Vor dem Anfang und nach dem Ende
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Und davor? Was war, bevor ich zur Welt gekommen bin? 

Da ist deine Schwester zur Welt gekommen. 

Und davor?

Da sind Mama und Papa zur Welt gekommen.

Und davor?

Da sind Opa und Oma zur Welt gekommen.

Und davor?

Ich liebte das „Und-davor-Spiel“. Ich war ein kleiner Junge, dessen Neugier erwacht war und dessen Verstand erste Sprünge in der Zeit versuchte. Und ich langweilte mich auf den ewigen Sonntagsspaziergängen mit meinen Eltern. Die Zeit verging schneller, wenn ich das „Und-davor-Spiel“ spielte. 

Und davor?

Haben die Urgroßmutter und der Urgroßvater gelebt.

Und davor?

Gab’s noch keine Autos und Flugzeuge.

Und davor?

Gab es noch Könige und Prinzessinnen und Ritter und Burgen.

Und davor?

Gab es die Römer und Griechen, und Jesus wurde in Bethlehem geboren. 

Und davor?

Regierte König Salomo mit Weisheit in Israel. 

Und davor?

Befreite Mose die Kinder Israels aus Ägypten.

Und davor?

Lebten Josef und Jakob und Isaak und Rebekka und Abraham und Sara. 

Und davor?

Lebten Adam und Eva.

Und davor?

Schuf Gott die Tiere auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer.

Und davor?

Schuf Gott die Bäume und die Blumen und das Gras, machte die Berge und die Flüsse und den Ozean.

Und davor?

Machte Gott Sonne Mond und Sterne.

Und davor?

Nichts. Jetzt sind wir am Anfang. Ende, jetzt ist Schluss, sagte mein Vater etwas genervt. 

***

Ich liebte dieses Spiel. Aber je öfter ich es spielte, desto schneller kam mein Vater an den Anfang und damit ans Ende, wurde immer schneller genervt, bis er eines Sonntags sprach: Nicht schon wieder, mein Sohn! 

Aber wir waren noch nicht am Ende. Der Anfang war noch nicht das Ende. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und was war davor? Es musste doch auch noch ein Davor geben!

***

Heute weiß ich die Antwort. Ich weiß, was Gott machte, bevor er Himmel und Erde geschaffen hat. Vielleicht wusste es mein Vater nicht, weil es nicht am Anfang der Bibel steht, sondern irgendwo mittendrin. Bevor Gott Himmel und Erde gemacht hat, spielte er. Und zwar mit der Weisheit. 

So jedenfalls steht es im 8. Kapitel der Sprüche:

Die Weisheit spricht: Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.
So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Mahnungen und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der auf mich hört, der Tag für Tag an meinen Türen wacht, die Pfosten meiner Tore hütet. Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn.

Das also macht Gott, bevor er Himmel und Erde gemacht hat. Er schaute der Weisheit zu, wie sie vor ihm spielte. 

Wer Zeit zum Spielen hat, hat’s gut. Und wer die Zeit hat, anderen beim Spielen zuzuschauen, hat’s auch gut. Die Weisheit hat’s gut. Gott hat’s gut. Und was die beiden dann machten, spielend, war auch gut, was sie sich ausdachten, mit viel Zeit – sechs Tage und ein Ruhetag oder sieben Millionen Jahre, denn tausend Jahre sind vor dir und beim Spielen wie ein Tag – was die beiden sich ausdachten, die kluge Weisheit und der liebe Gott, das war auch gut. An jedem Abend sagte Gott: Und sieh, es war gut. Zur Weisheit muss er es gesagt haben. Denn die spielte mit all die Tage. Ob sie immer noch mitspielt?

***

Heute kann ich das „Und-davor-Spiel“ nicht mehr so schön spielen, wie auf den ewigen Sonntagsspaziergängen mit meinem Vater. Auch nicht im Sonntagsgottesdienst mit euch. Wir können es ja mal versuchen, aber ich fürchte, es wird kein Kinderspiel mehr werden, auch wenn wir anfangen, wie damals, denn wir sind erwachsen geworden:

Und davor? Was war, bevor ich zur Welt gekommen bin? 

Da ist meine Schwester zur Welt gekommen. 

Und davor?

Da war der große Krieg. In dem sind viele Menschen getötet worden. Aber nicht mein Vater.

Und davor?

Da sind Vater und Mutter zur Welt gekommen.

Und davor?

Da war noch ein großer Krieg, in dem viele Menschen getötet wurden. Aber nicht mein Großvater.

Und davor?

Arbeiteten fast alle Menschen hart auf dem Feld.

Es gab oft nicht genug zu essen und viele Kinder mussten früh sterben. 

Und davor?

Hat Jesus Christus gelitten unter Pontius Pilatus, wurde gekreuzigt und begraben. 

Und davor?

Gab es die Römer und die Griechen und die Sklaven.

Und davor?

Die Eiszeit und die Neandertaler.

Und davor?

Noch keine Menschen, nur Tiere und die Dinosaurier.

Und davor?

Ein paar Vulkane und ein großes Meer.

Und davor?

Sterne.

Und davor?

Ein großer Knall.

***

Das Wort „Urknall“ hat mich immer fasziniert. Aber es war wohl gar kein Knall. An den Verschiebungen des Lichtspektrums erkennt man, dass die Sterne und Galaxien sich voneinander entfernen. Daraus schließt man, dass sie einmal alle an einem Punkt zusammen waren in einer fast unendlich hohen Materie- und Energiedichte. 

***

Und davor? Keiner weiß es. Man kann nur spekulieren oder spielen – mit den Gedanken. 

Wir können das „Und-davor-Spiel“ so oder so spielen. Als Kinderspiel oder als Erwachsenenspiel, mit biblischer Weisheit oder mit exakter Wissenschaft. Aber irgendwann kommt auch die Wissenschaft an einen Punkt, wo sie spielen muss oder darf. 

Vor den Anfang kommen wir nur in Gedankenspielen. Aber solches Spielen ist kreativ. Man kommt auf Gedanken in Gedankenspielen. Kinder spielen und schaffen sich spielend ihre Welt. Und das mit großem Ernst. Sie ordnen die Dinge und geben allem einen Namen, den Puppen und den Tieren, das ist mein Haus, das ist meine Straße und das ist mein Garten. 

Wenn Gott mit der Weisheit die Welt erschafft, ordnet er die Dinge und gibt allem einen Namen. Es scheint wie ein Kinderspiel, bei dem auch die Zeit sich ordnet und einen Takt bekommt.

Da ward aus Abend und Morgen ein Tag wie tausend Jahre. 

Die Weisheit spielt. Spielen ist kreativ und Kreativität braucht das Spiel. 

***

Lasst uns noch weiterspielen. Heute ist ja Sonntag. Feiertag, Spiele- und Spaziergehtag. 

Wir können das „Und-davor-Spiel“ auch in die andere Richtung drehen. Dann ist es das „Und-dann-Spiel“:

Und dann?

Werden meine Enkel geboren werden.

Und dann?

Werden Urenkel zur Welt kommen.

Und dann?

Wird es keine Bücher mehr geben und keine Lehrer, weil alles Wissen und alle Weisheit von der KI kommt.

Und dann?

Wird eine KI unser Bewusstsein bestimmen und unsere Körper abschaffen. Die bedürftigen und lästigen Körper brauchen wir dann nicht mehr. 

Und dann?

Wird die Sonne ausgebrannt sein, sich zur Supernova aufplustern und die Erde verschlucken. 

Und dann?

Dann werden wir längst als KI-Bewusstsein in den unendlichen Weiten des Alls unterwegs sein und unendlich glücklich sein und nie mehr sterben – jedenfalls solange Strom da ist und keine künstliche Dummheit den Stecker gezogen hat. 

Aber wird das nicht langweilig sein, noch langweiliger als ein Sonntagsspaziergang?

***

Ja, du hast recht, mein Sohn. Dieses Spiel macht keinen Spaß – trotz des unendlichen KI-Glücksversprechens. Wir spielen es nochmal. Jetzt spielen wir es mit mehr Sonntagstexten. Also nochmal!

Und dann?

Werden meine Enkel geboren werden.

Und dann?

Wird die KI ein altes Buch entdecken und daraus zitieren:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. (Jes 11,1-2)

Und dann?

Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Kind wird spielen am Loch der Otter … Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt. (Jes 11,6-9)

Und dann?

Und [Gott] wird bei ihnen wohnen, … und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!  (Offb 21,3-5)

Und dann? 

Dann wird alles vergessen sein und die Zeit wird dich nicht mehr quälen, nicht mehr das, was war, und nicht mehr die Frage, was wird. 

Und dann? 

Wird Gott spielen, mit der Weisheit und mit uns. 

Vor allem Anfang und nach allem Ende wird gespielt. Beim Spielen vergisst man die Zeit. Vor allem Anfang und nach allem Ende gibt es keine Zeit. Sie ist zur unendlichen Gegenwart verdichtet im ewigen Moment. Ganz ohne Knall.

***

Die Weisheit spielt vor Gott und hat ihre Lust an den Menschenkindern. Das tut sie immer noch. Nur manchmal versteckt sie sich, die Weisheit, spielt das alte Verstecken-Spiel. Dann musst du bis zehn zählen, mit deinen Fingern oder besser noch mit den Zehn Geboten und sie suchen. Denn – sagt die Weisheit – Wer mich findet, der findet das Leben

Amen.

Gebet:

Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde,

du hast alles geschaffen, hast alles beim Namen gerufen und hast alles weise geordnet. 

Gib uns Weisheit von deiner Weisheit, dass wir die Ordnung alles Geschaffenen erkennen und bewahren. 

Gib uns Weisheit von deiner Weisheit, dass wir die Zeiten recht verstehen und wissen, was dran ist und was nicht dran ist. 

Gib uns die Klugheit, das Richtige von dem Falschen zu unterscheiden. Gib uns Klarheit, die das Gute sieht und das Böse entlarvt. Gib uns die Wachsamkeit, zum rechten Zeitpunkt einzuschreiten, und die Gelassenheit, die Dinge laufen zu lassen, die gefahrlos laufen können. 

Gib uns Vernunft, wo Vernunft gefragt ist, und Gottvertrauen, wo die Vernunft zu Ende ist. 

Gib uns Mut, für die Wehrlosen zu kämpfen und für die Rechtlosen uns einzusetzen, und dämpfe die Wut, die nur noch zerstören will. 

Wir bitten dich um Weisheit für die neue Regierung und um Glaube und Hoffnung und Liebe für den neuen Papst. 

Nimm dich aller an, die in dieser Woche zur Welt kommen, nimm dich aller an, die in dieser Woche sterben. Amen. 

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