Erst Gerechtigkeit, dann Friede
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist. Wer darin Christus dient, findet Wohlgefallen bei Gott und Anerkennung bei den Menschen. Wir wollen uns also einsetzen für das, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient!

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Schwarze Rauchsäulen, zertrümmerte Häuser, ausgebrannte Panzer, Plastikplanen, die Leichen zudecken. Schreckliche Bilder. Wir sehen sie jetzt jeden Abend, liebe Gemeinde. Seit einem halben Jahr geht das so. Bilder, die nicht von weit her, aus irgendeiner Wüste, aus einer anderen Welt kommen, sondern Bilder, die vor unserer Haustür gemacht wurden. Aus dem Nachbarland unseres Nachbarlandes. Manchmal ist mir, als könnte ich den schwarzen Rauch schon am Horizont sehen.

Die Einschläge hören wir noch nicht, aber wir merken sie im Geldbeutel. Alles ist teurer geworden seit dem Krieg in der Nachbarschaft ist. Vor allem die Energie und das Essen. Menschen gehen deswegen auf die Straßen und protestieren. Sie protestieren, weil das Essen so teuer geworden ist. Nicht gegen den, der den Krieg vom Zaun gebrochen hat.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist.

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Seit einem halben Jahr diskutieren wir über den Frieden und den gerechten Krieg. Wir glaubten, es gäbe wenigstens in Europa eine Friedensordnung, die von allen akzeptiert wird. Dass wenigstens in Europa jeder die Grenzen seines Nachbarn akzeptiert. Es war mehr Wunsch als Wirklichkeit. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. (Schiller, Wilhelm Tell).

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, nicht nur Wohlstand, es ist auch Frieden. Aber nicht nur Frieden, sondern auch Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Frieden.

Gerechtigkeit misst sich nicht an Stärke, sondern an Schwäche. Der Schwache gibt den Maßstab, der Schwache legt das Gewicht in die Waagschale der Gerechtigkeit. Wenn der Schwache nicht zu seinem Recht kommt, wenn der Schwache nicht beruhigt sein kann, dass sein Recht gewahrt bleibt, gibt es keine Gerechtigkeit.

Die Stärkeren müssen der Versuchung widerstehen, Stärke in Recht umzuwandeln. Dann würde aus dem Recht des Schwächeren, an dem allein sich Gerechtigkeit messen darf, das Recht des Stärkeren. Das Recht des Stärkeren aber setzt Unrecht.

Gott hat sich nicht umsonst das kleine Israel als sein Volk erwählt, um an dieser Erwählung Gerechtigkeit offenbar zu machen. Nicht das große und starke Assyrien, Ägypten, Babylonien, nicht das griechische Weltreich des Alexander, nicht das römische Reich der Cäsaren hat er erwählt, sondern das kleine und schwache Israel ist das Land, ist das Volk, an dem Gott sichtbar macht, was Gerechtigkeit ist. Sie bemisst sich am Schwachen, nicht am Starken.

Es sind die Starken, die der Versuchung erliegen, ihren Interessen gegen die Schwachen durchzusetzen und damit Recht in Unrecht zu verkehren.

Russland nimmt sich das Recht des Stärkeren und wird zum Terrorstaat. China nimmt sich dieses Recht und zeigt auch Tendenzen zur Willkür. Nazi-Deutschland nahm sich dieses Recht und wurde zum Terrorstaat. Auch eine gefestigte Demokratie wie die USA ist nicht frei von der Versuchung, das Recht des Stärkeren zu reklamieren,

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Ich will an ein Kriegsverbrechen der Amerikaner erinnern. My lai, Vietnam, 16. März 1968.

Haben Sie davon schon gehört? Vielleicht, wenn Sie in der DDR groß geworden sind. Denn Do Ba hat das Massaker überlebt und wurde von den Kommunisten in Vietnam in alle Ostblockländer geschickt, um von den Massakern der Amerikaner zu erzählen. Do Ba war auch in der DDR.

Am 16. März 1968 kam etwa hundert GI mit ihren Hubschraubern ins Dorf My lai und erschossen fast alle Einwohner, alte Männer, Frauen, Kinder, insgesamt 504 Menschen. Viel Frauen wurde erst vergewaltigt, bevor sie erschossen wurden. Gegnerische Soldaten waren dort nicht.

Was aber Do Ba nicht erzählen durfte und was deshalb nicht so bekannt ist, ist, wie er und wenige andere das Massaker überlebt haben.

Hugh Thompson flog mit seinem Hubschrauber über My lai und traute seinen Augen nicht. Er hatte an diesem Tag den Auftrag, aus der Luft aufzuklären und gegnerische Soldaten aufzuspüren. Er spürte aber nur alte Männer, Frauen, Kinder und Tiere auf. Tot in einem Graben. Er konnte nicht glauben, was er sah: Die eigenen Soldaten erschossen sie alle, auch die Tiere. Er glaubte erst an einen Irrtum, landete und versuchte mit einem Captain zu reden. Da wurde ihm klar, es war kein Irrtum. Er hob ab und fand einen Unterstand mit etwa einem Dutzend Dorfbewohnern. Er landete und lockte sie in seinem Hubschrauber. Dem Copiloten und dem Bordschützen befahl er auszusteigen und notfalls auf die anrückenden GIs zu schießen.

Später kam er nochmal zurück mit seinem Hubschrauber, landete an dem Graben voller Leichen. Er entdeckte unter den Leichen einen Jungen, etwa 10 Jahre alt. Er lebte. Der Copilot nahm den kleinen Do Ba auf seinen Schoß, und Hugh Thompson flog ihn ins Krankenhaus. Nicht der Junge weinte, sondern Hugh Thompson weinte. Hugh Thompson sei ein patriotischer Amerikaner aus einem streng christlichen Elternhaus gewesen, ist in der Wochenzeitung „Die Zeit“ über ihn zu lesen (Die Zeit vom 6.10.2022).

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Das Reich Gottes ist noch nicht da. Wo Krieg ist, kann es nicht da sein. Aber es blitzt auf in Menschen wie Hugh Thompson. Das Reich Gottes macht sich bemerkbar in Menschen, die Mensch geblieben sind, wenn um sie alles unmenschlich wird. Der Krieg entmenschlicht die Menschen, egal, ob sie Russen, Deutsche oder Amerikaner sind. Er entmenschlicht alle Menschen, die meinen, Krieg führen zu müssen. Es sind immer nur Einzelne, die dieser Entmenschlichung widerstehen. In Hugh Thompson sandte die neue Welt Gottes ihre Strahlen in die alte Welt der Ungerechtigkeit, der Gewalt und des Leids. Hugh Thompson war nicht ein amerikanischer Patriot, er war auch ein Patriot des Reiches Gottes.

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Und noch etwas ist wichtig, damit die Welt Gottes ihre Hoffnung in unsere Erde säen kann. Wir müssen die blutgetränkte Erde aufgraben. Wir dürfen kein Gras über diese Felder der Unmenschlichkeit wachsen lassen. Wir müssen erinnern.

Die Amerikaner konnten das Massaker von My lai nicht lange unter der Decke halten. Ein Jahr später schon gab es Zeitungsberichte und eine Untersuchung. In Amerika und Europa kippte die Stimmung gegen diesen Krieg schnell. Es kam überall zu Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen.

Die Massaker der Russen im Ukrainekrieg müssen auch ans Licht gebracht werden. Und zwar von den Russen selbst. Irgendwann einmal. In hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft. Die Russen haben allerdings noch nicht einmal angefangen, die Gräueltaten der Stalinzeit aufzuarbeiten. Gut, dass Memorial den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Blut haben nicht nur die Russen an ihren Händen. Auch die Amerikaner und die Deutschen, auch die Briten und die Franzosen, die Japaner und die Chinesen. Blut haben alle Nationen an den Händen, die groß und stark sein wollen. Aber die Russen sind noch zu schwach, den Blick auf ihre blutigen Hände auszuhalten.

Nur mit dem Mut zu diesem Blick, nur mit dem Erschrecken über die eigene Unmenschlichkeit, nur mit dieser Scham bekommt man ein Gespür für die Gerechtigkeit, aus der das Reich Gott gebaut ist. Damit Friede und Freude dort einziehen können, ist das Reich Gottes gebaut aus Gerechtigkeit. Weil das Reich Gottes aber ein Reich dieser Welt sein will, ist sein Fundament Reue, Scham und Vergebung. Erst wenn zu den Tränen der Opfer auch die Tränen der Täter in die Erde fließen, wird sie fruchtbar sein für das Reich Gottes.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist. Wer darin Christus dient, findet Wohlgefallen bei Gott und Anerkennung bei den Menschen. Wir wollen uns also einsetzen für das, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient!

Amen.

 

Gebet

Dein Reich komme, Gott!

Erst komme Gerechtigkeit und dann Friede und dann Freude.

Lehre uns erst die Gerechtigkeit nach dem Maßstab deiner Gerechtigkeit, die am Schwachen Maß nimmt, und nicht am Starken.

Gott, lehre uns nach deinen Sätzen den Frieden, nach deinen Haupt- und Nebensätzen. Und nicht nach unseren Grundsätzen, mit denen wir uns oft genug zugrunde richten.

Gott, setz uns Jesus mit an unsere runden Tische, in unser Parlament und unsere Regierung, auf dass wir ihm auf unseren Gedankengängen begegnen.

Wir danken dir für die Menschen, die in aller Grausamkeit die Menschlichkeit bewahren. Wecke den Menschen ihr Gewissen, vor allem den Soldaten.

Dein Reich ist nicht Essen und Trinken. Aber gib allen zu essen und zu trinken, die zu wenig davon haben, solange dein Reich noch nicht da ist.

Dein Reich komme, Gott!

Erst komme Gerechtigkeit und dann Friede und dann Freude.

Dein Reich komme und geheiligt werde dein Name, der Name dessen, der da war und der da ist und der da kommt.

Amen.