„… dass alle Welt geschätzt würde…“
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Frohe Weihnachten, liebe Gemeinde, wir sind drin. Wir Geimpften, wir Genesenen, wir 2G-Menschen. Wir wurden geprüft und kontrolliert und wurden für würdig befunden. Mussten viele abgewiesen werden? Ich hoffe nicht.

Schon die zweite Corona-Weihnachten. In diesem Jahr wird das Weihnachtsfest überschattet von schwierigen Fragen. 2G oder 3G, wer darf rein, wer muss draußen bleiben, Impfpflicht ja oder nein? Die Spaltung der Gesellschaft droht. Müssen wir als Kirche da mitmachen? Könnten wir es denn verhindern?

Wenn mir jemand noch vor wenigen Monaten gesagt hätte, dass es einmal Einlasskontrollen zum Weihnachtsgottesdienst geben würde, hätte ich es nicht geglaubt. Warum Einlasskontrollen? Wollen wir nur die Getauften einlassen? Muss jeder seine Taufurkunde mitbringen, damit es schneller geht, mit QR-Code? Oder geht es um die Kirchensteuer? Muss jeder seinen Steuerbescheid am Einlass vorzeigen?

Nein, soweit soll es nicht kommen. Aber die Pandemie macht’s möglich. Einlasskontrollen.

Aber nun seid ihr da drin, seid reingekommen, habt die Prüfung bestanden und euch in Listen eingeschrieben und wollt nun etwas Anderes hören, etwas Weihnachtliches und nicht schon wieder nur Corona, Corona, Corona. Weihnachten also. Mach ich, versprochen. Wir gucken also in die Weihnachtsgeschichte, in die schönste aller Geschichten. Und die – äh – fängt damit an, dass eine neue Verordnung erlassen wurde. Vom Kaiser. Gott sei Dank trägt der Kaiser von Rom keine Krone. Das weiß ich aus Asterix. Der trägt einen Lorbeerkranz. Die Krone heißt auf Lateinisch corona. Wenn er eine Krone tragen würde, wäre das am Anfang der Weihnachtsgeschichte eine neue Corona-Verordnung. Aber es ist – puh – bloß eine Lorbeerkranzverordnung.

Und sie verordnet ja auch keinen Lockdown, dass die Leute zu Hause bleiben sollen, sondern im Gegenteil, dass sie sich auf den Weg machen sollen, ein jeder in seine Stadt.

Es ist eine Verordnung zur Steuerschätzung. Es müssen Daten erhoben werden durch eine Volkszählung.

Seit bald zwei Jahren machen wir nichts anderes mehr als Volkszählung. Jeden Morgen der Blick auf die Zahlen im Handy: Wie hoch sind die Inzidenzen heute? Und es wurden immer mehr Zahlen. Erst zählten wir nur die Infizierten, dann zählten wir die Inzidenzen, dann auch die Gestorbenen und jetzt zählen wir auch noch die Geimpften, die ein-, zwei- dreimal geimpften, und die Impfdosen auf Vorrat. Pandemiebekämpfung ist eine Sache der Zahlen geworden. Mathematiker sind die Propheten der Seuche. Prophetin Priesemann und Prophet Meyer-Hermann. Sie modellieren die Zukunft und dann müssen vielleicht die Gastronomie und die Hotels wieder zu machen. Kein Raum in der Herberge.

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Zurück zur Weihnachtsgeschichte! Keine Coronaverordnung, sondern eine Lorbeerkranzverordnung, nicht zum Inzidenzzählen, sondern zur Steuerschätzung. Es war die allererste, lesen wir. Der Beginn einer modernen Verwaltung.

Der Staat will wissen, mit wie vielen Einnahmen er rechnen kann. Dazu braucht er eine Datengrundlage. Die gab es noch nicht. Also soll jeder in seinen Geburtsort, um sich dort in Namenslisten eintragen zu lassen. Dass alle Welt geschätzt würde heißt eigentlich wörtlich: dass alle eingeschrieben würden, nämlich in Steuerlisten.

Wir müssen uns ja zur Zeit auch alle eintragen, sobald wir das Haus verlassen und irgendwo hingehen, mit Namen in Listen oder mit der App einchecken, nicht wegen der Steuer, sondern wegen der Kontaktnachverfolgung.

Und eine Steuerschätzung macht die Bundesregierung jedes Jahr. Christian Lindner wird die Zahlen auch brauchen. Obwohl er ja – kaum im Amt – liegengebliebene Coronahilfen kurzerhand umwidmen will. Ob da aber so einfach geht, wird wohl ….

Jetzt bin ich schon wieder von der Weihnachtsgeschichte weggekommen. Entschuldigung. Sie entgleitet mir immer wieder. Ich gucke in den Text und sofort muss ich an all das denken, was uns derzeit so beschäftigt. Dabei wolltet ihr doch heute mal abschalten, heute mal was anderes hören, eine andere Botschaft, eine andere Geschichte. Diese uralte und immer wieder so wunderbare Geschichte von der Geburt des Heilandes in Bethlehem, die in unseren Ohren und im vertrauten Sound von Luthers Übersetzung ja so ein bisschen klingt wie ein Märchen von des Kaisers neuer Steuerschätzung und der armen Maria, die war schwanger und gebar ihren ersten Sohn und legte ihn in eine Krippe und dann kam noch der Engel.

Aber es gelingt mir nicht, mich wegzuträumen in dieses Weihnachtsmärchen. Jedes Mal, wenn ich mich darauf einlasse, lande ich sofort wieder in unserer Realität. Wir entkommen der Wirklichkeit offenbar nicht. Sie holt uns immer wieder ein. Auch an Weihnachten.

Das ist ein Problem.

Aber: Mit diesem Problem lässt Gott uns nicht allein. Er kommt in diese unsere Wirklichkeit. In das, was uns immer wieder einholt. Weil es uns nicht gelingt, uns wegzustehlen aus der Wirklichkeit, darum kommt Gott in unsere Wirklichkeit. Weil Realitätsverweigerung, nicht Wahrhabenwollen und Träumen, Saufen und Drogen keine Alternativen sind, lässt Gott sich auf das ein, was uns nicht loslässt. Damit die Wirklichkeit, die meistens anders ist, als wir sie uns wünschen, nicht gottlos ist. Darum lässt Gott sich auf diese Wirklichkeit ein. Gott träumt sich nicht weg. Wir können es ja auch nicht.

Das ist Weihnachten! Das ist Weihnachten eigentlich! Gott kommt in die Welt, in unsere Welt, so wie sie ist. Und er kommt als Mensch.

Jesus aus Nazareth. Geboren von Maria in Bethlehem. Alle, die ihn kennengelernt haben, alle die sich später mit den Erzählungen über ihn und mit seinen Worten befasst haben, sagen: Das war ein Mensch! Ein wahrer Mensch, ein echter Mensch, ein wahrhaftiger Mensch. Ein Mensch, wie ein Mensch sein sollte. Ecce homo, hat einer über ihn gesagt, „das ist ein Mensch!“ Und das will ja was heißen, wenn man das zu einem Menschen sagt. Nicht zu jedem Menschen kann man sagen: Das ist ein Mensch, oder?

Jesus Christus, das ist der Mensch, in dem Gott uns daran erinnert, was Menschlichkeit ist: Dass wir andere so behandelt, wie wir selber gern behandelt werden wollen; dass wir Fehler machen können, dass wir Schwäche zeigen können, ohne das Gesicht zu verlieren; dass wir die Fehler und Schuld der anderen vergeben können; dass wir mit Vertrauen und Glauben weiterkommen, als mit Rechthaben und Machtdurchsetzung; und mit Sanftmut ohnehin besser als mit Gewalt.

Einfache Dinge eigentlich. Dinge, die uns menschlich machen. Und doch brauchen wir gerade Gott dazu, dass wir Menschen auch menschlich werden und im Maß des Menschlichen bleiben. Gott hat sich als Mensch auf unsere Wirklichkeit eingelassen, damit wir menschlich werden. Denn nur als menschliche Menschen werden wir unsere Probleme lösen können.

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Ich komme in diesem Jahr über die ersten beiden Verse der Weihnachtsgeschichte nicht hinaus. Ein Gebot vom Kaiser, dass alle Welt geschätzt würde. Ich denke immer an die Verordnungen, die vielen Zahlen und Zählungen, die Inzidenzen und die Listen. Und doch gibt es sogar in diesen ersten Zeilen der Weihnachtsgeschichte ein Wort, das in der ganzen Nüchternheit dessen, was da berichtet wird, funkelt, das mich in diesem Jahr anspricht, anlacht und glänzt wie noch an keinem Weihnachten bisher. Das Wort „schätzen“: dass alle Welt geschätzt würde.

Ich weiß gar nicht, ob Martin Luther schon die andere Bedeutung des Wortes schätzen kannte, als er das, was bei Lukas im Griechischen nüchtern heißt: „dass alle aufgeschrieben werde“, übersetzte mit: dass alle Welt geschätzt würde. „Schätzen“ heißt einerseits: abschätzen und hochrechnen, andererseits aber auch: kennen und wertschätzen.

Der Kaiser lässt alle Welt schätzen, um zu erfahren, wie viel Geld er kriegen kann. Gott aber macht daraus Weihnachten, weil er alle Welt schätzt, weil er die Menschen achtet und liebt. Der Kaiser schickt seine Beamten nach Israel, um abzuschätzen, wie viel die Leute dort wert sind. Gott schickt seinen Sohn, lässt ihn in Israel zur Welt kommen, weil er alle Welt schätzt und keinen seiner Kinder verlieren will. Nicht das Geld will er ihnen nehmen, sondern das Leben will er ihnen geben. Weil er uns so schätzt.

Und weil Gott keinen von uns verlieren will, hat auch er unsere Namen aufgeschrieben. Der, dessen Geburt wir heute feiern, hat gesagt: Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind. (Lk 10,20). So schätzt er alle Welt, so liebt er seine Kinder. Unsere Namen sind in seine Listen aufgeschrieben. Er wird uns nicht verlieren, er wird uns rufen. Die, die leben, damit sie leben, und die, die gestorben sind, damit auch sie leben werden. Auch die Namen der vielen in aller Welt, die in diesem Jahr an Corona verstorben sind, sind im Himmel aufgeschrieben. Sie werden nicht vergessen, nicht von den Menschen und von Gott auch nicht.

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So, jetzt reicht es. Mit der Pandemie und auch mit dem Predigen für heute. Nächstes Jahr komme ich hoffentlich weiter in dieser Geschichte, komme zu dem Kind und den Hirten und dem Engel und zur Klarheit des Herrn und zur großen Freude, die uns in diesem Jahr nicht so recht widerfahren will. Nächstes Jahr wird uns nicht mehr so viel aufhalten, und es wird hoffentlich keine Einlasskontrollen mehr geben. Auch wenn wir heute nicht über die ersten Verse der Weihnachtsgeschichte hinausgekommen sind, es ist doch alles Wichtige gesagt worden.

Gott kommt als Mensch in diese Welt, kommt in unserer Wirklichkeit, auch und gerade dann, wenn diese Wirklichkeit gerade ziemlich nervt und schmerzt. Er hält uns unsere Menschlichkeit vor Augen und zeigt uns, wie wir Menschen Menschen bleiben können.

Hm… Ist das eine zu simple Botschaft? Ich weiß nicht. Es ist doch am Ende ganz schön anspruchsvoll, einfach ein menschlicher Mensch zu bleiben in diesem schweren Leben. Nicht allen gelingt das. Aber vielen schon – Gott sei Dank! So werden wir unsere Probleme lösen. Und auch die Pandemie überwinden. Mit Vernunft und Herz, mit Sanftmut und Gelassenheit, mit Zuversicht und Vertrauen. Mensch bleiben, so einer, wie Gott es geworden ist in Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem.

Amen.