Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge für Auge, Zahn für Zahn. Und ich sage euch: dem Bösen nicht widerstehen, sondern: wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem wende auch die andere zu. Und wer dich vor Gericht ziehen will, um dir den Leibrock zu nehmen, dem lass auch dein Obergewand. Und wer dich zu einer Meile zwingt, mit dem gehe zwei. Wer dich bittet, dem gib. Wer von dir borgen will, den weise nicht ab.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind. Und ich sage euch: liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. So werdet ihr Söhne eures Vaters, dem in den Himmeln, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun dasselbe nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Hervorragendes? Tun das nicht auch die aus den Völkern? Seid ihr also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.
Nur wenige Bibelworte werden so häufig zitiert wie das mit dem Auge und mit dem Zahn. Und zwar in Zusammenhängen, in denen sonst nicht zur Bibel gegriffen wird, nämlich in Korres-pondentenberichten und politischen Kommentaren, jedenfalls dann, wenn es um den Nahen Osten geht, genauer: um die Politik des Staates Israel und die Taten seiner Armee. Bei diesem, fast nur bei diesem Thema werden Journalisten, Politiker und andere Stimmen, die sich öffent-lich äußern, auf einmal bibelkundig und erklären: Israel handele nach dem Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und oft fällt dann das seltsame Wort alttestamentarisch – kein Mensch, jedenfalls kaum jemand, sagt neutestamentarisch. Und dieses Reden ist seit einem Jahr noch häufiger geworden – wie alle Rede gegen Jüdisches und gegen Juden.
Und nur wenige Bibelworte werden so häufig, werden fast durchgängig missverstanden und missdeutet, vielleicht kein anderes. Nämlich als Aufruf zu blindwütiger Vergeltung, maßloser Rache. Und genau dies soll ja mit dem Wort alttestamentarisch suggeriert und signalisiert wer-den: dass im ersten Teil der christlichen Bibel von einem zornigen, wutschnaubenden, rach-süchtigen Gott die Rede ist, von einem ganz anderen Gott also als von dem liebevollen Vater, den das Neue Testament verkündet. Der Griff zur Bibel bei Kommentaren zum Nahen Osten soll also zeigen: Israel führt nicht darum Krieg, weil es angegriffen wurde, Hunderte seiner Menschen bestialisch massakriert wurden, sondern weil Juden eben Juden sind: sich an das Alte Testament halten, darum alttestamentarisch nach dem Prinzip Auge um Auge verfahren; weil sie einen anderen Gott haben, einen fürchterlichen. Und alttestamentarisch zu sagen statt alttes-tamentlich, das soll andeuten: das ist erledigt. Testamentarisch verfügt jemand zu Lebzeiten etwas, was nach seinem Tod gelten soll. Nun gilt jedoch das Neue Testament, was das Alte veraltet macht, überholt.
Nun ist eine Predigt keine Bibelarbeit, in der den verschiedenen Bedeutungen und Bezügen eines Textes nachgegangen wird. Sondern sie soll Gottes Wort verkünden, indem sie einen Bi-beltext auf die aktuelle Situation bezieht. Doch bei diesem Text muss erst einmal Einiges weg-geräumt, aufgeräumt und aufgeklärt werden. Und es prägt ja, wie angedeutet, die jetzige Situ-ation, dass die Missdeutung dieses Bibelworts ständig und gern weitergesagt und nie überprüft wird – eine für Juden bedrohliche Situation.
Das Wort vom Auge und vom Zahn steht im Buch Exodus, Kapitel 21. Da geht es nicht um Maßlosigkeit, sondern um Maß, um Angemessenheit, also darum, berechtigte oder jedenfalls verständliche Rachewünsche zu begrenzen. Wenn zwei Männer sich prügeln und dabei einem oder einer Unbeteiligten ein Auge oder ein Zahn ausgeschlagen wird, hat das Opfer nicht das Recht, den Täter totzuschlagen, sondern soll – möglichst genau angemessen – entschädigt wer-den. Es geht um Schadenersatz, nicht um Rache; nicht um Strafrecht, sondern um Zivilrecht: um die Zivilisierung von Konflikten.
Große Teile der Bergpredigt sind eine Auslegung der Tora. Das zeigt die Szenerie: Jesus sitzt auf dem Berg und lehrt seine Jünger und über sie hinaus alle, die hören wollen. Er sitzt auf dem Stuhl, dem Lehrstuhl des Mose, wie er später im Buch auch anderen Schriftgelehrten, auch den Pharisäern bescheinigt, auf dem Stuhl des Mose zu sitzen. Seine Auslegung hat die Überschrift: Meint nicht, ich sei gekommen, die Tora und die Propheten – die damalige Bibel – aufzuheben. Ich bin nicht gekommen aufzuheben, sondern zu erfüllen. Dieser Satz war offenbar schon da-mals nötig und ist inzwischen noch nötiger geworden. Denn das hat die Christenheit ihrem Herrn nie geglaubt. Im Gegenteil: sie war überzeugt davon, ist es in weiten Teilen immer noch, dass Jesus genau dazu gekommen ist: die Tora – das Gesetz – aufzuheben. Darum wurde seine Bibelinterpretation auch nicht als Predigt, Schriftauslegung im Blick auf die aktuelle Situation verstanden. Dieser Abschnitt der Bergpredigt bekam stattdessen in der christlichen Tradition die Überschrift: Antithesen. Was bedeuten soll: Jesus zitiert da jeweils einen Satz aus der Tora und formuliert dazu einen Gegen-Satz. Die Bezeichnung Antithesen steht zwar ihrerseits in erkennbarem Gegensatz zu jener Überschrift – nicht aufheben! –, stützt und beruft sich aber darauf, dass Jesus hier immer wieder sagt: Ich aber sage euch.
Nun gibt es im Griechischen zwei Worte, die mit „aber“ übersetzt werden können. Das eine, de, das hier steht, ist recht schwach, muss keinen Gegensatz bedeuten, kann auch durch ein Komma oder durch „und“ widergegeben werden. Für wirkliche Gegensätze, ein starkes „aber“, gibt es ein anderes Wort, alla. De steht gehäuft im ersten Kapitel, im Stammbaum Jesu: Abra-ham zeugte Isaak, Isaak aber zeugte Jakob. Gemeint ist natürlich nicht, dass Abraham zwar Isaak gezeugt hat, Isaak hingegen ganz im Gegensatz dazu den Jakob. Die Zürcher Bibel hat darum im ersten Kapitel die vielen abers durch Kommata widergegeben. Hier aber, in der Berg-predigt, übersetzt sie de mit aber: die Faszination durchs angeblich Antithetische war stärker als die philologische Einsicht. Eine angemessene Verdeutschung des Jesus-Refrains wäre: Ich verstehe dies Wort in der jetzigen Situation so.
Jesus setzt ja erkennbar den Torasätzen keine Sätze entgegen. Wie die Antithesen etwa zu den Geboten „Brich nicht die Ehe“ oder „Morde nicht“ lauten würden, ist leicht erratbar – Jesus sagt sie nicht, sondern sagt ganz anderes. Er tut, was auch viele andere Rabbiner tun: er errichtet einen Zaun um die Tora: Vorschriften, die verhindern sollen, dass wir auch nur in die Nähe, in die Gefahr kommen, ein Gebot zu übertreten. In diesem Fall: wenn du das Gebot der Begrenzt-heit und Angemessenheit halten willst, übe lieber ganz Rechtsverzicht.
Auch die zweite Strophe unseres Textes, die von der Feindesliebe, braucht etwas Aufklärung. Das Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst steht in der Tat im sog. Alten Testament, im Buch Leviticus, wir haben es vorhin in der Summe der Weisung gehört. Ein Gebot: hasse dei-nen Feind aber findet sich in der Bibel nicht. Im Gegenteil. Zu Beginn haben wir als Wochen-spruch einen Rat aus dem Römerbrief des Paulus gehört: Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem. Lass dir also vom Bösen nicht einmal die Kampfform vorgeben. Paulus untermauert diesen Rat mit einem Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Buch der Sprüche: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Denn wenn du das tust, wirst du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln – du wirst ihm die Hölle heiß machen, ihn in Teufels Küche bringen, wenn du deinem Feind Gutes tust und nicht Böses. Und in der Tora selbst, im Buch Esodus, heißt es: Wenn du dem verirrten Ochsen oder Esel deines Feindes begegnest, sollst du das Tier sogleich zu ihm zurückführen. Wenn du siehst, dass der Esel deines Hassers unter seiner Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht allein, sondern hilf ihm. Diese kleine, aber sehr konkrete Weisung zum Umgang mit Fein-den macht deutlich, dass es bei der Feindesliebe nicht um Gefühle geht, sondern ums Verhalten, um Taten, um Praxis.
Jesus legt die Tora aus im Blick auf die Situation seines Volkes in seiner Zeit. Das wird beson-ders deutlich an seinem Beispiel: Wer dich zu einer Meile zwingt – mit dem gehe zwei. Denn die römischen Soldaten konnten Menschen zu Zwangsdiensten heranziehen, wie wir es später von Simon von Kyrene hören. Es geht hier jedenfalls auch um den Umgang mit der römischen Besatzungsmacht. Das gilt noch mehr für Matthäus, der die Bergpredigt zusammengestellt hat. Er schreibt angesichts der Trümmer Jerusalems und des Tempels, schreibt für schwer trauma-tisierte Juden. Der bewaffnete Aufstand gegen Rom war mit schauerlichen Massakern, mit Hunderten von Kreuzigungen niedergeschlagen worden. Wäre nicht eine andere Kampfform besser gewesen und noch immer besser? Den Feind beschämen und dadurch zur Einsicht und zur Umkehr bringen? Ihm so die Hölle heiß machen?
Doch die Jesus-Worte gelten nicht nur seinen Mitjuden in seiner Zeit. Zum einen sendet Jesus am Ende des Buchs – nicht zufällig wieder auf dem Berg – seine Jünger zu den Völkern mit der Weisung: Lehrt sie zu halten alles, was ich euch geboten habe. Zum anderen, noch wichti-ger: Es ist Jesus, der diese Worte sagt, und Jesus verkörpert ja in seiner Person die große Fein-desliebe Gottes. Der Christus ist für uns gestorben, schreibt Paulus ebenfalls im Römerbrief, als wir noch Feinde waren. Angesichts dessen, was es Gott gekostet hat, mich von meiner Got-tesfeindschaft zu befreien, mich mit ihm zu versöhnen – was ist da schon die hier von mir geforderte Feindesliebe?
Was bedeutet nun die Weisung Jesu für uns heute?
In unserer Situation höre ich zunächst einmal das Gebot: Wo immer von Auge um Auge, von alttestamentarisch, vom Gott des Alten Testament gesprochen wird, da darfst du nicht schwei-gen; da musst du widersprechen, protestieren, aufklären.
Hilft uns Jesu Weisung auch zur Orientierung in den Kriegen unserer Zeit?
Sie hilft jedenfalls nicht in dem auch unter uns Christen geführten Streit darüber, ob Waffen-lieferungen an die Ukraine erlaubt oder gar geboten sind. Denn Jesus hat nicht gesagt: Wenn jemand deinem Nächsten auf die eine Wange schlägt, dann halte ihm auch noch die andere Wange dieses deines Nächsten hin. Ob es geboten ist, die von Jesus skizzierte Kampfform ge-gen eine Besatzungsmacht auch in der Ukraine zu praktizieren, kann nur Gegenstand der Ge-wissenserforschung der ukrainischen Christen sein. Es ist jedenfalls schwer, einen Feind zu beschämen, den man gar nicht zu Gesicht bekommt; der aus der Ferne, aus der Luft tötet.
Sollen die Christen unter den Palästinenser, die freilich eine kleine, immer kleiner werdende Minderheit sind, sich für eine andere Kampfform gegen die Besatzung einsetzen als Terror und Mord? Eine Methode, die sich an Jesus und seinem Jünger Martin Luther King orientiert? Auch das haben nicht wir zu entscheiden. Doch auch unseren christlichen Geschwistern in der West-bank und in Gaza müssen wir widersprechen und widerstehen, wenn sie die aus Europa über-nommene judenfeindliche Theologie munter und ungebrochen fortsetzen, was leider viele von ihnen tun.
Alles hat seine Zeit, heißt es im Buch Kohelet, und zu der langen Liste dessen, was alles seine Zeit hat, gehört auch: Krieg hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Dietrich Bonhoeffer hat noch 1934 eine berühmt gewordene Friedensrede – eine pazifistische Rede – bei einer ökumenischen Versammlung auf Fanö gehalten. Er musste wenige Jahre später einsehen, dass gegen die Deutschland regierende Mörderbande nur Gewalt hilft. Und sein Lehrer Karl Barth, seit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs friedensbewegt, schrieb angesichts des drohenden Münch-ner Abkommens 1938: Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun. Alles hat seine Zeit. Und doch bleiben die Worte Jesu ein Stachel, der uns piekt, wenn wir uns damit abfinden, dass Gewalt nun einmal nötig ist; uns dazu ansta-chelt, den Frieden zu suchen, ihm nachzujagen. Amen.
Aufklärung über einige Missverständnisse aus der Bergpredigt
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