Herrscherträume
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Herrscherträume. Sie haben es uns nie erzählt, von was sie träumen und doch ist es ziemlich offensichtlich. Putin träumt vom neuen Zarenreich, das mindestens so groß ist, wie die Sowjetunion mit all ihren Vasallen einmal war. Xi träumt von der chinesischen Weltmacht als einer globalen Kolonialmacht. Erdogan träumt vom neuen osmanischen Reich als der islamischen Führungsmacht im Nahen Osten. Nicht so offenbar sind die Träume von Frau Meloni in Italien. Dass sie als Chefin der Musolinipartei vom neuen Imperium romanum träumt, würde einen kaum wundern. Trump träumt von seiner Wiederwahl und von noch mehr Gold und davon, dass alle ihn anbeten und verherrlichen als größten, weisesten und klügsten Präsidenten aller Zeiten.

Es gibt gerade zu viele Herrschenden mit zu vielen schlechten Träumen. Das macht mir Angst.

Warum träumt keiner wie Salomo? Auch er war ein großer König. Nie wieder war Israel so groß und mächtig, wie zu seinen Zeiten.

Warum träumt keiner den Traum, den Salomo träumte?

In Gibeon erschien der Herr dem Salomo nachts im Traum, und Gott sprach: Erbitte, was ich dir geben soll. Da sagte Salomo: Du hast deinem Diener David, meinem Vater, große Barmherzigkeit erwiesen, denn dir zugewandt in Treue und Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen hat er vor dir gelebt, und du hast ihm diese große Barmherzigkeit bewahrt und ihm einen Sohn gegeben, der auf seinem Thron sitzt, wie es am heutigen Tag der Fall ist. Und nun, Herr, mein Gott, hast du deinen Diener an Stelle Davids, meines Vaters, zum König gemacht, ich aber bin noch ein kleiner Junge, ich weiß nichts vom Ausrücken und vom Einrücken. Und dein Diener steht mitten in deinem Volk, das du erwählt hast, ein Volk, so groß, dass es nicht berechnet und gezählt werden kann. So gib deinem Diener ein Herz, das hört, damit er deinem Volk Recht verschaffen und unterscheiden kann zwischen Gut und Böse. Denn wer könnte deinem Volk, das so gewaltig ist, Recht verschaffen? Und dass Salomo eben darum gebeten hatte, war gut in den Augen des Herrn. Und Gott sprach zu ihm: Weil du eben darum gebeten hast und weil du nicht für dich um langes Leben gebeten hast und auch nicht um Reichtum für dich gebeten hast und auch nicht um den Tod deiner Feinde gebeten hast, sondern um Einsicht, damit du dem Recht gehorchen kannst, sieh, deshalb handle ich nach deinen Worten: Sieh, ich gebe dir ein weises und verständiges Herz, so dass keiner wie du vor dir gewesen ist und keiner wie du nach dir auftreten wird. Und ich gebe dir auch, was du nicht erbeten hast: Sowohl Reichtum als auch Ehre, so dass keiner wie du unter den Königen ist, solange du lebst. Und wenn du auf meinen Wegen gehst und meine Satzungen und meine Gebote hältst, wie David, dein Vater, es getan hat, werde ich dir ein langes Leben geben. Und Salomo erwachte, und sieh, es war ein Traum gewesen. Und er kam nach Jerusalem und trat vor die Lade des Bundes des Herrn, und er brachte Brandopfer dar und opferte Heilsopfer und veranstaltete ein Gastmahl für alle seine Diener.

Was für ein Traum, was für ein König, was für ein Traumkönig!

Liebe Gemeinde, die Einführung des Königtums war in Israel nicht unumstritten. Zuvor gab es einen Stämmebund. Wenn Gefahr von außen drohte, bestimmten die Stämme einen militärischen Anführer, einen Richter. Irgendwann aber wollte das Volk einen König haben wie alle anderen Völker drum herum auch. Der letzte Richter war Samuel. Er war gegen diesen Populismus, gegen die Sehnsucht des Volkes nach dem starken Mann an der Spitze. Er warnte das Volk vor den Konsequenzen. Ein König wird euch eure Söhne für das Militär wegnehmen, eure Töchter als seine Dienerinnen, die besten Äcker und Weinberge für seine Fürsten und er wird euch Steuern auferlegen. Samuel also wollte beim alten föderalen Regierungssystem bleiben, vielleicht auch deshalb, weil er seine Söhne als Richter eingesetzt hatte. Aber seine Söhne waren korrupt. Es gibt ja nichts Neues unter der Sonne: Trump steht vor der Tür und Biden hat einen korrupten Sohn. So was ist nicht hilfreich. Ob es also das war oder doch mehr der Wunsch nach dem starken Mann – Israel jedenfalls erhielt einen König, weil das Volk es so wollte.

In der Bibel wird es so dargestellt, dass Gott dem Samuel riet, auf das Volk zu hören. Dieser Rat Gottes hat allerdings einen leicht beleidigten Unterton. Sie haben nicht dich verworfen, Samuel, meint Gott, sondern sie haben mich, Gott, ihren wahren König, verworfen. Das haben sie ja schon immer getan. Mach also, was sie wollen, gib ihnen einen König, sollen sie selber sehen, was sie davon haben.

So also erhielt Israel seinen ersten König Saul. Und der entwickelte sich bald schon zu einem Problemkönig. Nach ersten militärischen Erfolgen wurde auch er korrupt und depressiv dazu. Mit seinem Nachfolger David hatte man mehr Glück und mit dessen Sohn Salomo auch. Mehr Glück oder mehr Segen. Denn bei David und Salomo schien Gott seinen Groll überwunden zu haben.

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Gleich nach seinem Regierungsantritt hatte Salomo dann diesen Traum. Der beginnt mit einer Versuchung. Gott spricht: „Bitte, was ich dir geben soll!“ Salomo besteht die Bewährungsprobe. Er bittet nicht um Reichtum und um die Vernichtung seiner Feinde und um langes Leben, Bitten, die man ohne weiteres alle Putin in den Mund legen könnte. Salomo bittet um ein Herz, das hört, damit er dem Volk Recht verschaffen und unterscheiden kann zwischen Gut und Böse. Ein Herz, das hört. Auf was hört das Herz? Auf das Volk, auf Gott, auf das Recht? Auf alles, wird ein hörendes Herrscherherz hören müssen. Wenn es nur auf das Volk hört, wird der Herrscher ein Volkstribun, ein Demagoge, ein Populist. Er wird sagen, er höre auf das Volk, wird aber in Wahrheit nur sich selber dienen. Wenn das Herz nur auf Gott hört, wird der Herrscher ein Fanatiker, ein Theokrat. Er wird sagen, er höre auf Gott, wird aber in Wahrheit nur sich selber dienen.

Ein hörendes Herz muss zunächst auf das Recht hören. Das Recht aber muss sowohl auf das Volk hören als auch auf Gott. Es muss dem Volk Recht und Gerechtigkeit verschaffen und gleichzeitig in einer gewissen Rücksicht auf Gott stehen, die sich in der Identifizierung heiliger und unantastbarer Grundsätze manifestiert.

Damit zeichnet die Bibel das Ideal eines Königtums in Israel, das das Handeln des Königs an das Recht, an Satzungen und Weisungen der Tora bindet. Tendenzen zum Absolutismus sollten in Israel von Anfang an gewehrt werden. Wenn schon Monarchie, dann eine an das Recht gebundene Monarchie. Das ist bemerkenswert.

Ob das in Israel historisch so war, weiß man nicht. Aber es gab zumindest die Ahnung einer an Rechtsstaatlichkeit gebundenen Monarchie.

Um ein hörendes Herz also bittet Salomo im Traum. Er will auf das Gesetz hören, das seinerseits auf das hört, was das Volk braucht, und gleichzeitig auch unantastbaren Prinzipien verpflichtet ist.

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Und um noch etwas bittet Salomo: darum, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, also um moralische Urteilsfähigkeit.

Könige waren in Israel nicht in erster Linie Imperatoren, die Imperien schaffen, sondern Richter, die den einzelnen zu ihrem Recht verschaffen sollen. Um dies tun zu können, mussten sie nicht nur rechtskundig sein, sondern auch ein Wertegespür haben. Denn nicht alles, was das Leben bietet oder fordert, kann in den Gesetzen vorgesehen und aufgeschrieben werden.

Wenn Salomo darum bittet, verstehen zu können, was gut und böse ist, bittet er um Weisheit. Was wir heute moralische Urteilsfähigkeit oder ethische Kompetenz nennen würden, hieß im alten Israel Weisheit.

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Um all das bittet Salomo in seinem Regierungsantrittstraum und all das gibt ihm Gott im Traum. Und noch mehr, nämlich das andere, um das er nicht gebeten hat, dazu: Reichtum, Ansehen und langes Leben. Herrscherträume.

Salomo erwacht. Es war nur ein Traum. Doch sofort beginnt der Traum, wahr zu werden. Gleich im Anschluss lesen wir, wie Salomo sich als Richter bewährt. Ein Beleg für seine Weisheit, für sein ans Recht gebundenes moralisches Urteilsvermögen.

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Bevor ich weiterlese, machen wir eine Pause und singen: 494,1+3+5 „In Gottes Namen fang ich an“

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Die Geschichte vom salomonischen Urteil

Damals kamen zwei Huren zum König und traten vor ihn. Und die eine Frau sprach: Bitte, mein Herr, ich und diese Frau wohnen im selben Haus, und in diesem Haus habe ich neben ihr geboren. Am dritten Tag aber nachdem ich geboren hatte, gebar auch diese Frau. Und wir waren zusammen, niemand sonst war bei uns im Haus; nur wir beide waren im Haus.9In der Nacht aber starb das Kind dieser Frau, weil sie im Schlaf auf ihm gelegen hatte. Da stand sie mitten in der Nacht auf, nahm mein Kind von meiner Seite, während deine Magd schlief, und legte es in ihren Schoss, ihr totes Kind aber legte sie in meinen Schoss. Und als ich am Morgen aufstand, um mein Kind zu stillen, sieh, da war es tot. Am Morgen aber sah ich es mir genau an, und sieh, es war nicht das Kind, das ich geboren hatte. Die andere Frau aber sagte: Nein, das lebende ist mein Kind, und dein Kind ist das tote. Jene aber fiel ihr ins Wort und sagte: Nein, dein Kind ist das tote, und das lebende ist mein Kind. So redeten sie vor dem König. Und der König sprach: Diese sagt: Dies ist mein Kind, das lebende, und dein Kind ist das tote. Und diese sagt: Nein, dein Kind ist das tote, und mein Kind ist das lebende. Und der König sprach: Holt mir ein Schwert! Und man brachte das Schwert vor den König. Und der König sprach: Schneidet das lebende Kind entzwei, und gebt der einen die eine Hälfte und der anderen die andere Hälfte. Da sagte die Frau, deren Kind das lebende war, zum König, in aufwallender Liebe für ihr Kind sagte sie: Bitte, mein Herr, gebt jener das lebende Kind, nur tötet es nicht! Diese aber sagte: Weder mir noch dir soll es gehören; zerschneidet es! Daraufhin aber sprach der König: Gebt jener das lebende Kind, und tötet es nicht! Sie ist seine Mutter. Und ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie hatten Ehrfurcht vor dem König; denn sie sahen, dass göttliche Weisheit in ihm war, um Recht zu schaffen.

Die Geschichte hat seit jeher fasziniert. Es gibt sie in Variationen auch im Chinesischen und bei Bert Brecht.

Die Methode der Wahrheits- und Rechtsfindung belegt nicht nur die Weisheit oder Schläue des Richters. Sie belegt vor allem die Einsicht, dass die Liebe der wahren Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft. Wahre Gerechtigkeit ist nicht die simple Gerechtigkeit des faulen Kompromisses, nach der man eben halbe – halbe macht, wenn Aussage gegen Aussage steht. Die wahre Mutter ist die, die ihr Kind liebt. Ihre Liebe offenbart sich darin, dass sie in der Not des Kindes bereit ist, auf es zu verzichten.

Gerechtigkeit fußt auf Wahrheit und die Wahrheit offenbart sich in der Liebe. Es ist dieser Zusammenhang, der in dieser Geschichte so zum Greifen nahe ist, dass sie immer gern aufgegriffen und erzählt wird.

Heute allerdings würde ein Richter, der so unkonventionelle Methoden der Wahrheitsfindung anwenden würde, seinen Job riskieren. Zurecht! Es wäre ein Skandal, denn es ist fast wie die Androhung von Folter, um die Wahrheit herauszufinden. Die Grundsätze der Humanität gebieten es, dass die Wahrheit anders ans Licht gefördert werden muss, als mit der Androhung, das strittig Kind mit dem Schwert zu zerteilen.

Es gibt Gott sei Dank heute bessere Methoden. In solche einem Sorgerechtsstreit ordnet der Richter einen Gentest an.

Das werden zwar keine Geschichten mehr, die Jahrhunderte lang erzählt werden, keine Geschichten, die von der Weisheit eines guten Richters berichten. Trotzdem ist die wissenschaftliche Methode der Wahrheitsfindung nicht nur verlässlicher, sie ist vor allem humaner, als das, was König Salomo hier praktiziert oder der Richter Bao im chinesischen Kreidekreis oder der Richter Abzak in Brechts kaukasischem Kreidekreis.

Trotzdem ist es auch schade, dass solche Geschichten nicht mehr erzählt werden. Wir brauchen sie mehr denn je. Geschichten, die uns davon überzeugen, dass es Gerechtigkeit gibt, dass es Wahrheit gibt und dass es Liebe gibt. Wir leben in Zeiten, in denen schlechter Herrscherträume all dies immer wieder infrage stellen. Darum brauchen wir die Geschichten, die von Gerechtigkeit und von Wahrheit und von der Liebe erzählen. Und die besten von ihnen sind die, die uns verstehen lassen, dass all das zusammenhängt.

Amen.