Eine neue Weltordnung
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Nun ist wieder Krieg in Europa. Die Worte haben ausgeredet, die Kanonen donnern, die Raketen fliegen, die Bomben fallen, die Lüge brüllt.

Nun ist wieder Krieg in Europa. Wir glaubten, es wäre für immer vorbei. Wir glaubten, in Europa überfällt kein Land mehr ein anderes. Wir haben uns geirrt.

Nun ist wieder Krieg in Europa. Ein Mensch denkt, wie im 19. Jahrhundert gedacht wurde, als hätte es das 20. Jh. nicht gegeben. Er denkt, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Er denkt, das Nachbarland gehöre ihm. Nur seine Gedanken zählen. Seine abwegigen Gedanken. Und es ist keiner um ihn herum, der es wagte zu sagen: Moment mal!

Nun ist wieder Krieg in Europa. Mit Hitlervergleichen soll man vorsichtig sein. Aber einiges erinnert an 1938/39. Die Appeasement-Politik der Westmächte. So lange man mit ihm redet, schießt er nicht. Hitler hatte aber allen offen gesagt, was er vorhatte. Schon lange zuvor sprach er es offen aus. Und er zog es durch. Kein Jahr nach dem Münchner Abkommen brach der Zweite Weltkrieg aus.

Auch Putin hatte es schon vor langer Zeit gesagt: Die Ukraine sei russisches Kerngebiet. Doch kaum einer glaubte, er werde es durchziehen. Alle dachten, am Ende sei auch das Handeln eines Putin von Vernunft geleitet. Wir haben uns geirrt.

Auch ich überlegte lange, ob ich Putin nicht glauben sollte, wenn er beteuert, Russland führe nur Manöver durch und habe nicht die Absicht, die Ukraine anzugreifen. Jetzt ist klar: Putin ist ein Lügner und ein Kriegsverbrecher.

Nun ist wieder Krieg in Europa. Der Wahrheit wird das Maul gestopft, die Waffen haben das Sagen und die Lüge.

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Wir sollten es nicht wahrhaben. Es gibt Ankündigungen, die mag man nicht glauben. Auch Petrus wollte nicht glauben, was sein Freund Jesus ihm mitzuteilen hatte. Er wollte nicht. Es war keine gute Ankündigung.

Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.

Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. 33Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.

 

Nein, Jesus ist nicht Putin und Putin ist nicht Jesus. Aber es gibt Ankündigungen, die mag man nicht glauben. Weil man sie nicht wahrhaben will. Weil sie nicht ins Weltbild passen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Jesus kündigt keinen Angriffskrieg an. Jesus kündigt nicht an, dass er seine irren Gebietsansprüche durchziehen werde und ihm die vielen Toten egal sind. Jesus spricht von seinem eigenen Leiden und von seinem eigenen Tod. Aber auch solche eine Ankündigung wollte Petrus nicht glauben. Petrus bringt das Leiden, das Scheitern nicht mit dem Messias zusammen.

Augenblicke vorher gab er sein heroisches Bekenntnis ab: Du bist der Christus! Jesus hatte sie gefragt: Sagt, wer sagen die Leute, dass ich sei? Einige hielten ihn für den Täufer, andere für den wiedergekommenen Elia. Und ihr, fragt Jesus. Petrus gibt das Bekenntnis: Du bist der Christus. Doch auf dieses Bekenntnis antwortet Jesus nicht mit Worten der Siegesgewissheit, der Überwindung, des Triumphes. Petrus hört Schwäche statt Stärke, Leiden statt Sieg, Verlieren statt Gewinnen, Ohnmacht statt Macht. Das klingt so wenig nach dem, was Petrus von Jesus erwartet. Es passt nicht in sein Weltbild. Das kann nicht sein, weil es nicht sein darf.

Und was Jesus dann anfügt, was er dann nicht nur Petrus, sondern allen sagt, dem Volk, also uns, das klingt auch wenig nach kräftigen Evangeliums- und Mutmachworten, die wir von Jesus erwarten.

Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten. Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.

Diese Worte aus einem Text, der heute dran ist, irritieren. Sie treffen und sind doch völlig daneben. Nichts passt mehr zusammen in diesen Tagen.

Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

Es folgen Menschen nach und verleugnen sich selbst. Aber sie folgen nicht Christus, sie folgen Putin und verleugnen die Reste von Anstand und Gewissen, wenn sie noch welche hatten. Dass Despoten und Lügner immer Menschen finden, die ihnen in ihrem Wahn folgen!

Wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten. Es werden Menschen ihr Leben verlieren. Viele Menschen. Aber nicht für Christus, sondern für Putin. Nicht für das Evangelium, auch nicht für die Sicherheit Russlands, sondern für das Ego eines Irren.

Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? Es hilft nichts, dass Menschen in diesem Krieg ihre Seele verlieren. Aber sie tun es trotzdem: Putin und seine Gefolgsleute. Man spricht viel von der russischen Seele. Die ertränkt sich – mal wieder – in Blut. Russland verliert gerade seine Seele, obwohl es die halbe Welt gewinnt.

Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.

Und wer schämt sich? Wir Christen müssen uns unserer russisch-orthodoxen Brüder schämen, dieser russischen Staatskirche, die schon immer ein Lakai der Staatsmacht war. Patriarch Kyrill I. schrieb am Mittwoch an Putin: Eigenschaften wie Tapferkeit, Mut und Entschlossenheit, "glühende Liebe zum Vaterland und Bereitschaft zur Selbstaufopferung" hätten jahrhundertelang das russische Volk ausgezeichnet, "das durch den Schmelztiegel vieler Prüfungen" gegangen sei. Die russisch-orthodoxe Kirche habe immer versucht, einen bedeutenden Beitrag zur patriotischen Erziehung ihrer Landsleute zu leisten, indem sie im Militärdienst eine aktive Manifestation der Nächstenliebe sehe, "ein Beispiel für die Treue zu den hohen moralischen Idealen der Wahrheit und Güte".

Schämen sollten sie sich solcher schamlosen Worte! Das ist nicht das Evangelium. Das ist das Gegenteil davon.

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Es ist vieles irritierend in diesen Tagen, in denen Dämonen aufs Feld treten, die wir längst besiegt glaubten. Nichts passt mehr zusammen. Wir verstehen die Worte nicht, nicht die Lügenworte Putins, nicht die peinlichen Worte eines Patriarchen, aber auch die Worte Jesu verstehen wir nicht. Ich verstehe sie nicht. Es geht mir wie Petrus. Ich verstehe nicht, was Jesus meint. Ich möchte seinen Worten wehren. Ich kann in diesen Tagen nicht denken, was göttlich ist. Ich kann offenbar nur denken, was menschlich ist.

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Gibt es einen Plan? Einen Plan Gottes, den wir noch nicht sehen? Jesus kündigte einen Plan an. Es müsse so geschehen. Petrus aber konnte ihn nicht sehen.

Diese Geschichte ist noch nicht am Ende. Petrus wusste nicht, wie die Geschichte mit Jesus ausgehen würde. Wir wissen nicht, wie die Geschichte mit Putin und Europa ausgehen wird. So lange wir nicht wissen, wie die Geschichten zu Ende gehen werden, verwirren die Worte.

Gibt es einen Plan Gottes, den wir noch nicht sehen?

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Es ist in diesen Tagen viel davon die Rede, Putin wolle eine neue Weltordnung schaffen.

Gott hat seine neue Weltordnung längst geschaffen. Der Menschensohn hat viel gelitten – und leidet immer noch!; wurde verworfen – und wird es bis heute!; ist gestorben – und stirbt immer noch! Und ist auferstanden von den Toten.

Das ist eine neue Weltordnung. In Kraft gesetzt von Gott an Ostern. Die alte Weltordnung der Stärke, der Macht, der Unverletzlichkeit, der Gewalt, des Streites, des sich um jeden Preis Durchsetzens, des Siegens durch Töten wurde abgelöst durch die neue Weltordnung des Hinnehmens, des Leidens, der Schwäche, der Sanftmut, der Ohnmacht. Diese neue Weltordnung gilt und sie kann funktionieren, denn es gibt in ihr einen Sieg, einen endgültigen: Den Sieg Gottes über den Tod.

Allerdings. Die neue Weltordnung Gottes hat sich noch nicht durchgesetzt. Wir trauen ihr noch nicht. Auch ich denke oft: So einer wie Putin versteht nur die Sprache der alten Weltordnung. Sollten wir ihm also in der einzigen Sprache antworten, die er versteht? Nein, das sollten wir nicht.

Schämen wir uns nicht des Menschensohns! Ihm, der gelitten hat und verworfen wurde, der getötet wurde von der Macht und auferstanden ist von den Toten, ihm folgen wir nach und bezeugen die neue Weltordnung Gottes, damit sie endlich Wirklichkeit werden kann.

Amen.