Er geht vor die Tür. In die tiefschwarze Nacht. Jeden Abend geht er noch vor die Tür, bevor er sich schlafen legt. Sonst kann er nicht schlafen. Wegen der Sorgen, die nagen. Die Sorgen, die immer größer werden, je älter er wird. Die Sorge darum, was wird. Vor dem Haus ist es so dunkel. Er legt den Kopf in den Nacken. Er schaut in den Himmel. Die Sterne sind da. Wie jeden Abend. Er fängt an zu zählen. Wie jeden Abend. Er weiß, dass er es nicht schaffen wird. Er kommt nicht sehr weit mit dem Sternezählen. Schon bald fängt er wieder an zu glauben. Wie jeden Abend. Beim Sternezählen in der Nacht kommt der Glaube wieder, den die Sorge am Tag weggebissen hat. Er geht ins Zelt. Jetzt wird er schlafen können. Leise sagt er: „Bis morgen, ihr ungezählten Sterne.“
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In der Bibel, ziemlich an ihrem Anfang, liest sich diese Geschichte so:
Das Wort des Herrn erging an Abram in einer Schauung: Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild. Dein Lohn wird sehr groß sein. 2Abram aber sprach: Herr, Herr, was willst du mir geben, da ich kinderlos dahingehe und Elieser aus Damaskus Erbe meines Hauses wird? 3Und Abram sprach: Du hast mir keinen Nachkommen gegeben; so wird mein Haussklave mich beerben. 4Aber sieh, es erging an ihn das Wort des Herrn: Nicht dieser wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn, er wird dein Erbe sein. 5Und er führte ihn nach draußen und sprach: Blicke auf zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So werden deine Nachkommen sein. 6Und er glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an.
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Nun also wissen wir, warum in Berlin so wenig geglaubt wird. Weiß du, wieviel Sternlein stehen im Himmel über Berlin? Vier oder fünf, mehr siehst du nicht, schnell gezählt sind die. Der Himmel über Berlin – er ist zu hell, er ist zu klar, er ist zu aufgeklärt. Da ist man schnell fertig mit dem Sternezählen. Und wer damit schnell fertig ist, muss wohl auch mit dem Glauben schnell fertig sein.
Was hat Sternezählen mit dem Glauben zu tun? Es muss ja da einen Zusammenhang geben. Abram solle in den Himmel sehen und die Sterne zählen, wenn er könne. Und dann wird uns berichtet, Abram glaubte. (Da hieß Abraham noch Abram, erst später wird er von Gott in Abraham umbenannt.)
Das geht offenbar sehr schnell bei Abram. Habt ihr nicht auch das Gefühl, dass da was fehlt? Eine Reaktion von Abram. Eine Antwort. Entweder: „Oh, nein, ich kann sie nicht zählen, es sind zu viele!“ Oder: „Es sind 6728“. Aber die Geschichte schweigt an dieser Stelle. Vielleicht, weil sie uns die Reaktion Abrams absichtlich verschweigt oder weil Abram schwieg, sprachlos wurde, wie er jeden Abend sprachlos wurde, wenn er vor sein Zelt trat und in den Himmel blickte.
Was also hat Sternezählen mit dem Glauben zu tun? Wir müssen annehmen, dass Abram die Sterne beim Blick in den Himmel nicht zählen konnte und dass ihm dieses Nichtkönnen half, zu glauben.
Die Sterne im Himmel über Berlin lassen sich leicht zählen. Vier oder fünf – mehr siehst du nicht. Aber in der Uckermark sieht der Himmel schon anders aus. Und trotzdem weiß ich, wie viel Sternlein stehen dort am blauen Himmelszelt. Etwa 6000. Ich habe sie nicht gezählt. Ich habe es gegoogelt. Etwa 6000 Sterne lassen sich bei klarem Himmel mit bloßem Auge erkennen. Und ich weiß, wie viele Sterne es überhaupt gibt. Etwa 700 Trilliarden, also eine sieben mit 23 Nullen. Niemand hat sie gezählt, niemand außer Gott. Einer aber muss es hochgerechnet haben.
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Wir leben in anderen Zeiten als Abraham. Wie leben nicht mehr im Zeitalter des Zählens und des Erzählens. Wir leben im Zeitalter des Hochrechnens und der Datenverarbeitung. Dabei geraten die Zahlen und die Daten hinter den Horizont des menschlich Vorstellbaren. Die Zahlen sind unvorstellbar geworden und die Summe der Daten ebenso. Weißt du, wie viel Bits es gibt? Bestimmt schon mehr als Sterne.
Die Bits, die Hochrechnungen und Datenverarbeitung bestimmen mehr und mehr unser Leben. Allein die präzisen Wettervorhersagen, die heute möglich sind – du guckst in dein Handy und kannst sagen, dass es in 23 Minuten am Kudamm 12 Minuten regnet, aber am Alex bleibt’s trocken. Alles Folge einer ungeheuren Datenverarbeitung. Wir können immer präziser die klimatischen Folgen unserer fossilen Energiegewinnung kalkulieren. Wir können unsere Zukunft berechnen. Die Wahrscheinlichkeit des Herzinfarkts, wenn du weiter so viel Fett frisst, und des Lungenkrebses, wenn du weiter so viel rauchst.
Zukunft, Leben, Sinn – alles scheint eine Frage der Datenverarbeitung geworden zu sein. Auch Glaube, auch Liebe, auch Hoffnung?
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Neulich habe ich per Mail eine kuriose Anfrage erhalten. Von einer Wissenschaftlerin. Ob ich die linguistische Analyse meiner in einem online Predigtportal veröffentlichten Predigen erlaube. Man will in einem Sonderforschungsprojekt den Metaphern in der Religion auf die Spur kommen – mit computerlinguistischen Methoden. Metaphern sind sprachliche Übertragungen. Ein Wort kriegt eine übertragene Bedeutung, z.B. „Himmel“ für Jenseits oder Vater oder Mutter für Gott. Da es die Religion überwiegend mit dem zu tun hat, was jenseits der vorhandenen Welt liegt, artikuliert sie sich überwiegend in Metaphern. Nun quetschen sie also den Heiligen Geist in die Mühle der quantifizierenden Wissenschaft. (Mühle ist in dem Fall eine Metapher für Computer). Sterne zählen, Wörter zählen, Datenverarbeitung. Im Grunde gar nichts Neues. Längst versucht man, dem Glauben auch damit zu Leibe zu rücken. Man zählt die Synapsen im Hirn bei gläubigen und bei ungläubigen Menschen. Und vergleicht. Die Gläubigen haben bestimmt mehr. Wegen der großen Übertragungsleistung mit den Metaphern.
Weißt du, wie viel Synapsen funken in Abrahams Hirn? Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl. Die Zahl der Synapsen im Hirn? Ich habe sie nicht gezählt, aber gegoogelt. 100 Billionen. Eine eins mit 18 Nullen. Die Sterne am Himmel haben deutlich mehr Nullen. Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl.
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Was hat Sternezählen mit dem Glauben zu tun? Abram blickte in den Himmel und konnte die Sterne nicht zählen. Wir blicken in den Himmel und zählen: die Sterne und die Galaxien, die Moleküle und die Synapsen, die Wahrscheinlichkeiten beim Tun und die Metaphern beim Predigen. Und aus diesen Daten machen wir was. Wir leiten was daraus ab und tun was und ändern was und glauben hier etwas anders, hoffen dort etwas gründlicher und lieben dann etwas systematischer. Wir zählen uns die Welt und unser Leben zurecht, aber er-zählen, erzählen, das tun wir immer weniger. Von mir erzählen und meinem Glauben und Hoffen und Liebe, und von Gott erzählen, und seinem Glauben und Hoffen und Lieben.
Es gibt noch das, was nicht quantifizierbar ist. Es gibt noch das, was nicht gezählt werden kann. Es gibt noch das, was erzählt werden muss. Es gibt noch das, was, obwohl es nicht hochgerechnet werden kann, angerechnet wird. Von Gott als Glaube. 6Und Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an. Aber es wird immer schwere, dem auf der Spur zu bleiben. Versuchen wir es!
Die Spur führt zum Konkreten. Der Glaube bezieht sich auf Konkretes. Ein allgemeiner Glaube ist so unnütz wie eine explodierende Supernova hunderttausend Lichtjahre hinterm Mond.
Der Glaube des Abraham war nicht ein allgemeiner Glaube. Es ging hier um etwas ganz Konkretes, sehr Handfestes. Sara und er hatten keine Kinder, also keine Nachkommen. Das ist eine ganz konkrete Sorge.
Gott kannte diese Sorge des Abraham. Der muss es ihm wohl erzählt haben. Erzähl Gott, was dich drückt. Erzähl’s ihm!
Halte dich nicht mit allgemeinen Fragen auf, ob es Gott gibt, ob er hört, ob er Zeit hat, ob’s ihn interessiert. Das sind ja doch nur Fragen der Datenverarbeitung. Was sich nicht mehr zählen lässt, musst du erzählen. Erzähl Gott, was dich drückt. Dann interessiert er sich, dann hat er Zeit, dann hört er’s, dann gibt’s ihn.
Zu Abram sagte er: Geh vors Zelt und guck in den Himmel. Kannst du die Sterne zählen? Und zu dir sagt er vielleicht: Geh mal wieder in die Kirche. Oder geh zum Arzt. Oder hau bei deinem Chef auf den Tisch. Oder geh mal wieder ins Kino oder mach Sport oder küss mal wieder deine Frau. Woher soll ich wissen, was er dir sagen wird, ich weiß ja nicht, was du ihm erzählst. So konkret wie deine Sorgen, so konkret sind auch Gottes antworten.
Abram jedenfalls sagte er: So viele werden deine Nachkommen sein. So viele wie die Sterne am Himmel. Und so ist es ja gekommen. Und noch viel mehr, denn das Volk Israel, das sind doch mehr als 6000. Und doch auch lange nicht 700 Trilliarden. Selbst dann nicht, wenn man zu den Juden auch die Christen und die Muslime als Nachkommen Abrahams zählt.
700 Trilliarden, eine Zahl mit 24, also 2 mal 12 Ziffern und einer sieben vorne. Ob Gott selbst weiß, wie viele Sterne es gibt? Ob er sie gezählt hat, wenigstens er sie gezählt hat? Ja, hat er. Denn so heißt es in dem Lied, das wir jetzt alle singen. Und außerdem kann so eine Zahl ja nur von Gott kommen.
Amen.
1. Weißt du, wie viel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl,
an der ganzen großen Zahl.
2. Weißt du, wie viel Mücklein spielen
in der heißen Sonnenglut,
wie viel Fischlein auch sich kühlen
in der hellen Wasserflut?
Gott der Herr rief sie mit Namen,
dass sie all ins Leben kamen,
dass sie nun so fröhlich sind,
dass sie nun so fröhlich sind.
3. Weißt du, wie viel Kinder frühe
stehn aus ihrem Bettlein auf,
dass sie ohne Sorg und Mühe
fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
seine Lust, sein Wohlgefallen;
kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.
(Text: Wilhelm Hey 1837
Melodie: Volkslied um 1818)