Das Schwert durch die Seele
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Ein Schwert wird auch durch deine Seele dringen, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden. (Lk 2,35)

Sie war im Tempel, er war einen Monat alt, als ein alter Mann auf sie zukam und dies zu ihr sprach. Sie vergas es nie. Ein Schwert wird auch durch deine Seele dringen, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden.

Als sie wieder in Jerusalem waren – da war er zwölf – haben sie ihn verloren. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel. Aber schon da war er eigentlich nicht mehr ihr Sohn. Sie machte ihm Vorwürfe und er antwortete sehr cool mit zwölf:

Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss bei denen, die zu meinem Vater gehören? (Lk 2,49)

Einmal besuchten sie ihn noch. Er war längst ausgezogen und zog mit seinen Freunden herum. Er empfing sie nicht. Er wies sie ab. Er verleugnete sie. Sie seien nicht seine Mutter und seine Brüder. Die anderen, die jetzt bei ihm seien, die seien seine Mutter und seine Brüder. Die, die den Willen Gottes tun. (Mk 3,31-35)

Später sagte er einmal – aber da war sie nicht dabei, sie hat nur davon gehört: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. (Lk 14,26)

Auch das folgende soll er gesagt haben und als sie davon hörte, fiel ihr wieder das Schwert ein, von dem der alte Mann gesprochen hatte, als sie ihr kleines Bündel auf den Armen hielt, winzig und zart und sich nicht vorstellen konnte, dass einmal so scharfe Worte aus seinem Mund kommen könnten:

34Meint nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

35Denn ich bin gekommen, einen Mann mit dem Vater zu entzweien und eine Tochter mit der Mutter und eine Schwiegertochter mit der Schwiegermutter; 36und zu Feinden werden dem Menschen die eigenen Hausgenossen.

37Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.

38Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und hinter mir hergeht, ist meiner nicht wert.

39Wer sein Leben findet, wird es verlieren; wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden. (Mt 10,34-39)

 

Mir geht es wie Maria, wenn ich diese Worte höre: ein Schwert dringt mir durch die Seele. Ist das mein Jesus?

Haben wir uns ein falsches Bild von ihm gemacht? Ist Jesus gar nicht der Friedefürst, der sanfte Besänftiger? Der Mittler und Vermittler, der die Gemüter temperierende Moderator, der nie aus der Haut fährt, der sich nie provozieren lässt, der immer nachgibt, der auch die andere Backe hinhält, wenn ihm jemand aggressiv kommt?

Aber haben wir vergessen: Als er in den Tempel kam, stieß er die Tische der Geldwechsler und der Taubenhändler um und vertrieb sie. Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Pharisäer nannte er Heuchler und Schlangen und Otternbrut. Seine Familie verleugnete er.

Haben wir ein falsches Bild von Jesus? War er ein aggressiver, unbeherrschter Typ? War er etwa selber einer von den heuchlerischen Pharisäern, die das eine sagen und das andere tun, die von Feindesliebe reden, aber sich selber überall Feinde machen?

Einer der bekanntesten Forscher zum historischen Jesus, Gerd Theißen, zählte Jesus zu den „Wanderradikalen“, für die ein afamiliäres Ethos kennzeichnend sei.

Sind wir Anhänger also eines Extremisten, der die Werte der Familie verachtet, ohne dass uns das klar ist? Was wird die CDU machen, wenn sie davon erfährt?

***

Bevor ich dieser Frage nachgehe, muss ich vor einem Missverständnis warnen: Diese uns so fremd anmutende Rede Jesu ist keine Aufforderung, es ihm gleich zu tun. Der Satz: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert hat ja ein gewisses Risikopotential in sich. Er könnte dem Bundesverfassungsschutz auffallen. Ich bin nicht sicher, ob noch allen Mitarbeitern dort klar ist, dass es sich um ein Bibelzitat handelt. So wie wir gern, wenn wir über das Gewaltpotential des Islam diskutieren, einzelne Zitate aus dem Koran herausglauben, so würde, wenn in der islamischen Welt umgekehrt über das Gewaltpotential des Christentums diskutiert würde, mit Sicherheit dieser Satz an der Tafel stehen. Nein, dieser Satz will nicht Extremisten ermutigen und aktivieren, im Keller ein Schwert auskramen oder mit Pfeil und Bogen auf Menschenjagd zu gehen.

Der Satz will auch nicht im übertragenen Sinne die Kirche dazu ermutigen, schärfer zu reden, eindeutiger Stellung zu nehmen, sich klarer zu positionieren. Das wünschen sich viele, aber dann doch immer nur zur Bestätigung der eigenen Position, des eigenen Denkens.

Ich meine, diese kritische Rede Jesu sollte überhaupt nicht als Aufforderung und Ermutigung verstanden werden, weder als Ermutigung, sich zu religiöser Gewaltbereitschaft zu radikalisieren noch als Ermutigung zu schärferen, spaltenden Positionierungen der Kirche.

Die Rede ist keine Aufforderung, sondern die Beschreibung einer Erfahrung. Aber, diese Erfahrung ist nicht unsere Erfahrung hier und heute. Deswegen befremdet uns die Rede so. Es ist die Erfahrung aller Christen, die Verfolgungen in der einen oder anderen Weise ausgesetzt sind. Wenn Menschen wegen ihre Glaubens in Konflikt geraten mit ihrer Umwelt, mit ihren Nachbarn oder gar in ihrer Familie, weil ihr Glaube nicht toleriert wird, weil das Christentum verboten ist, weil es nicht in die Religionslandschaft passt oder zur Staatsideologie. Die Rede Jesu wird sofort verstanden vom Christen in China, in der Türkei, im Irak, in Syrien, im Iran, auf der arabischen Halbinsel, in Somalia, im Sudan, in vielen Ländern der Sahelzone. Sie wurde sofort verstanden von den ersten Christen im römischen Reich und vor noch nicht so langer Zeit auch von den Christen bei uns, nämlich denen in der DDR. Christus kam in ein Leben und berief Menschen, an sein Evangelium zu glauben und Menschen, die diesem Ruf folgten gerieten in Konflikt mit ihren Nachbarn, in ihrer Familie, an ihrem Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben, mit dem Staat. Denn ich bin gekommen, einen Mann mit dem Vater zu entzweien und eine Tochter mit der Mutter und eine Schwiegertochter mit der Schwiegermutter; und zu Feinden werden dem Menschen die eigenen Hausgenossen.

So war das, und so ist das immer noch. Nur nicht bei uns. Gott sei Dank.

***

Oder doch nicht: Gott sei Dank? Gibt es nicht auch ein Leiden darunter, dass das Christsein, dass der Glaube nichts mehr kostet? Alles wird teurer, nur der Glaube wird immer billiger. Man muss sich für das, was man glaubt, nicht mehr rechtfertigen und wenn doch, dann erntet man nicht Widerspruch, sondern ein Achselzucken: Jeder, wie er will.

Und davor kommt noch eine andere, viel peinlichere Frage: Wieviel kostet es denn bei dir selber, Christ zu sein? Anderen müssen wir für unsere Glauben nichts bezahlen. Und uns selbst? Auch nichts? Vor anderen, vor Freunden, vor der Familie, vor der Gesellschaft und vor dem Staat muss man hierzulande seinen Glauben nicht rechtfertigen. Vor dir selbst auch nicht? Was verlangt es uns selbst ab, dass wir an das Evangelium glauben? Ist das nicht mehr als die Garnitur eines bequemen bürgerlichen Lebens? Eine Frage der Milieuzugehörigkeit und der Bildung? Oder eine Frage der Kultur? Um sich in unserer Kultur gut bewegen zu können, braucht man halt auch noch ein bisschen religiöse Bildung? Oder geht es um die immer wieder beschworenen Werte? Glaubt denn wirklich noch ernsthaft jemand, dass Christen moralisch bessere Menschen sind, als Nichtchristen? Oder dass sie ethisch auf höherem Niveau reflektieren? Was also macht das mit uns selber, dass wir vorgeben, Anhänger des Jesus Christus zu sein?

***

Ein Schwert wird auch durch deine Seele dringen, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden. Das sagte ein alter Mann zu Maria, nachdem Jesus gekommen war und sie mit dem Säugling in den Tempel ging.

Müsste nicht auch bei uns allen ein Schwert durch die Seele gedrungen sein und immer wieder dringen und unsere Gedanken offenbar machen? Wir suchen das gelingende Leben. Werden wir es finden auf den Wegen, die wir gehen? Müssten wir nicht immer wieder vor den Kopf gestoßen werden durch das, was Jesus sagt? Müsste uns nicht immer wieder erschreckend zu Bewusstsein kommen, dass das Reich Gottes nicht die Verlängerung unseres schönen Lebens ist? Auch nicht die Verlagerung der Bundesrepublik in den Himmel oder die Verewigung unserer westlichen gebildeten aufgeklärten toleranten vergnügten mehr oder weniger heilen Welt?

Es gibt so wenig Beunruhigung, wenn Jesus in unser Leben kommt. Es ist alles so beiläufig. Aber was heißt das nun wieder: „… wenn Jesus in unser Leben kommt?“ Was kommt denn da? Worte, Überzeugungen, Bekenntnisse, Lebensweisheiten, Gefühle, Stimmungen, neue Freunde? Oder ein Schwert, und Krieg und Konflikte und Leid?

***

Liebe Gemeinde, die Predigt gibt heute keine Antworten. Sie belässt es bei Fragen. Wir gehen nach Hause mit Ratlosigkeit, im besten Fall mit einer Verunsicherung. Wir gehen nach Hause mit der Frage: Soll das alles gewesen sein, was du bislang aus deinem Glauben an Jesus Christus gemacht hast? Oder besser gefragt: Soll das alles gewesen sein, was dein Glaube aus dir gemacht hat? Wir sollten uns also nicht fragen: Ist das mein Jesus? Sondern. Bin ich noch sein Anhänger?

Wir müssen uns diese Fragen von Zeit zu Zeit stellen. Es muss uns doch ab und zu erschrecken, wie groß die Diskrepanz ist zwischen dem, was wir in der Kirche leben, und dem, was der Herr dieser Kirche gesagt, gefordert und vorgelebt hat.

Manche hielten die Diskrepanz nicht aus und wechselten aus dem guten bürgerlichen Leben, das die Kirche ermöglicht und fordert und fördert, ins Kloster, in die Armut, in die organisierte Beziehungslosigkeit, in die konsequente Lebenswidmung an die anderen und an eine Arbeit an der neuen Welt Gottes.

Ich bewundere das und bleibe doch in meinem alten Leben. Ich will mich nicht mit meiner Frau streiten und mich von ihr trennen, um Jesus nachzufolgen. Ich will auch keinen Streit mit meiner Tochter und meinem Sohn, mit meiner Schwiegermutter und meinem Nachbarn. Ich will mein Leben nicht verlieren. Es gefällt mir eigentlich ganz gut. Ich bin froh, wenn mir das Kreuz erspart bleibt. Ich will keinen Streit, auch nicht um Christi willen. Ich hoffe, dass mir der Auferstandene gnädiger sein wird als es Jesus von Nazareth, der Wanderradikale gewesen wäre.

Aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Wer weiß, was noch kommt. Vielleicht wird die Ankündigung des alten Simeon auch in meinem Leben noch eintreffen: Auch in deine Seele wird einmal ein Schwert dringen.

Wer mag sich das schon wünschen?

Amen.