Einfältig werden
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1. Der Mond ist aufgegangen,

die goldnen Sternlein prangen

am Himmel hell und klar.

Der Wald steht schwarz und schweiget,

und aus den Wiesen steiget

der weiße Nebel wunderbar.

2. Wie ist die Welt so stille

und in der Dämmrung Hülle

so traulich und so hold

als eine stille Kammer,

wo ihr des Tages Jammer

verschlafen und vergessen sollt.

Abendgedanken, Gedanken zur späten Zeit, Gedanken bevor die Nacht hereinbricht, Gedanken bevor alles schwarz wird. 

Abendgedanken am hellen Vormittag. Der Mond geht manches Mal auch am hellen Tage auf. Und Abendgedanken kommen auch am hellen Vormittag. Heute, wenn das Kirchenjahr sich neigt. 

Neblig sind die Abendgedanken, wenn man aus dem Alltag kommt. Neblig ist so vieles im November und in dieser kalten Novemberwelt. Aber dann wird es stille, die Nebelgedanken steigen auf und werden wunderbar. 

***

Die Welt ist gar nicht stille, ist weder traulich noch hold. Fremd ist sie und wird mir immer fremder. Krieg hier und dort, Hass auf unseren Straßen, immer mehr Elende in der U Bahn, überall greifen verrückter Männer nach der Macht und werden auch noch gewählt, und vernünftige und glaubwürdige Frauen treten ab, lange bevor überhaupt klar ist, ob sie irgendwann mal einen Fehler gemacht haben. Nie hätte ich vor 25 Jahren geglaubt, dass die Welt mal so wird, wie sie gerade zu sein scheint. Ich sah die Welt dem Reich Gottes damals um die Jahrtausendwende schon ganz nah. Welch ein Leichtsinn, welch ein Irrglaube! Fremd ist mir die Welt geworden und wird mir immer fremder.

Muss ich fliehen, muss ich ihr entkommen, um Ruhe zu finden für die Seele und Stille? Weltflucht, damit ihr Dröhnen aufhört? Muss ich mich einhüllen in einen geistigen Dämmerzustand, damit ich wieder schlafen kann? Manche brauchen Alkohol und Drogen, um den Jammer vergessen und schlafen zu können. Geht auch Religion? Nach Karl Marx soll das die gleiche Wirkung haben. Jenseitsvertröstung war das Stichwort, das einmal in der der Kirche einschlug wie eine Bombe, sie bis ins Mark erschütterte.

Die Christen als Jenseitsvertröster, also als Drogendealer? Den Vorwurf wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Also erinnerten sie sich, dass sie Protestanten sind. Weltflucht verbiete sich für protestantische Christen. Protestieren sollen wir, selbst laut werden, anschreien gegen das schreiende Elend. Nicht jammern, sondern mit Jesus dem Elend den Garaus machen. Jenseitsvertrösterin wollte die Kirche nicht mehr sein und so wurde sie politisch. Und das war notwendig im wahrsten Sinne des Wortes. Die Kirche sollte nicht vor der Not fliehen, sondern helfen, die Not zu wenden. Vor lauter Abendgedanken, vor lauter Blick in die Stern und ins Jenseits verlor die Kirche die Welt aus den Augen und das Diesseits. Das hat sie im letzten Jahrhundert gründlich korrigiert. Es gibt nicht nur ein Leben nach der Auferstehung, es gibt auch ein Leben vor der Auferstehung – Ausrufezeichen! Diesseitsbearbeitung statt Jenseitsvertröstung. Karl Marx musste lernen: Wir können auch anders. 

Kann es sein, dass wir übers Ziel hinausgeschossen sind? Kann es sein, dass wir vor lauter Starren auf die Jammerbeseitigung im Diesseits das Jenseits vergessen haben? Ist die Zukunft der Kirche deshalb so düster, weil sie die schönen Aussichten unserer Zukunft vergessen hat?

Vielleicht ist das so. Und ich habe den Eindruck: Immer mehr Menschen merken, dass was fehlt. Nur können sie nicht recht ausdrücken, was das ist, das fehlt. Vielleicht lieben wir alle gerade deshalb diese Abendlieder mit ihren Abendgedanken und von allen am meisten dieses: Der Mond ist aufgegangen. 

3. Seht ihr den Mond dort stehen?

Er ist nur halb zu sehen

und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen,

die wir getrost belachen,

weil unsre Augen sie nicht sehn.

4. Wir stolzen Menschenkinder

sind eitel arme Sünder

und wissen gar nicht viel.

Wir spinnen Luftgespinste

und suchen viele Künste

und kommen weiter von dem Ziel.
 

Heute sehen wir uns die Sachen an, die wir sonst getrost verlachen, weil wir sie nicht sehen. Die Sachen sind die letzten Dinge. Es sind völlig unwissenschaftliche Dinge. Noch unwissenschaftlicher als sonst im Kirchenjahr. Dinge, die sich nicht nur dem Sehen entziehen, sondern auch der Empirie. Doch hinterm Mond lauern die erstaunlichsten Dinge. Regelrecht Undinge. Sie haben kürzlich ein neues Teleskop hinter den Mond geschossen, das Unsichtbares sichtbar machen soll. Die Physiker glauben, es gäbe hinter oder zwischen der Unzahl an Sternen und Galaxien noch viel mehr Sachen, Antimaterie, Undinge also. 80% sei Antimaterie. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, als würden die Physiker gerade weit metaphysischer werden als es die Theologen jemals waren. Vor 250 Jahren erlebte Matthias Claudius, wie die aufgeklärten Wissenschaftler über die Sachen der Theologen gelacht, weil sie unsichtbar sind. Heute könnte ich lachen über die Physiker und ihre unsichtbaren Sachen. 

Im Vergleich dazu ist das, was wir heute, an diesem Sonntag der Ewigkeit, sehen, geradezu physisch, handfeste Materie. Wir sehen das neue Jerusalem vom Himmel herabkommen. Eine Stadt, in der Gott wohnt und die Völker, in der sie miteinander sind, aber ohne Tempel und Kirchen, ohne Moscheen und Synagogen. Die Materie der letzten Dinge ist hell und klar und wunderbar. Manche belachen sie. Ob ihr Lachen allerdings ein getröstetes Lachen ist? Wie können wir Trost finden, ohne diese Aussichten? Denn die Hoffnung braucht Visionen. 

Die meinen, sie bräuchten solche Visionen nicht, sind stolze Menschenkinder. Die meinen, sie wüssten alles und mehr als die Wissenschaft weiß, brauche man nicht zu wissen, die wissen doch gar nicht viel. 

Ich will nicht auf die Wissenschaft schimpfen. Das wäre kurzsichtig. Sie hat das Leben so viel besser gemacht, uns so viel Elend abgenommen. Um nichts in der Welt möchte ich in die Vergangenheit zurück. Es lebt sich heute im Allgemeinen besser denn je. 

Und doch ist manches Luftgespinnst. Denn dass wir eitel arme Sünder sind, daran konnte bis jetzt keine Wissenschaft was ändern. Warmes Heim und langes Leben hat sie uns gebracht, aber dem Reich Gottes keinen Millimeter näher. Und oft scheint es, als brächten uns all die wissenschaftlichen und technischen Künste nur immer weiter von dem Ziel. 

Sieh also hin und wieder zum Mond. Wenn er nur halb zu sehen ist, dann denk daran, dass wir gar nicht so viel wissen, wie wir zu wissen meinen. Dass aber das andere, das, was wir nicht wissen, nicht unheimlich ist, keine dunkle Materie, keine finsteren Mächte, keine schwarzen Löcher, sondern, dass es rund und schön ist. Rund und schön hat Gott es mit diesen letzten Dingen hinterm Mond unter und hinter der Welt gemacht, ein rundes Ende und ein schönes Ende. Bei Gott werden wir sein, bei ihm wohnen, in Freien, mitten im warmen und friedlichen Jerusalem unter einem klaren Himmel ohne Nebelschwaden und mit Gott in die Sterne gucken und in Psalmenart mit ihm plaudern. 

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,

den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,

und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? 

Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,

mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. (Ps 8,4f)

Und Gott wird vielleicht sagen: „Da siehste mal!“

***

5. Gott, lass dein Heil uns schauen,

auf nichts Vergänglichs trauen,

nicht Eitelkeit uns freun;

lass uns einfältig werden

und vor dir hier auf Erden

wie Kinder fromm und fröhlich sein.

6. Wollst endlich sonder Grämen

aus dieser Welt uns nehmen

durch einen sanften Tod;

und wenn du uns genommen,

lass uns in’ Himmel kommen,

du unser Herr und unser Gott.

7. So legt euch denn, ihr Brüder,

in Gottes Namen nieder;

kalt ist der Abendhauch.

Verschon uns, Gott, mit Strafen

und lass uns ruhig schlafen.

Und unsern kranken Nachbarn auch!

Wer Gottes Heil schauen will, muss einfältig sein. Wer das runde und schöne Ende, die unsichtbare und gewiss bessere Hälfte des Lebens schauen will, muss einfältig sein. 

Man hat eigentlich nur die Wahl zwischen zwei Haltungen: Entweder Einfalt oder Heldentum. Entweder du glaubst all die schönen Verheißungen und Zusagen in der Bibel. Dann bist du einfältig und naiv. Oder du glaubst sie nicht und hältst es ohne Verheißungen unter einem leeren Himmel mit viel Antimaterie aus, bis du stirbst. Dann bist du mutig und ein Held des nackten Daseins. 

Ich habe den Mut nicht, ich bin nicht so tapfer. Deshalb glaube ich. 

Ich bin nicht mutig. So hat es auch Marie Luise Kaschnitz gesagt und mir aus dem Herzen gesprochen:

„Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig.“

Ich auch nicht. Deshalb glaube ich. Und wenn es nur aus Feigheit ist. Dann ist es eben so. Lieber einfältig und fromm, Kind und fröhlich, als abgeklärt und intellektuell, traurig und trotzig. 

Und nun sage ich es, sage es euch heute, sage es in aller Kindlichkeit und Einfalt: Wir kommen alle in den Himmel. Woher ich das weiß? Ich weiß es aus den Kindergebeten und aus den Abendliedern. Ich weiß es, weil unser Herr Jesus Christus für uns gestorben ist. So sagt man. Er habe uns die Sünden abgenommen und deshalb seien wir etwas leichter, leicht genug für den Himmel. Dass einer, den sie vor 2000 Jahren hingerichtet haben, mich leichter macht, für diesen kühnen Übertrag braucht man schon ganz schön viel verwegene Einfalt. Aber wenn sie mich erleichtert, gönne ich sie mir. 

Wir kommen in den Himmel. Ich weiß es, weil es ein rundes und schönes Ende ist, und weil es mich fröhlich macht. Und schäme mich der Einfalt nicht. 

Wir kommen in den Himmel. Ich sage es heute so einfach daher, so einfach, wie es ist. Euch sage ich es, die ihr jemanden verloren habt in diesem Jahr. Und uns allen, die wir den Tod noch vor uns haben. Wir kommen in den Himmel und das wird schön sein und wir werden alle fröhlich sein. 

***

Abendgedanken am Ewigkeitssonntagmorgen. Hinterm Mond geht eine Welt auf, hell und klar. Die wollen wir uns bewahren im Glauben, im Herzen, in der Sehnsucht und in aller frommen Einfalt. 

Und was bleibt uns jetzt noch zu tun? Beten. Beten um Verschonung von Strafen. Nicht vor den ewigen Höllenstrafen. An die glaub ich nicht. Sondern vor all dem Sträflichen, mit dem wir unsere Zeit vergeuden und uns gegenseitig quälen. Davor soll er uns verschonen, der liebe Gott. Oder wird er antworten: Nicht mein Problem, da seht ihr mal selbst zu? Nein, die Kaltschnäuzigkeit wird er nicht haben! Auch vor den eigenen Dummheiten wird er uns verschonen. 

Beten, auch um einen sanften Tod. Einen sanften Tod ohne ewiges Sterben. Beten, dass wir wieder die Kunst des Sterbens lernen. Gar nicht so einfach, in diesen Zeiten bester Medizin und andrer Künste und kommen weiter von dem Ziel.

Und beten um einen ruhigen Schlaf. Für mich selber und den kranken Nachbarn auch.

Amen.