott ist dort, wo du ihn hörst. Gott ist dort, wo das, was er gesagt hat, verstanden wurde, wo es angekommen ist. Wo einer wie Jakob seinen Tag wieder beginnen und seinen Weg wieder gehen konnte.

Siehe, ich bin mit dir und behüte dich, wohin du auch gehst, und ich werde dich in dieses Land zurückbringen. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich getan, was ich dir gesagt habe. Das ist es, was Jakob gehört und verstanden hat, deshalb sagt er: Hier ist Gottes Haus, hier ist das Tor des Himmels. Er hat das Tor des Himmels gefunden. Aber dort bleibt er nicht. Er geht weiter. Er zieht seine Wege. Man hört nicht Gott, um zu bleiben und zu sterben. Man hört Gott, um weiterzugehen und zu leben.

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Wo wohnt Gott? In unseren Gotteshäusern? Sind unsere Kirchen heilige Orte? Die reformierten Kirchen jedenfalls wollen es nicht sein. Nicht als solche, nicht das Gebäude, nicht die Steine, nicht der Raum. Gott macht den Ort heilig, auch den reformierten Ort, aber nur, wenn er spricht und wenn er gehört wird. Nicht, wenn er schweigt.

Wenn also kein Gottesdienst in reformierten Kirchen stattfindet, kann man in ihnen alles Mögliche machen: Musik hören, diskutieren, feiern, tanzen.

Bethel ist ein heiliger Ort, weil Gott zu Jakob gesprochen hat, ihm seine Verheißungen gab und ihn stärkte und Jakob ihm darauf mit einem Gelübde antwortete. Dieser Ort soll heilig bleiben. Jakob stellt den Stein seines Traumes auf, goss Öl darüber, machte eine Stele, eine Mazzebe daraus, und gab dem Ort einen neuen Namen: Bethel. Es sollte dort doch etwas bleiben, ein Eindruck von Heiligkeit, eine heilige Nachhaltigkeit. Die Orte, an denen sich Gott einmal geoffenbart hat, bleiben heilige Orte, bleiben Stätten der Anbetung. Reformiert ist das nicht.

Zu fragen wäre also: Gibt es nicht doch so eine Art heiliger Nachhaltigkeit? Bleibt nicht etwas haften an dem Ort, an dem Gott zu mir gesprochen hat, an dem ich Mut und Zuversicht gewonnen habe, Glaube und Hoffnung und Trost? Tut es nicht doch irgendwie in der Seele weg, wenn an diesem Ort dann gefeiert und getanzt wird oder eine Werkstatt einzieht oder ein Getränkemarkt?

Wir werden zum Ende dieses Jahres unseren Kirchsaal in Halensee aufgeben, weil wir reformiert pragmatisch denken: Wir brauchen nicht zwei Gotteshäuser, d.h. wir brauchen nicht zwei Versammlungsstätten. Wer aber nicht vergessen kann, dass er in diesem nüchternen, bewusst unsakralen Raum in Halensee Glaube und Trost, Hoffnung und Zuversicht von Gott gewonnen hat, der wird vielleicht doch bedauern, dass dieses Gotteshaus kein heiliger Ort mehr sein soll.

Aber auch das Heiligtum von Bethel wurde irgendwann vergessen. Die Erinnerung daran findet sich nur noch in Geschichten wie dieser von Jakobs Traum und also in Büchern, nicht mehr in Steinen. Der Tempel des Gottes Israels stand nicht mehr in Bethel, sondern in Jerusalem.

Und auch der wurde zerstört und wieder aufgebaut und wieder zerstört. Auch den gibt es jetzt längst nicht mehr. Aber der Glaube an den Gott Israels und den Vater Jesu Christi, den gibt es noch. Und den Glauben, dass Gott dort wohnt, wo ich ihn höre und etwas begreife und ergriffen bin, so dass ich meinen Tag und meine Woche und meinen Weg gestärkt und ermutig weitergehen kann. Amen.