Kommt man im Alter Gott näher?
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Es ist Herbst. Die Blätter fallen, die Gedanken werden schwerer, die Tage kürzer und der Geist dunkler.

Ich werde heute nicht viel über Gott sagen. Er kommt in dem Text, über den heute zu predigen ist, kaum vor. Nur ganz am Anfang und am Schluss und fast beiläufig. Ich werde aber viel über das Altern nachdenken und muss aufpassen, dass ich nicht nur über mich rede.

Gedanken aus dem Buch des Predigers. In der hebräischen Bibel heißt dieser nüchtern und leicht skeptisch denkende Mensch Kohelet, der Versammler. Er ist tatsächlich mehr ein Gedankensammler als ein Prediger. Hier seine Gedankensammlung übers Altwerden.

Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; 2ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – 3zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, 4wenn die Türen an der Gasse sich schließen,

Wenn das Geräusch der Mühle leise wird und hoch wie das Zwitschern der Vögel und alle Lieder still verklingen.

5wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, und der Mandelbaum blüht, und die Heuschrecke wird schwer, und die Kaper bricht auf.

Denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und durch die Straße ziehen die Klagenden; – 6ehe der silberne Faden zerreißt und die goldene Schale zerspringt und der Krug an der Quelle zerschellt und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt 7und der Staub zurückkehrt zur Erde, wie es gewesen ist, und der Geist zurückkehrt zu Gott, der ihn gegeben hat.

Es ist Herbst. Die Blätter fallen, die Gedanken werden schwerer, die Tage kürzer und der Geist dunkler.

Nein, ich will nicht über das Alter klagen, obwohl es der Text ein bisschen tut. Das Alter, das seien die bösen Tage und die Jahre, von denen alle sagen: Sie gefallen einem nicht mehr,

wenn die Hüter des Hauses zittern. Sind das die Hände, die anfangen zu zittern? Oder steif zu werden?

Wenn die Starken sich krümmen – sind das die Beine, die krumm werden und unbeweglich?

Wenn müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, sind das die wenigen Zähne, die übriggeblieben sind und dafür sorgen, dass das Essen keinen Spaß mehr macht?

Wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, sind das die Augen, die trübe geworden sind und nicht mehr richtig sehen?

4wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird, sind das die Ohren, die nicht mehr so gut hören, was die anderen sagen. „Bist du schwerhörig?“ fragt meine Tochter. Ich sage: „Nein, du redest so schnell und nuschelst dabei!“ Oder sind doch die Türen schon halb zu, dass sie das Beiläufige nicht mehr wahrnehmen?

Wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, ist das die Wackeligkeit zu Fuß und dass die Treppe ohne Geländer ein No-Go ist und irgendwann auch die mit Geländer es wird? Was bin ich früher auf die hohen Berge gehüpft und wieder runter, wie ein junger Steinbock! Denk an die leichtfüßigen Tage in deiner Jugend.

Nein, ich will nicht über das Altern jammern. An das ständige Wechseln der Brille habe ich mich gewöhnt. Letzten Sonntag hab ich mich auf eine meiner Brillen draufgesetzt, der Optiker hat es wieder gerichtet. Meine Müllerinnen stehen nicht müßig im Mund. Ich habe einen guten Zahnarzt. Meine Beine stärke ich. Seit einem Jahr kiesere ich. Ich will keine Werbung für die Muckibude für alte Leute machen. Aber man kann was tun und es tut gut.

Nein, ich will nicht über das Alter klagen. Man muss ja ehrlich bleiben. Manches ist besser als in der Jugend. Man weiß einigermaßen, wer man ist. Und man weiß gut, was man kann und was man nicht kann. Wen man mag und wen man nicht mag. Und auch von man gemocht wird und von wem man nicht gemocht wird. Und man hat gelernt, es auszuhalten, nicht von allen gemocht zu werden. Man hat gelernt, Krisen zu überleben, Stress auszuhalten. Und dass deine kleine Welt um dich herum sich auch ohne dein ständiges Mitmischen ordentlich weiterdreht. Man sagt, kleine Kinder hätten ein Urvertrauen. Das mag sein. Irgendwann geht es verloren. Aber im Alter kommt ein Grundvertrauen wieder.

Ja, die Beine und die Arme, der Rücken und der Nacken, die Augen und die Ohren – überall setzt der Rost an. Und Renovierungen sind immer häufiger nötig. Aber der Geist ist stabiler, widerstandsfähiger, sicherer, gewiss, oft auch träger, Sprachen lernen, Noten lernen, Gedichte lernen oder sich einfach nur was merken – das geht zwar nicht mehr so wie früher. Aber der Geist kennt seine Wege. Er muss nicht mehr überall hin, muss sich nicht mehr für alles interessieren. Kann sich besser konzentrieren, weil er besser weiß als früher, was ihm wichtig ist und was nicht. Das Vagabundieren des Geistes hat aufgehört, denn er weiß jetzt, wo er lohnend tiefer schürfen kann.

Nein, ich will nicht über das Altern klagen, es geht noch gut – wer weiß, wie lange noch und manches ist besser als in den jungen Jahren.

Und doch ist da was, das macht mir Angst. Nicht vorm Altern habe ich Angst. Nur davor, im Alter Gott aus den Augen zu verlieren. Davon schreibst du ja, du alter weiser Prediger, versammelst dir die trüben Gedanken genau um diesen Punkt. Es könnte irgendwann zu spät sein, an Gott zu denken. Es könnten Zeiten kommen, da mir Gott entschwindet. Deshalb rätst du, wir sollten in der Jugend an Gott denken. Denn im Alter werde es schwer damit. Was man in der Jugend nicht in den Kopf gekriegt hat und ins Herz und in die Seele, das ist im Alter weg.

Ich dachte, es sei umgekehrt. Ich dachte, je älter ich werde, desto besser und desto lieber würde ich an meinen Schöpfer denken. Und desto leichter würde mir das auch fallen. Darum hielt ich es auch immer für kaum verwunderlich, dass am Sonntag im der Kirche überwiegend ältere Menschen sitzen. Denen ist Gott irgendwie näher, als den Jungen. Je mehr wir Älteren der Welt abhandenkommen, desto mehr ist uns Gott zur Hand. Je weniger wir mit den Füßen die Erde bereisen können, desto lieber bereisen wir mit der Seele den Himmel.

Aber du, alter Prediger, machst mir Angst. Werde ich Gott aus den Augen verlieren, wenn die Augen trübe werden? Werde ich vergessen, auf Gott zu zählen, wenn meine Tage gezählt sind?

Ist das deine Lebenserfahrung, alter Prediger, dass man nicht mehr an Gott denkt, wenn einem er Leib zu schaffen macht? Und rätst du deshalb so eindringlich dazu, in den jungen Jahren an Gott zu denken? Weil es im Alter nicht mehr geht?

Ist das so? Das wäre bedenklich. Zumal es ja heute noch dadurch verschärft wird, dass wir immer älter werden. Damals ging zuerst der Leib kaputt und der Geist hielt bis zum Schluss. Heute kann man die Teile ganz gut reparieren und in Schuss halten, die Arme und die Beine mit neuen Gelenken und Prothesen, die Augen und die Ohren mit Brillen und Hörgeräten, die Zähne mit kunstvollen Gebilden.

Aber für die Synapsen im Kopf gibt es noch keine Prothesen, kein Mittel, das sie bis zum bitteren Ende am Funken hält. Der Geist stirbt langsam ab, aber den Körper halten sie am Laufen.

Wenn es also nur noch wenige Geistesblitze gibt, wenn sich alles auf die wenigen, anstrengend und lang gesuchten Wörter reduziert, die dir noch geblieben sind, und auf ein paar archaische Bilder, dann stellst du alter Prediger mit recht die Frage: Welche Wörter, welche Bilder werden das sein? Wenn du dir Gott nicht von Kindesbeinen an in deinen Kopf, in deinen Geist, in dein Herz und in deine Seele eingeladen hast, wird er auch am letzten Ende nicht mehr drin sein, wird weg sein, wie alles weg sein wird, was du irgendwann mal gelernt hat und irgendwann nicht mehr brauchst. Das darf doch nicht sein: Dass Gott aus deinem Geist verschwindet wie alles andere aus deinem Kopf verschwindet, was nicht von Anfang an drinne war. Das darf doch nicht sein: Dass du am bitteren Ende nicht mehr weißt, wohin du danach gehst.

Ein poetisches und zugleich erschütterndes Kleinod über das Alter hat der Prediger gemalt. Es ist gerahmt von Gott. Am Anfang kommt Gott vor und wieder am Ende:

Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen heißt es am Anfang und am Schluss: ehe der Geist zurückkehrt zu Gott, der ihn gegeben hat.

Wir kommen von Gott und wir gehen zu Gott. Gott ist nicht nur das Woher, Gott ist auch das Wohin. Gott ist das Ziel. Der Geist kehrt zurück zu Gott. Darum muss Gott im Geist bleiben, bis zum bitteren Ende, wenn alles anderen Wörter und Gedanken, Bilder und Vorstellungen sich verabschiedet haben. Wenn das Gemüt heim will, dann soll Gott noch da sein und leuchten mit allem, was zu ihm gehört, mit seinen schönen Wörtern und Bildern, mit alle dem Vertrauten und Vertrauen Weckenden, Mutter, Vater und das Haus, die haltende Hand, die offene Tür, das Fest, die Freunde, die Gäste, der alte Garten mit dem Lebensbaum und die schöne Stadt mit den zwölf Toren.

Und die Lieder, die von all dem singen und die Psalmen, die von all dem erzählen und die Gleichnisse, die letzte Einblicke geben, das musst du im Kopf haben, im Geist, im Herzen, in der Seele, kurzum: im Gemüt – ja, du alter Prediger, recht hast du: Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«

Nein, man kommt Gott mit zunehmendem Alter nicht automatisch näher. Er wird dir in diesen Tagen nur bleiben, wenn du dich von Anfang an mit ihm vertraut gemacht hast. Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, damit dir dein Erlöser bleibt, wenn die bösen Tage kommen.

Das bewahrt dich zwar nicht vom Altwerden, aber es hilft dir beim Altwerden. Das bewahrt dich auch nicht vorm Sterben, aber es könnte dir beim Sterben helfen.

Und wenn du dann in deiner Jugend nicht nur gelernt hast, an deinen Schöpfer zu denken, sondern auch an deinen Erlöser, der am Kreuz deinen Tod gestorben ist und den Tod für dich besiegt hat, dann weißt du, wenn der silberne Faden zerreißt und die goldene Schale zerspringt und der Krug an der Quelle zerschellt und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt 7und der Staub zurückkehrt zur Erde, wie es gewesen ist, dann weißt du, dass dein Staub dort nicht ewig bleibt in der Erde, sondern auch er mit deinem Geist zurückkehrt zu Gott.

Aber das, das ist eine ganz andere und ganz neue Geschichte, von der der alte Prediger nichts wusste. Die kommt ein andermal, wenn die Blätter wieder sanft grünen. Heute sind wir noch nicht so weit. Es ist ja noch früh im Herbst. Die Blätter fangen ja gerade erst an zu fallen und ein bisschen Licht und ein bisschen Wärme wird wohl noch für uns drin sein, bevor das Jahr zu Ende geht. Amen.