Israelreise - Es hätte gut gehen können
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

ich will heute nach Israel reisen und ganz an den Anfang reisen. An den Punkt, als Israel begonnen hat. 

Wir reisen nicht gleich dorthin, sondern beginnen die Reise irgendwo im Nirgendwo, im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien, dort, wo die Kurden wohnen, die weder das türkische noch das syrische Regime dort wohnen lassen wollen. Wir beginnen die Reise in Harran, in einer Zeit lange vor unserer Zeit, also in der Vorzeit, die stets grau genannt wird, weil sich noch kaum Konturen abzeichnen und die Jahre noch nicht einzeln gezählt werden und vieles noch nicht so zählt, wie es heute zählt. Doch bald schon gewinnt das Zeitalter Farbe, bald schon soll einer zählen, was nicht zu zählen ist. In dieser grauen Vorzeit also beginnt Israel mit dem Satz, der dort oben, in diesem immer schon heiklen Grenzgebiet gesprochen wurde: Der Herr sprach zu Abram. Israel beginnt mit einem Migrationsaufruf Gottes. 

1Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. 2Ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du wirst ein Segen sein. (Gen 12,1-2)

Abram war schon 75 Jahre alt und war reich. Er hatte keinen Grund, ein Flüchtling zu werden. Oder zählt ein Geheiß Gottes zu den Fluchtursachen, zu den anerkennbaren Asylgründen? 

Ob Abraham ahnte, dass damit eine Geschichte beginnt, die bis heute andauert? Ob er ahnte, dass es eine Geschichte würde, die länger dauert als jede andere Geschichte in der Geschichte? Ob er ahnte, dass es eine Geschichte würde, die andere immer wieder zu beenden versuchten, die aber dann doch immer weitergegangen ist. Wie durch ein Wunder. Eine Geschichte, die in die Welt gekommen ist, um zu bleiben ist, die aber, als sie anfing, hier mit diesem ersten Wort eines jungen Gottes an einen alten Mann, noch nicht ihren Ort in der Welt gefunden hatte. Damit also beginnt sie nun, dass sie ihren Ort in der Welt finden muss. 

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Abraham ging fort aus Charan. Er ging nach Süden, mit seinen Herden, mit seinen Leuten, mit seinem Besitz, mit seiner Frau, mit seinem Neffen. Nach Kanaan. 

Und Abram zog durch das Land bis zur Stätte von Schechem, bis zur Orakel-Terebinthe. Damals waren die Kanaaniter im Land. 7Da erschien der Herr dem Abram und sprach: Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben. (Gen 12,6-7)

Das Land war nicht leer. Da wohnten schon Leute. Abram baute Gott einen Altar, zog weiter Richtung Bethel, ein bisschen nach Osten ins Westjordanland, ein bisschen nach Westen zur Küste hin. Er baute Gott noch einen Altar und zog weiter nach Süden, an Gaza vorbei Richtung Beerscheba. 

Dann kam eine Hungersnot und er wich nach Ägypten aus. Jetzt wurde Abraham doch ein echter Flüchtling. Einer, der vor der Not floh. 

Später kam er dann wieder aus Ägypten herauf. 

Dieses Heraufziehen aus Ägypten gehört irgendwie zu Israel dazu. Es ist ihr Leitmotiv. Abraham, Joseph, Jesus. Die Not trieb sie nach Ägypten. Als die Not vorüber war, kamen sie wieder heraufgezogen. Israel kann nur im Herauf- und Herauskommen aus Ägypten Israel werden. 

Und so geht die Geschichte mit Abraham weiter:

1So zog Abram aus Ägypten hinauf ins Südland, er mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und mit ihm auch Lot. 2Abram aber war sehr reich an Vieh, an Silber und an Gold. 3Und er zog weiter von Lagerplatz zu Lagerplatz, aus dem Südland bis nach Bet-El, bis zu der Stätte, an der zu Anfang sein Zelt gestanden hatte, zwischen Bet-El und Ai, 4an die Stätte des Altars, den er früher dort errichtet hatte. Und dort rief Abram den Namen des Herrn an.

Jetzt ruft auch Abraham den Namen des Herrn an. Die Geschichte Israels beginnt weit ab von Israel irgendwo an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien damit, dass Gott den Namen eines alten Mannes anruft und ihn auf Expedition schickt. Nachdem er das Land von allen Richtungen erkundet und umkreist hat, ruft er nun seinerseits den Namen des Gottes an, der ihn gehen hieß. Wie ein Rückruf nach langer Reise: „Ich bin angekommen“. 

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Und wir lesen weiter:

5Auch Lot, der mit Abram zog, hatte Schafe, Rinder und Zelte. 6Das Land aber ertrug es nicht, dass sie beieinander blieben, denn ihre Habe war so groß geworden, dass sie nicht beieinander bleiben konnten. 7So kam es zum Streit zwischen den Hirten der Herde Abrams und den Hirten der Herde Lots. Damals wohnten die Kanaaniter und Perissiter im Land. 8Da sprach Abram zu Lot: Es soll kein Streit sein zwischen mir und dir, zwischen meinen Hirten und deinen Hirten, denn wir sind Brüder. 9Steht dir nicht das ganze Land offen? So trenne dich von mir! Gehst du nach links, so will ich nach rechts gehen; gehst du nach rechts, so will ich nach links gehen. 10Da blickte Lot auf und sah, dass die ganze Jordanebene ein wasserreiches Land war. Bevor der Herr Sodom und Gomorra verdarb, war sie bis nach Zoar hin wie der Garten des Herrn, wie das Land Ägypten. 11Da wählte sich Lot die ganze Jordanebene, und Lot brach nach Osten auf. So trennten sie sich: 12Abram ließ sich im Land Kanaan nieder, und Lot ließ sich in den Städten der Ebene nieder und zog mit seinen Zelten bis nach Sodom. 13Aber die Leute von Sodom waren böse und sündigten schwer gegen den Herrn.

Oben in der Gegend um Bethel, auf den Bergen ist es karg. Unten ist es saftiger, nach Osten hin zum Jordan und nach Westen hin in Kanaan. Abraham und sein Neffe Lot sind wie Brüder. Sie teilen das Land auf. Der Ältere lässt dem Jüngeren die Wahl. Dort wohnen schon Leute. In den Städten. Abraham und Lot sind Nomaden. Zwischen den Städten derer, die dort schon wohnen, können sie ihre Zelte aufschlagen und ihre Herden weiden lassen. 

Aber die Leute von Sodom waren böse. 

Sodom wurde zerstört, aber die bösen Leute sind geblieben. 

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Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen. Zu der Zeit lebten ungefähr gleich viele Juden und Araber in Palästina, ein paarhunderttausend, in einem Landstrich, der bis dahin kein Staat war. Das hätte gut gehen können, wenn nicht am 15. Mai nahezu alle arabischen Nachbarn dem einen Tag alten Staat den Krieg erklärt hätten. Seitdem scheint es zur Identität der arabischen und der persischen Welt zu gehören, das Existenzrecht Israels zu bestreiten. Fast mehr noch als die gemeinsame Religion scheint der Kampf gegen Israel all diese Länder zu vereinen. Mühsam und mit viel diplomatischer Arbeit ist es in den letzten Jahrzehnten bei einzelnen Staaten gelungen, sie vom Vernichtungswillen abzubringen und davon zu überzeugen, dass eine friedliche Koexistenz nicht nur vernünftiger, sondern auch wirtschaftlich sinnvoller ist. Mit Ägypten hat das begonnen, in den letzten Jahren kamen Länder wir Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate dazu, gerade begann die Vernunft auch in Saudi-Arabien Einzug zu halten. 

Doch dann kam der 7. Oktober, der Terrorangriff der Hamas und die alten Reflexe sind wieder da. Jetzt baden sie wieder im Hass gegen Israel. 

Aber die Leute von Sodom waren böse. 

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Als diese Geschichte anfing, deutete nichts darauf hin, dass sie so voller Blut sein würde. 

Doch wessen Geschichte begann denn damit, dass Gott zu Abraham sprach: Geh aus deinem Land … in das Land, das ich dir zeigen werde. 2Ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du wirst ein Segen sein ... und Segen sollen durch dich erlangen alle Volksgruppen der Erde? (Gen 12,1-3)

Damit begann nicht nur die Geschichte Israels. Damit begann auch die Geschichte der Christen und die Geschichte der Muslime. Abraham ist der erste der Erzväter Israels, Ibrahim ist einer der Gesandten Allahs, Abraham ist der Vater im Glauben für die Christen. Die Geschichten Abraham, mit denen die Geschichte Israels und der Völker beginnt, steht in der Tora. An Abraham wird aber auch im Neuen Testament erinnert und zusammen mit Lot in Sure 29 des Koran. 

Dass der Konflikt heute nicht nur ein Streit ums Land ist, sondern auch einer um den Glauben und um die Religion zu sein scheint, macht die Sache noch unerbittlicher. Dabei hätten doch gerade der Glaube die Chance bieten können, sich zu vertragen und einigen, wie Abraham und Lot sich geeinigt haben. Es ist ja eine Familie, eine Glaubensfamilie. Sie sind alle Kinder Abrahams. 

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Ich lese weiter:

14Der Herr aber sprach zu Abram, nachdem sich Lot von ihm getrennt hatte: Blicke auf und schau von dem Ort, an dem du bist, nach Norden und nach Süden, nach Osten und nach Westen: 15Fürwahr, das ganze Land, das du siehst, dir will ich es geben und deinen Nachkommen für immer. 16Und deine Nachkommen will ich machen wie den Staub der Erde. Nur wenn man den Staub der Erde zählen kann, können auch deine Nachkommen gezählt werden. 17Mach dich auf, zieh durch das Land in seiner Länge und seiner Breite, denn dir will ich es geben. 18Da brach Abram mit seinen Zelten auf, zog weiter und ließ sich nieder bei den Terebinthen von Mamre, die bei Chebron sind, und dort baute er dem Herrn einen Altar.

Manchmal lässt Gott den Abraham in den Himmel blicken, wenn es um die Zahl seiner Nachfahren geht. Dann soll er die Sterne zählen. Und manchmal lässt er ihn auf die Erde blicken. Dann soll er den Sand oder den Staub zählen. 

Niemand kann das zählen, nicht die Zahl der Sterne, nicht den Sand auf Erden. Kurioserweise trifft man beim Googlen genau auf diese Frage: „Gibt es mehr Sterne im All als Sandkörner auf der Erde?“ Gibt es eigentlich irgendeine Frage, die noch nicht gestellt worden ist, seit Abraham aus Charan ausgezogen ist? Und wenn Fragen in der Welt sind, findet sich auch irgendwer in der Welt, der versucht, sie zu beantworten. Und dann noch einer und dann noch einer. Je mehr ich googele, desto weniger lässt sich die Frage beantworten. Obwohl wir immer größere Meister im Zählen und Hochrechnen werden, bleibt das scheinbar eine jener Fragen, die nur der liebe Gott beantworten kann. 

Und wie viele Nachkommen hat Abraham heute? Gott allein weiß es. Man kann sie nicht zählen. Aber hochrechnen kann man sie. Es sind wohl ein paar Milliarden – Juden, Christen. Muslime. 

Ihnen allen gehört das Land, das Gott dem Abraham zeigte. Ihnen allen gehört Israel. Aber eben Israel und nicht Palästina. 

Muslime müssen erkennen, dass die Juden ihre Geschwister sind, wie auch die Christen das erkennen mussten und endlich, nach langen Irrwegen erkannt haben. Alle sind wir Kinder Abrahams. Wir sind alle unterschiedlich und sind uns in manchem fremd geworden. Aber wir stammen alle von dem einen her, den Gott anrief, den er ins Land Kanaan schickte und es zu Israel machte. Alle Muslime, auch die Palästinenser, müssen das Existenzrecht Israels anerkennen, wie auch alle Christen es anerkennen müssen. Um unseres Glaubens willen. Man kann sich nicht auf Abraham berufen und Israel vernichten wollen. 

Wenn aber alle anerkannt haben, dass Israel der Ort ist, in den Gott Abraham führte und darum der Ort sein muss, in dem Juden sicher wohnen können, dann werden auch alle anderen dort sicher wohnen können, auch Muslime und Christen und Palästinenser und Araber. Aber das eine ist die Bedingung für das andere.

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Ob diese Geschichte, die mit einem Ruf Gottes an Abraham irgendwo zwischen der Türkei und Syrien begann, irgendwann einmal in einem Israel endet wird, in dem alle in Frieden mit einander leben? Die christliche Bibel, das Neue Testament endet mit der Vision eines Jerusalem, in dem es keinen Tempel, keine Synagogen, keine Moscheen und keine Kirchen mehr geben wird. Gott wird mitten unter allen Nachfahren Abrahams wohnen, in einem Zelt, wie ganz am Anfang Abraham. Gott ganz auf Tuchfühlung mit all seinen Kindern. Und dann heißt es: Siehe da, das Zelt Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. (Offb 21,3f)

Amen.