Liebe Gemeinde, bevor ich mit der Predigt beginne, lasst mich kurz ins Handy schauen, um zu sehen, obs was Neues gibt. Ich will nicht wissen, ob wir endlich noch ne Goldmedaille gekriegt haben, sondern ich will wissen, wie’s mit dem Krieg in Nahost steht.
Manchmal grübelt man Tage über einer Predigt und überlegt sich, was uns das heute sagen könnte. Und manchmal weißt du nicht, ob die Gedanken, die du dir tags zuvor zur Predigt gemacht hat, noch aktuell sind. Dann schaust du mehr in die Nachrichtenapp deines Handys als in die Bibel.
So war das diese Woche. Am Mittwoch wachte ich mit der Meldung auf, dass die Israelis den Hamas-Chef Hanija in Teheran getötet haben. Am nächsten tag drohen die Iraner mit massiven Vergeltungsschlägen.
Heute ist Israelsonntag. Der erste nach dem 7. Oktober 2023.
Es ist Krieg im Nahen Osten. Es fliegen Raketen. Aus dem Gazastreifen nach Israel (flogen sie auch schon vor dem 7. Oktober) und aus Israel in den Gazastreifen. Aus dem Libanon nach Israel und aus Israel in den Libanon. Aus Israel nach Teheran und vielleicht auch bald wieder aus dem Iran nach Israel.
Aber es gibt einen Unterschied in den Raketen und ich finde, der technische Unterschied weist auch auf einen moralischen Unterschied.
Die Raketen aus dem Gazastreifen und aus dem Libanon sind ungelenkte Dinger, die nur grob die Richtung halten. Mehr müssen sie auch nicht. Sie sollen Juden töten. Wahllos. Die Raketen aus Israel sind Hochpräzisionsgeschosse. Auch sie töten. Aber sie töten nicht wahllos. Sie töten ausgewählte Verantwortliche. Dass die Israelis dabei auch unschuldige Opfer in Kauf nehmen, müssen sie mit ihrem Gewissen verantworten. Die Frage, ob und wie es sich moralisch verantworten lässt, ist sehr schwer zu beantworten und ich bin froh, dass ich das heute hier nicht tun muss.
Das also ist die Situation. Es ist Krieg, es fliegen Raketen, es sterben Menschen, Menschen mit Blut an den Händen und auch Menschen ohne Blut an den Händen. Und keine weiß, wo das enden wird.
Hier ist der Predigttext für heute:
20So spricht der Herr Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, 21und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den Herrn anzuflehen und zu suchen den Herrn Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. 22So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den Herrn Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den Herrn anzuflehen. 23So spricht der Herr Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.
Viele Völker und Nationen kommen nach Israel, nach Jerusalem, um den Gott Israels anzubeten und von ihm Weisung zu erhalten. Diese Vision aus dem Buch des Propheten Sacharja gibt es noch öfter in der hebräischen Bibel. Es eine der Kernvisionen Israels, ein wiederkehrendes Motiv in Variationen. Die Theologen nennen sie „die Völkerwallfahrt zum Zion.“
Liebe Gemeinde, heute will ich der Frage nachgehen: Ist diese Vision für die verfahrene Situation mit und um Israel seit dem 7. Oktober eine Hilfe oder gerade nicht? Das gibt jetzt weniger eine Predigt, sondern mehr eine Erörterung. Aber am Israelsonntag ist das o.k. Am Israelsonntag geht es um das Verhältnis Christentum – Judentum, Kirche und Israel. Das ist weniger ein seelsorgerliches als mehr ein theologisches Thema.
Ist die Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion der jetzigen verfahrenen Situation eine Hilfe oder nicht? Ich sammele Argumente und beginne mit dem Nein.
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1. Nein, die biblische Vision von der Völkerwallfahrt ist keine Hilfe.
Die Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion lädt die ganze Situation religiös ungeheuer auf. Der Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn ist aber auch deshalb so verfahren, weil er nicht nur ein Konflikt um Land oder Rohstoffe ist, sondern eben auch ein Krieg der Religionen. Der vordere Orient ist das Kernland des Islam und mitten in diesem Kernland haben sich die Juden festgesetzt. So sehen es viele Muslime. Und viele Juden sagen, dass das schon immer ihr Land war, das Land, das Gott ihnen gegeben hat, und zwar lange vor dem Islam. Religiöse Argumente führen nur zur Verhärtung des Konflikts. Eine Lösung kann es nur geben unter Absehung der Religion im Geiste eines aufgeklärten Humanismus, zu dem Juden ebenso wie Palästinenser, aber auch Iraner fähig sind. Dass es im Moment so schlimm ist, liegt auch daran, dass religiöse Fanatiker gerade auf allen Seiten starken politischen Einfluss haben, in der Regierung Netanjahus ebenso wie in der Hamas und im Iran. Die weniger religiös aufgeladenen Regierungen etwa die offizielle Regierung des Libanon oder die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland sind sehr schwach.
Hilfreich ist die Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion auch deshalb nicht, weil sie einem gewissen jüdischen Triumphalismus Ausdruck zu verleihen scheint. Sie könnte so verstanden werden, dass die Juden sagen: Wir haben gewonnen. Ihr kommt zu uns, nicht wir zu euch. Ihr betet unseren Gott an, nicht wir euren. Ihr habt eingesehen, dass unser Gott der einzige Herr von Himmel und Erde ist, dass alle Völker in seiner Hand sind und dass ihr gut daran tut, euch an seine Weisungen zu halten.
Der Vorwurf einer gewissen jüdischen Überheblichkeit ist fester Bestandteil des Antisemitismus-Baukastens. Danach halten sich die Juden für was Besseres. Man sollte mit biblischen Texten vorsichtig umgehen, die noch Öl in dieses immer noch lodernde Feuer gießen und den Vorwurf jüdischer Überheblich biblisch zu belegen scheinen.
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2. Jetzt zum Ja: Ja, die Vision von der Völkerwallfahrt zu Zion kann gerade in dieser verfahrenen Situation helfen.
Der Nahostkonflikt ist in der Tat auch ein religiöser Konflikt und ist auch deshalb so schwer zu lösen. Aber religiöse Konflikt lassen sich nicht dadurch lösen, dass man die Religion ausblendet. Darauf, dass die Religion irgendwann keine Rolle mehr spielt oder sich zumindest als politischer Faktor auflöst, wird man lange warten müssen.
Viel aussichtsreicher wäre es, den religiösen Konflikt religiös zu lösen. Dabei kann die Theologie helfen und zwar gerade unter Berufung auf das biblische Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion.
Denn diese Vision ist mitnichten ein Ausdruck von Triumphalismus. Es geht in ihr gar nicht um einen Wettstreit der Religionen. Es gibt in Jerusalem keine Religionsolympiade, bei der Israel die Goldmedaille gewinnt. Das Judentum hat nie versucht, die anderen Religionen niederzuringen. Aber die anderen haben das versucht. Es wäre viel berechtigter, sowohl dem Christentum als auch dem Islam religiösen Triumphalismus vorzuwerfen als dem Judentum. Viele Jahrhunderte glaubten Christen, dass die Kirche Israel als das erwählte Volk abgelöst habe und die Juden, die sich nicht taufen lassen und zur Kirche kommen wollten, verworfen seien. Allerdings hat ihn oft auch die Taufe nichts genützt. Dieser christliche Antisemitismus hat sich sogar mit wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Hüllen gekleidet und Untersuchungen über die spirituelle oder moralische Überlegenheit des Christentums hervorgebracht. Im Islam kenne ich mich nicht so aus, bin aber sicher, dass es all das auch dort gab und gibt.
Das Christentum und der Islam sind missionarische Religionen. Sie wollen wachsen, sie wollen möglichst viele Menschen von sich überzeugen und gewinnen. Das Judentum ist das nicht.
Das scheint mir entscheidend zu sein für das Bild von der Völkerwallfahrt zum Zion. Die Völker kommen nicht Zion, weil die Juden alles darangesetzt haben, die Völker von sich zu überzeugen. Israel hat nie Werbung für sich gemacht. Die Völker kommen aus eigener Einsicht. Sie kommen, weil sie bei sich selber nachgeschaut haben und so zur Überzeugung gelangt sind, dass man mit dem Gott Israels besser fährt. Nach Jerusalem fährt man nicht zur Olympiade. Die Reise nach Jerusalem ist immer nur eine Bildungsreise. Es gibt dort keine Medaillen, keine Sieger und Verlierer, es gibt dort nur Einsicht.
Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.
Zehn zu eins. Israel ist klein. Das von Gott erwählte Volk bleibt klein. Die anderen sind viel mehr. Es werden in Jerusalem viel mehr Christen und viel mehr Muslime sein als Juden. Das macht nichts. Denn die vielen haben eingesehen, dass Gott mit diesen wenigen ist. Und das heißt ja nicht, dass er dann nicht auch mit diesen vielen anderen ist. Es gibt keine Konkurrenz um die Erwählung. Alle sind erwählt, aber eben am Rockzipfel Israels. Und dieser eine jüdische Mann, an dessen Rockzipfel wir Christen uns hängen, um hinauf nach Jerusalem zu gehen und den Gott Israels anzubeten, der heißt Jesus Christus.
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Es hat sehr lange gedauert, bis die Kirche das eingesehen hat. Und man muss wohl annehmen, dass die Kirche es ohne den Schock der Shoa immer noch nicht begriffen hätte. Es hat nicht nur unendlich viel Zeit gebraucht, es hat auch Millionen von ermordeten Juden gebraucht, damit wir einsehen, dass Gott sein Volk nicht verworfen hat und wir nur mit und über sein erwähltes Volk Gottes Kinder werden. Das darf sich nicht wiederholen. Auch bei den Muslimen darf sich das nicht wiederholen. Gebet Gott, dass die Muslime besser, schneller und endlich ohne Hass und Gewalt gegen die Juden zur Einsicht kommen, dass die Juden keinen anderen Gott anbeten als Allah, und dass das Bekenntnis der Gläubigen zu Allah nur dann wahrhaftig ist, wenn es auch ein Bekenntnis zum Gott Israels ist.
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Warum also sollte die uralte Hoffnung Israels nicht doch einmal Wirklichkeit werden? Nicht mit dem Verschwinden der Religion aus Jerusalem wird dort Frieden einkehren, sondern mit der Religion. Nicht mit dem Verschwinden des Gottes Israels wird Frieden einkehren, sondern mit nur mit dem Gott Israels.
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Reise nach Jerusalem. Mit einem Juden kommen zehn andere aus den Völkern, zehn Nichtjuden dorthin – um anzubeten. Sie beten alle den einen Gott an. Und das ist nicht ein über den drei Religionen stehender Gott oder einer hinter ihnen sich verbergender Gott, sondern es ist der Herr Zebaoth, es ist der Gott Israels.
Christen kommen und pilgern nicht mehr durch die Via dolorosa zur Grabeskirche, sondern gehen auf den Tempelberg und beten den Herrn Zebaoth an. Muslime kommen und bewachen nicht mehr misstrauisch den Tempelberg, sondern beten auf ihm den Gott Israels an. Und die Juden beten nicht mehr unten an der Klagemauer, sondern loben oben auf dem Tempelberg den Herrn Zebaoth.
Es ist eine Utopie, liebe Gemeinde. Es ist etwas, was nach der Bedeutung des Wortes Utopie in dieser Welt keinen Platz findet.
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Aber gerade der Gott Israels macht aus Utopien Orte der Verheißung. Sacharja ruft: So spricht der Herr Zebaoth: Selbst wenn das dem Rest dieses Volkes in dieser Zeit unmöglich scheint, sollte es darum auch mir unmöglich scheinen? (Sach 8,6)
Dieser Herr Zebaoth ist ein Gott der Ermöglichung. Ein Gott, der aus Utopien Verheißungen macht und aus Verheißungen Erfüllungen, ein Gott, der die Toten lebendig macht, ein Gott, der einen langen Atmen hat, aber die Visionen seiner Propheten nie vergisst.
Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, 3und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. 4Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
5Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn! (Jes 2,2-5)
Amen.