Beglitzert euch!
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, schreibt Paulus (Röm 1,16).

Und ich unterschreibe. Auch ich schäme mich des Evangeliums nicht. Es ist eine Kraft, eine Kraft Gottes, die Kraft Gottes, die im und durch den Glauben kommt. Eine Kraft, die mich zerrissenen Menschen durchs Leben bringt. Die Kraft, die mich am Leben hält, weil Gott mir gut zuredet. Dieser Kraft Gott schäme ich mich nicht. Nein, des Evangeliums schäme ich mich nicht. Nicht des Evangeliums.

Aber…

Im Sommer war ich in Brandenburg. Brandenburg ist schön. Im Sommer. Ein See, ein Schloss, ein Kirchlein. So ist das überall in Brandenburg. See, Schloss, Kirchlein. Das Kirchlein war offen. Kleine Seitentür. Große Vordertür gab’s gar nicht. Angenehme Kühle. Mich begrüßt ein Spiegel in Goldrahmen auf einem Stuhl. Wie mit Lippenstift stand auf dem Spiegel geschrieben: „Du bist willkommen und gesegnet. Denke liebevoll an dich und segne dich. Nimm Glitzer dazu“. Auf dem Stuhl eine Tube Glitzer.

Wunderbar. Was will man auch machen auf dem Dorf, wenn schon lang keine Pfarrerin, kein Pfarrer mehr da ist. Muss man sich selber helfen, muss man sich selber segnen. Und gleich die Anleitung dazu: Liebevoll an sich denken und Glitzer dazu nehmen.

Mich hat das sehr berührt. Aber in einer doppelten, ambivalenten Weise. Einerseits hat mich die liebevolle Originalität berührt, mit der da vermutlich eine Älteste der Gemeinde sich etwas ausgedacht hat, um Besucher zu begrüßen und zum Schmunzeln zu bringen. Begrüßung mit niederschwelliger Spiritualitätsanleitung. Andererseits habe ich mich auch ein bisschen geschämt. Eher unangenehm berührt hat mich die Unbedarftheit, die – wie so ich es nennen? – kleinbürgerliche Niedlichkeit, mit der hier das Evangelium, die Kraft Gottes verzwergt wird. Denk liebevoll an dich und nimm ein wenig Glitzer. Spieglein, Spieglein auf dem Stuhl…

Natürlich kann man Besucher*innen nicht mit dem auf dem Stuhl aufgeschlagenen Römerbrief begrüßen. Da ist ja viel zu viel von Sünde die Rede und diese Rede ist nicht niederschwellig, sondern so hochschwellig, dass jeder, der reinkommt, über so viel Sünde erstmal stolpert. Aber sollte man nicht stolpern, wenn man in die Kirche kommt?

Der Römerbrief hält Gedanken eines Menschen fest, dem es gar nicht gelingt, liebevoll an sich selbst zu denken. Die Gedanken eines Menschen, der über sich gestolpert ist, der von inneren Kämpfen zerrissen wird, dessen Seele blutet. Der, wenn er in einen Spiegel sieht, nur ein dunkles Bild sieht, und sich danach sehnt, von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

Im Römerbrief begegnet uns ein Mensch, der sich sehr müht, ein guter Mensch zu sein. Ein Mensch, der tun will, was man dazu tun muss, und der auch für Gott tun will, was Gott verlangt. Aber ihm gelingt es nicht. Er weiß, was zu tun ist, aber es gelingt ihm nicht. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. (Röm 7,18f), schreibt er. Das klingt ein bisschen wie Karl Valentin, ist aber sehr ernst gemeint. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Kennen Sie das? Ich kenne es. Alle kennen es, behauptet Paulus.

Und dann fügt er einen Satz höchster Verzweiflung an. „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen?“ (7,24)

Wem gelingt es, liebevoll an sich selbst zu denken? Wer ist entzückt, wenn er sich im Spiegel sieht? Es gibt Menschen, denen das Narzissten gelingt. Die fühlen sich von Natur aus gesegnet und finden überall Glitzer. Aber mit guten Beziehungen tun sie sich schwer. Die meisten Menschen können nicht liebevoll an sich denken, wenn sie sich im Spiegel sehen.

Was bedeutete es denn, in die Kirche zu gehen? An den Eingang einen Spiegel hinzustellen, ist schon eine gute Idee. Wer in die Kirche kommt, sieht sich in einem Spiegel. Aber nicht, um sich dann zu schminken, sondern um sich ungeschminkt zu sehen und den Blick auszuhalten. Hier, in diesem geschützten Raum kann die Wahrheit über mich ausgesprochen werden. Dass ich Angst habe in bestimmten Situationen; dass ich einen Widerwillen gegen bestimmte Menschen habe; dass ich wie gelähmt wie, wenn ich dies oder jedes machen soll; dass ich bestimmt Gedanken scheue, weil mir die Tränen kommen, wenn ich daran denke; dass ich so wütend bin, weil meine Eitelkeiten nicht bedient werden; dass sich so neidisch bin, weil den anderen alles immer besser gelingt als mir; dass ich so schüchtern bin, weil mir nie die richtigen Worte einfallen; dass ich so alle bin und nicht mehr kann, keine Kraft mehr habe, um noch irgendwas sinnvolles beitragen zu können; dass ich gern so viel mehr machen würde, aber nicht weiß, wie ich es anpacken kann.

Spieglein, Spieglein auf dem Stuhle …. Es gibt so viele Gesichter, die ziemlich alt aussehen, wenn sie in den Spiegel sehen. Eigentlich alle, auch die jüngeren. Und hier ist der Ort, wo man das sehen darf, wo man das sagen darf, wo man das stehen lassen darf. Und vor allem: hier ist der Ort, wo es auch Gott sehen darf. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ – Jahreslosung für 2023.

Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest (2,1), schreibt Paulus und auch das unterschreibe ich, denn so ist es.

Die Kirche ist der Ort, an dem ich in den Spiegel schauen kann und das ungeschminkte Bild von mir aushalten kann. Weil ich weiß: Gott hält es auch aus. Gott kriegt keinen Wutausbruch, wenn er mich so sieht.

Das, was die Theologen die Rechtfertigung allein aus Glauben nennen, die Paulus vor allem im Römerbrief entfaltet habe, das übersetzen wir in der Predigt und in geistlichen Worten oft in die Formel: Gott nimm uns so an wie wir sind. Das stimmt auch. Aber, damit uns das auch wirklich was sagen kann, müssen wir auch den Mut haben, es uns zuzugestehen, es auszusprechen wie wir sind. Den ungeschminkten Blick in den Spiegel auszuhalten und auszusprechen, was wir da für trübe Gesichter sehen. Gar nicht liebevoll.

Nein, liebevoll an mich denken, das gelingt mir nicht. Ich brauche andere, die Liebevolles zu mir sagen. Und es so sagen, dass es nicht nur so gesagt ist, sondern dass man‘s auch glauben kann. Wir brauchen liebevolle Worte. Davon leben wir, davon lebt die Seele. Und wir brauchen Gott, der Liebevolles zu uns sagt. Und er sagt sie, die liebevollen Worte.

Paulus hat sie gehört und hat sie in seinen Briefen aufgeschrieben. Liebevolle Worte von Gott. Fette Worte von Gott. In der Lutherbibel sind sie auch fett gedruckt. Das mag ich ja an der Lutherbibel.

So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. (8,1) Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. (8,14)

Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden. (8,17)

Fette Worte, die die Seele nähren. Nachhaltig. Und wunde Seelen salben. Worte, die segnen. Denn du kannst dich nicht selbst segnen, wenn du kein Narzisst bist.

Und weil Paulus einen unerschütterlichen Glauben an die Güte und die Großmut Gottes hatte, weil er die zuversichtlichen Worte in seiner wunden Seele gehört hat, kann er kühne Schlussfolgerungen ziehen:

Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist. (5,1-5)

Da ist alles drin: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe. Und auch ein wenig Glanz, Glanz Gottes, Herrlichkeit Gottes.

Insofern ist Glitzer gar nicht verkehrt. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die dich aufrichtet und ganz und heil macht. Und dir Glanz verleiht, ein bisschen vom Glanz Gottes. Nimm Glitzer dazu.

Ich habe Glitzer mitgebracht. Drei Farben Glitzer.

Goldglitzer für den Glauben: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben (3,28)

Roter Glitzer für die Liebe: denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist. (5,5)

Grüner Glitzer für die Hoffnung: Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. (8,24)

Ich werde heute am Ausgang euch nicht nur einen schönen Sonntag wünschen, sondern euch auch beglitzern. Sie wählen aus, was Sie am meisten bekommen haben: Stärkung des Glaubens, dann gold; Stärkung der Liebe, dann rot; Stärkung der Hoffnung, dann grün.

Beglitzert euch. Gott denkt liebevoll an euch. Und dann können wir es auch. Wenn Gott uns heil sieht, dann können wir uns annehmen und schminken. Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben. Beglitzert euch!

Amen.