Es ist noch nicht zu Ende
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. 2Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. 3Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? 4Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.

5Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. 6Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. 7Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingeht nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. 8Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich.

Es ist noch nicht zu Ende. Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Auch an Ostern nicht.

Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Er wird sich hinziehen. Und Ostern ist noch nicht zu Ende, nicht mit dieser Ostergeschichte, nicht in diesem Jahr.

In diesem Jahr soll in allen Kirchen über die Originalostergeschichte aus dem Markusevangelium gepredigt werden. Das liegt schon lange fest und passt dann gut, denn diese Ostergeschichte endet nicht mit Jubel, sondern mit Zittern und Entsetzen. Ursprünglich hörte das Markusevangelium so auf. Was wir in unseren Bibeln dann noch lesen, wurde später angefügt. Es fehlt in den ältesten Handschriften.

Drei Frauen kommen früh am Morgen ans Grab. Es ist leer. Der Leichnam ist weg. Diese Geschichte endet damit, dass sie fliehen. Sie endet damit, dass Zittern und Entsetzen sie gepackt hat. Sie endet damit, dass sie sich fürchten.

Das ist kein Ende. Auch im Markusevangelium ist diese Geschichte noch nicht zu Ende, obwohl das Evangelium mit ihr aufhört. Es muss weitergehen. Aber wie?

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Das Grab bei Jerusalem war am Ostermorgen leer. Auch um Kiew herum gibt es leere Gräber. Nicht nur eines – viele und immer mehr. Auch dort gibt es Zittern und Entsetzen. Aber nicht, weil die Toten weg sind, sondern weil sie da sind. Sie liegen neben den Gräbern. Sie graben dort die Toten wieder aus. Um sie zu finden, um sie zu identifizieren, um zu dokumentieren, wie sie zu Tode gekommen sind. Jedenfalls nicht eines natürlichen Todes. So wenig wie der eines natürlichen Todes starb, dessen Leichnam Maria Magdalena suchte.

Wenn die Frauen in Butscha und den anderen Schreckensorten, wo sie jetzt die Toten wieder ausgraben, kommen und den Toten in die Gesichter sehen, erfasst sie Zittern und Entsetzen.

Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Nicht in Butscha und nicht in Jerusalem. Sie steckt noch im Karfreitag fest.

Wie kommen wir aus dieser Geschichte heraus? Wann kann es endlich Ostern werden? Wann kann ich endlich rufen: „Er ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!“ und euch damit ein Lachen entlocken?

Es wird dauern. Es wird dauern, bis dieser Krieg zu Ende geht. Es wird dauern, bis Karfreitag in Ostern übergeht. Es wird dauern, bis das Zittern und Entsetzen einem zaghaften Lächeln weicht.

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In der Originalostergeschichte nach Markus bekommen wir den Auferstandenen nicht zu sehen. Wir bekommen nur ein leeres Grab zu sehen und einen jungen Mann mit einem langen weißen Gewand. Der gibt einen rätselhaften Hinweis. Er sei auferstanden, sagt er. Und sie sollen alle nach Galiläa gehen, an den Ort, wo alles angefangen hat. Dort würden sie ihn sehen.

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An den offenen Gräbern in den Vororten Kiews stehen jetzt auch Männer mit weißen Gewändern. Es sind Schutzanzüge. Auf einigen steht am Rücken: „Gendarmerie“. Französische Forensiker, die die Leichen untersuchen.

Sie werden nicht sagen wie der junge Mann mit weißem Gewand: „Entsetzt euch nicht! Er ist auferstanden!“ Das nicht. Doch der rätselhafte junge Mann am leeren Grab in Jerusalem sagt zunächst: Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er hält fest, wen wir an Ostern suchen: den Gekreuzigten, das unschuldige Opfer eines Gewaltverbrechens. Auch die Forensiker in ihren weißen Schutzanzügen werden festhalten: Die Ausgegrabenen wurden Opfer von Kriegsverbrechen. Und wie im Markusevangelium Pontius Pilatus festgestellte, er finde keine Schuld an ihm, werden auch sie dort am Grab feststellen: Sie waren unschuldig. Und wurde doch erschossen. Die ganze Welt soll es hören.

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All dies muss festgehalten werden, wenn die böse Geschichte einmal zu Ende gehen und in eine gute Geschichte übergehen soll. Es kann keine Auferstehung geben ohne Gerechtigkeit. Es kann keine Auferstehung geben, ohne dass damit die Ordnung wiederhergestellt wird. Ordnung ist das, was das Leben schützt. Dass Unschuldige getötet werden und Schuldige unbehelligt leben, ist nicht in Ordnung.

Es ist vielleicht das erste Mal, dass Kriegsverbrechen vor den Augen der ganzen Welt dokumentiert werden, noch während der Krieg wütet und weitere Kriegsverbrechen begangen werden. Wir sehen nicht weg. Wir sehen hin und graben die unschuldigen Opfer aus. Die ganze Welt sieht hin. Das macht mir Hoffnung an diesem merkwürdigen Ostern 2022.

„… am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“

Es gibt keine Auferstehung von den Toten ohne die Wiederherstellung der Gerechtigkeit.

Die Überlebenden von Butscha, Charkiw und Mariupol suchen ihre Kinder, Eltern, Geschwister. Wenn sie sie gefunden haben, neben leeren Gräbern liegen, sind sie entsetzt. Sie werden der Osterbotschaft, dass Christus von den Toten auferstanden ist und dass der Tod besiegt wurde und dass auch ihre Toten auferstehen werden, erst dann trauen können, wenn die Unschuldigen vor aller Welt freigesprochen und die Schuldigen vor aller Welt schuldig gesprochen wurden. Gestern habe ich gelesen, dass jetzt auch russische Soldaten die Toten wieder ausgraben, die von ihnen Getöteten und von ihnen Verscharrten, um sie zu verbrennen. Spuren verwischen, Beweise vernichten. Das zeigt: Nichts fürchten sie so sehr wie das Weltgericht ihrer Verbrechen.

Wenn Christus wiederkommt, kommt er zum Gericht. Das muss so sein. Gebe Gott, dass auch wir schon Gericht halten können, damit den Lebenden und den Toten Gerechtigkeit widerfährt und es endlich Ostern werden kann in dieser Geschichte. Dann werden sie auch in der Ukraine wieder lachen können, wenn sie hören: Christus ist auferstanden. Er ist wahrhaft auferstanden. Und wir werden mit ihnen lachen.

Amen.