Das Zelt der Begegnung
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Mose aber nahm jeweils das Zelt und schlug es außerhalb des Lagers auf, in einiger Entfernung vom Lager, und er nannte es Zelt der Begegnung. Und jeder, der den HERRN befragen wollte, ging hinaus zum Zelt der Begegnung, das außerhalb des Lagers war. Wenn nun Mose zum Zelt hinausging, erhob sich das ganze Volk, und jeder stellte sich an den Eingang seines Zelts, und sie schauten Mose nach, bis er in das Zelt hineingegangen war. … Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mensch mit einem anderen redet.

 

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und die heilige Stadt, ein neues Jerusalem, sah ich vom Himmel herabkommen von Gott her, bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen: Siehe, die Wohnung Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird mit ihnen sein, ihr Gott. Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein; denn was zuerst war, ist vergangen.

 

Liebe Gemeinde,

jetzt brechen wir unsere Zelte hier ab. Auf den Tag genau 61 Jahre nach der feierlichen Eröffnung mit 2 Gottesdiensten am 10. Dez. 1961 feiern wir heute, am10. Dez. 2022 einen letzten Gottesdienst, ein letztes Advent uff’m Hof, ein letzter Gruß und dann Adieu, Gott befohlen, du edle Hütte.

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„Edle Hütte“ trifft es nicht schlecht. Edles Zelt träfe es noch besser. Zeltartig sieht die Hütte aus, leicht und luftig, fast im Freien, als habe man auf der Wiese vor der Stadtmauer eine Plane schnell mal auf ein paar Zeltstangen gelegt. Von außen erkennt man die Zeltform noch besser.

Nein, eine Kirche sollte das hier nie sein, keine Kirche jedenfalls, die nach Kirche aussieht. Dieser Saal verleugnet so sehr sein Kirchesein, dass er schon wieder ein beredtes, fast trotziges Statement ist: Wir sind anders! Ihr habt uns in Frankreich verboten, richtige Kirchen zu bauen, jetzt machen wir es auch hier nicht. Ihr habt uns in Frankreich aus den Städten vertrieben, wir mussten unsere Gottesdienste im Freien vor der Stadtmauer halten oder in den Hinterhöfen, und das machen wir jetzt immer noch so.

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Pfarrer Karl Manoury, der langjährige umtriebige Hugenottenhistorienpfarrer dieser Gemeinde, hat es in der Huki im Dez. 1961 geschrieben. Es gibt keine hugenottische Kirchbautradition, an die man hätte anknüpfen können oder müssen. Es gab aber so was wie eine hugenottische Gottesdiensttradition, die darin besteht, auch ohne Kirchen Gottesdienst feiern zu können. Sie nehmen uns die Kirchen, aber sie können uns nicht die Gottesdienste nehmen. Wir können auch ohne Kirche Gottesdienst feiern, auch im Freien, eine Plane überm Kopf gegen den Regen genügt. Wenn es also so was wie eine hugenottische Kirchbautradition gibt, dann die, dass ihre Kirche nach allem bloß nicht nach Kirche aussehen sollen. Zelt, Scheune, Hütte, Halle, Tempel – alles möglich, nur keine längliche mehrschiffige Gewölbehalle mit geostetem Chor und Glockenturm überm Eingang im Westen.

Und so hat man sich für dieses große Nomadenzelt im Hinterhof entschlossen, das nun 61 Jahre seinen Dienst getan hat, viel länger als sonst Zelte zu tun pflegen. Ich bin in Versuchung zu sagen: Wenn wir nachher fertig sind, brauchen wir noch ein paar starke Menschen, die die Stangen dort aus dem Boden hieven, die Zeltplane zusammenlegen und auf den Esel packen. Und dann reiten wir mit Esel und Zelt nach Mitte: Macht hoch die Tür, die Brandenburger Tor macht weit.

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Wir brechen unsere Zelte hier ab und verlassen die edle Hütte.

Zelt oder Hütte? Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Luthers Bibelübersetzung und der Züricher, die wir traditionell bevorzugen. Wo Luther mit Hütte übersetzt, übersetzt die Züricher mit Zelt. Das ist deshalb von Bedeutung, weil es da nicht um irgendwelche Campingausrüstungen geht, sondern um die Wohnungen Gottes. Gott hat drei Wohnsitze, zwei mobile und einen festen: das Zelt, den Tempel auf dem Zion und uns. Auch wir sind ein Wohnsitz Gottes, ein mobiler, jedenfalls meint das Paulus, wenn er von unserem Leib als einem Tempel des Heiligen Geistes schreibt.

Beide Tempelwohnungen Gottes sind nicht ewig, sondern hinfällig. Nicht nur unser Leib verfällt, auch der Tempel aus Stein wurde zweimal zerstört. Umrahmt werden die hinfälligen Tempelbehausungen Gottes in der Bibel aber vom Zelt, von der leichtesten und flüchtigsten Behausung, die sich denken lässt.

Am Anfang wohnt Gott wie sein Volk im Zelt. Und ganz am Ende wieder. Es heißt Zelt der Begegnung. In der Züricher Übersetzung. Bei Luther das merkwürdige Wort „Stiftshütte“ oder ursprünglich sogar Hütte des Stiftes.

Der Gott Israels ging mit seinem Volk, ein Migrationsgott mit seinem Migrationsvolk. Für die Bundeslade, eine Art Reisetruhe für die Zehn Gebote, gab es ein Zelt, das außerhalb des Lagers stand. Dort konnte Mose Gott begegnen, um nach Rat zu fragen.

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Ein Zelt der Begegnung war uns auch dieser Kirchsaal. Hier begegneten wir Gott, indem wir sein Wort hörten, ihn um Rat fragten und zu ihm beteten. Und wir begegneten uns untereinander. Zelt der Begegnung. Hätte mir besser gefallen als Coligny-Saal, was wohl auch Manourys Idee war. Der lebte noch in der Zeit ungebrochener hugenottischer Heldenverehrung. Auch hier ändern sich die Zeiten.

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Diese erste Wohnung Gottes, dieses Zelt der Begegnung taucht am Ende der Bibel im himmlischen Jerusalem wieder auf. Das ist erstaunlich. Der große biblische Spannungsbogen scheint die Entwicklung der Menschheit abzubilden: vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit, vom Garten Eden in die Stadt, von den Zelten in die Häuser aus Stein. Das scheint zunächst auch bei Gott so zu sein. So lange das erwählte Volk auf Migration war, hatte auch Gott sein Zelt. Als es im verheißenen Lande sesshaft wurde, wurde auch Gott sesshaft im Tempel auf dem Zion.

Und am Ende der Bibel taucht Jerusalem auf als Vision aus dem Himmel, die ewige Stadt, in der alle Menschen und Völker kommen, um dem Gott Israels zu begegnen. Diese Vision ist visionär wie keine zweite: Es bleibt bei der Sesshaftigkeit, es bleibt dabei, dass es die Menschen in die Städte treibt. Nur Gott treibt es nicht mehr in einen Tempel.

Man sollte meinen, im ewigen Jerusalem wohnt Gott in seinem prächtigen Tempel. Aber es gibt dort keinen Tempel, auch keine Synagoge, keine Kirche, keine Moschee. Es gibt dort nur ein Zelt. Die Menschen dürfen sicher in Häusern aus Stein wohnen. Gott aber braucht kein Haus aus Stein. Er wohnt wieder im Zelt der Begegnung – mitten in der Stadt, dort wo sich die Menschen begegnen, die Menschen aus allen Ländern, Menschen aus allen Religionen. Wenn er wieder in einem Haus aus Stein wohnen wollte – würden sich doch alle fragen: Ist das ein Tempel, ein jüdischer, ein hinduistischer? Ist das eine Kirche, eine evangelische, eine katholische, eine Moschee, eine Synagoge? Was ist das? Aber ein Zelt ist nichts von alle dem. Das Zelt, in dem Gott wohnen wird, ist konfessionslos. Es hat kein Kreuz, kein Davidsstern, keinen Halbmond. Nur eine offene Plane und ist ganz weiß. Das Zelt der Begegnung von Gott und Mensch. Das Zelt der Begegnung von Mensch zu Mensch. Beides. Man wird bei den Begegnungen in diesem Zelt gar nicht mehr merken, ob man mit einem Menschen oder mit Gott gesprochen hat. Das ist dann auch egal.

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Aber so weit sind wir noch nicht.

Wir brechen unser Zelt hier ab und ziehen in die Mitte der Stadt. Nicht, um dort unser Zelt wieder aufzuschlagen, sondern um dort unseren temple, unseren Dom zu bewohnen – und zwar ab jetzt richtig – geistesgegenwärtig und gemeindegegenwärtig.

Dieser Dom ist so ein einmaliges Gebäude, dass er dort gleich zweimal steht, zum Verwechseln ähnlich, Französischer Dom und Deutscher Dom. Das ist dort am Gendarmenmarkt alles nicht ganz einfach: Wo ist die Kirche, wo ist das Museum, wo ist der Eingang? Aber immerhin sichtbar ist dieser Französische Dom, weithin und für alle sichtbar. Und genau das brauchen wir: Sichtbarkeit! Wir müssen uns doch nicht länger verstecken, Ludwig XIV ist tot, länger schon. Und schämen müssen wir uns auch nicht! Für was denn? Wir wollen gesehen und gefunden werden.

Auch wenn der Französische Dom ein kompliziertes Gebäude ist, eines, liebe Gemeinde, wird ab nächstem Jahr besser: Nach 40 Jahren – biblische Zahl! – sind wir wieder Chef im eigenen Hause. Der Pachtvertrag mit der Landeskirche läuft Ende des Jahres aus. Dann wird zwar im Französischen Dom nicht das Reich Gottes ausbrechen, denn Verträge und Mitbewohner und ökonomische Zwänge wird es weiter geben, aber wir werden nicht mehr das Gefühl haben, fremd im eigenen Hause zu sein.

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Und dieses Zelt hier? Wir lassen es stehen. Es ist ja nicht wirklich ein Zelt, es sieht nur so aus. Es soll weiterhin ein Ort der Begegnung sein. Aber nicht mehr ein hugenottisches, sondern ein ukrainisches. Der Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf will der Ukraine helfen, hier in Berlin ein Ukrainisches Kulturzentrum aufzubauen und interessiert sich stark für diese Räume. Wir sind noch in Verhandlungen, sicher ist das noch nicht, aber es könnte sein, dass hier bald ein Begegnungsort für Ukrainer mit ihren Künstlern, aber auch für Berliner mit ukrainischer Kunst und Künstlern sein wird.

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Irgendwie würde dieser Raum auch dann seiner Bestimmung treu bleiben: ein Zelt der Begegnung zu sein für Menschen, die flüchten mussten und die in dieser Stadt freundliche Aufnahme fanden.

Dass die historischen Flüchtlinge, die Hugenotten, den aktuellen Flüchtlingen helfen und dass sie dabei bezeugen: unser Gott ist ein Gott, der mit denen geht, die auf der Flucht sind, die auf der Suche sind nach einem besseren, einem freieren, einem sichereren Leben – das ist doch das Beste, was wir aus unserem Erbe machen können.

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Die Zelte abbrechen. Heute brechen wir die Zelte hier ab. Und irgendwann werden wir auch unsere Zelte am Gendarmenmarkt abbrechen und auch den Dom abbrechen. Irgendwann, wenn wir in einer Stadt leben, in einem neuen Jerusalem, in einem neuen Berlin, in der es keine Dome und keine Kirchen mehr geben wird, keinen Französischen, keinen Deutschen und keinen Berliner Dom, auch keine Moscheen und Synagogen und Tempel. Nicht, weil keiner mehr an Gott glaubt, sondern im Gegenteil: Weil alle an Gott glauben, den Gott, den sie vor Augen haben, weil er vor ihnen ist, in seinem Zelt mitten in der Stadt, mitten auf dem Gendarmenmarkt und mit allen spricht und alle ihn verstehen und alle die gleiche Sprache sprechen und alle das gleiche Lied singen. Wo es kein Leid mehr gibt, und kein Geschrei, kein Mein und Dein, kein Wir und Ihr, keine Abgrenzung und keine Ausgrenzung. Wo alle sein können wie sie sind, miteinander und mit Gott.

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Aber dort sind wir noch lange nicht. In dieser Welt bleibt nichts ewig. Wir waren auf der Pilgerschaft und sind es immer noch. Deshalb: Adieu, du edle Hütte, du schönes Zelt, du hast deine Zeit gehabt, es war eine gute Zeit, du hast uns gut gedient, hab tausend Dank, Gott befohlen, wir ziehen weiter, durch die Stadt und durch die Zeit, dem entgegen, der da kommt, Gott, ein Mensch, geboren in einem Stall, in einer Hütte oder war es doch ein Zelt?

„Jedoch weil ich gehöre gen Zion in sein Zelt, ist’s billig, dass ich mehre sein Lob vor aller Welt.“ (Paul Gerhardt, EG 302,8)

Amen.