Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Eine Gemeinde mit Ausstrahlung – das zu sein wünscht sich jede Gemeinde, das ist auch das Thema des heutigen Sonntags. „Wandelt als Kinder des Lichts“, wurde uns im Wochenspruch aus dem Epheserbrief zugerufen. Kinder des Lichts, das sind nicht Menschen, die von Natur aus ein sonniges Gemüt haben. Gemeint ist das Licht des Evangeliums Alten und Neuen Testaments – ein Licht, das es mit allen Finsternissen aufnehmen kann. Kinder des Lichts strahlen dies Licht aus, geben es weiter in ihrem Tun: die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Ein Ort mit Ausstrahlung – der Psalm 48 besingt die Stadt Jerusalem, den Berg Zion: schön ragt empor sein Gipfel, daran sich freut die ganze Welt. Das hörten wir bei Jesaja als Zukunftsvision: Eines Tages werden die Völker der Welt mit ihrem Latein am Ende sein, werden nach Jerusalem ziehen, um dort Gottes Wege, Gottes Methoden zu lernen. Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen, sondern ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. So wird Weisung, Tora, vom Zion ausgehen, das Wort des HERRN von Jerusalem. Bis es soweit ist, fordert Israel sich selbst auf, im Licht des HERRN zu wandeln, hofft auf dessen Ausstrahlung.

Wir Jesusjünger aus den Völkern haben bereits mit dem begonnen, was Jesaja für die letzten Tage erwartet: Wir lernen Weisung vom Zion, das Wort des HERRN von Jerusalem. Der Epheserbrief richtet sich an uns Nichtjuden. Einst wart ihr Finsternis, heißt es kurz vor unserem Wochenspruch. Ihr wart fremd und fern der verheißungsvollen Bundesgeschichte Israels, ohne Hoffnung und ohne Gott, jedenfalls ohne den Gott Israels, tapptet noch im Dunkeln. Jetzt aber seid ihr Licht im Herrn, nämlich Israels Mitbürger und Gottes Hausgenossen. Darum wandelt und handelt auch als Kinder des Lichts, als Gemeinde mit Ausstrahlung.

Heute ist ein wichtiger Tag im jüdischen Kalender: der 9. Tag im Monat Aw, Tischa b Aw. Das jüdische Volk in aller Welt gedenkt der Zerstörungen des Tempels in Jerusalem, 586 v.u.Z. durch Babel und im Jahr 70 durch die Römer, und anderer Katastrophen in der jüdischen Geschichte. Man fastet an diesem Tag, und in den Synagogen wird das Buch Klagelieder gelesen, das die Verwüstung Jerusalems beschreibt und beklagt. Es klingt in unseren Tagen bestürzend aktuell. Israel bekennt darin seine Schuld, die in die Katastrophe geführt hat, klagt aber auch die Gräueltaten der Feinde heftig an. Der 10. Sonntag nach Trinitatis, heute in vierzehn Tagen, bezieht sich seit alters her auf diesen Tag, doch auch schon heute geht es in unseren Texten um den Zion, den Berg, da das Haus des HERRN ist, um Jerusalem. Auch im heutigen Predigttext:

Er saß dem Opferstock gegenüber und schaute, wie die Leute Kupfergeld in den Opferstock warfen. Und viele Reiche warfen viel hinein. Auch eine arme Witwe kam. Sie warf zwei Kleinmünzen ein, einen Pfennig wert. Und er rief seine Jünger herbei und sprach zu ihnen: Amen, ich sage euch: diese Witwe, die arme, hat mehr hineingeworfen als alle, die in den Opferstock eingeworfen haben. Denn alle haben aus ihrem Überfluss eingeworfen, sie aber hat aus ihrem Mangel eingeworfen alles, was sie hatte, ihr ganzes Leben.

Sehr genau nimmt Jesus den Opferstock in den Blick, in dem Spenden für den Tempel gesammelt werden. Er setzt sich, nimmt sich Zeit, beobachtet, was das für Leute sind, die Geld geben, und wie viel sie geben. Viele Reiche geben viel Geld; sie geben, kommentiert Jesus, aus ihrem Überfluss. Und auch wenn die meisten von uns nicht zu den Reichen gehören, erkennen wir uns in dieser Beschreibung wieder. Gott ist nicht das vibrierende Zentrum unseres Lebens; das, was uns ständig fasziniert und umtreibt, was uns unbedingt angeht, aber so etwas wie Religion soll es auch geben, soll seinen begrenzten, aber ehrenvollen Platz haben in unserem Leben. Für Religion haben wir was übrig.

Da kommt eine arme Witwe, und man muss leider sagen: das war zu biblischen Zeiten fast ein Pleonasmus – ist es vielfach auch noch heute –, weshalb Witwen und Waisen in der Bibel das Kriterium für Recht und Unrecht sind. Biblisches Recht ist nicht Jedem das Seine, sondern den Armen und darum den Witwen und Waisen Recht verschaffen. Die Witwe wirft sehr wenig Geld ein, und doch erklärt Jesus feierlich – Amen, ich sage euch –, sie habe mehr eingeworfen als die anderen.

Warum aber nimmt Jesus die Spendenpraxis so genau in den Blick, setzt sich dem Opferstock gegenüber und beobachtet die Leute? Und warum hebt er dann diese Witwe so hervor, macht seine Jünger auf sie aufmerksam? Will er sie uns als Vorbild empfehlen? Will Jesus sagen, dass sie im Licht des HERRN wandelt und so dazu beiträgt, dass der Zion, der Berg, wo das Haus des HERRN steht, weltweit ausstrahlt?

In der Tat wird diese Geschichte oft so ausgelegt – freilich meist von Menschen, die selbst nicht arm sind –, und vielleicht ist das auch der Grund, warum sie heute Predigttext ist. Doch es ist kein guter Umgang mit der Heiligen Schrift, sich unter jedem Abschnitt den Satz zu denken: Gehe hin und tue desgleichen – auch da, wo er gar nicht steht. Wir nehmen uns ein Beispiel an Jesus – es ist immer gut, das zu tun – und sehen genau hin.

Kurz zuvor ist Jesus nach langer Wanderung in Jerusalem eingetroffen – in der Erwartung, dass sich dort die Konflikte zwischen ihm und seinen innerjüdischen Gegnern zuspitzen werden. Er wird er von den Volksmassen begeistert begrüßt, die ihn per Akklamation zum König machen – als Gesalbten, als Messias, als Christus. Seine Gegner, die führenden Kräfte um den Tempel herum, schmieden schon Pläne, wie sie ihn beseitigen können. Doch die Unterstützung durch die einfachen Leute hält sie davon ab, gegen ihn vorzugehen: sie fürchten sich vor dem Volk. Bereits am nächsten Tag verschärft Jesus seinerseits den Konflikt mit den Tempelkreisen. In einer spektakulären Aktion treibt er die Händler aus dem Tempel. Er zitiert dabei ein verheißungsvolles Wort aus dem Buch Jesaja: Mein Haus soll ein Bethaus sein für alle Völker – neben dem Lehrhaus für alle Völker, von dem wir schon hörten. Er zitiert im selben Atemzug aber auch ein sehr kritisches Jeremia-Wort: Ihr habt eine Räuberhöhle daraus gemacht. Zu Jesu Zeiten ist der Tempel ein Riesenbetrieb, in dem sehr viel Geld umgesetzt wird. Und dieser Betrieb ist eng verflochten, im besten Einvernehmen mit der römischen Kolonialmacht, die ihn als Einnahmequelle nutzt. Diese Aktion war also dazu angetan, nicht nur die tempelnahe Oberschicht zu blamieren, sondern auch die Römer, die eigentlichen Machthaber, zu alarmieren. Sie lässt zudem vermuten, dass Jesus die Spenden für den Tempelschatz nicht gerade wohlwollend betrachtet, seine Position gegenüber dem Opferstock auch ein Entgegen meint, Opposition.

Auch danach ist Jesus täglich im Tempel, er lehrt, lässt sich in Gespräche verwickeln. Mit den Sadduzäern aber, der Priesterpartei, und mit ihren Verbündeten auch unter den Ältesten und den Schriftgelehrten – den Kollaborateuren der römischen Machthaber – kommt es zu keiner Verständigung: ihr irrt, sagt Jesus ihnen, ihr irrt sehr. Eine der Kontroversen betrifft den Umgang mit Geld – darf man dem Kaiser, den Römern Steuern zahlen? –, wirft bereits die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Geld auf, von Credo und Kredit. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, sagt Jesus, und Gott, was Gottes ist. Gibt die Witwe Gott oder doch eher dem Kaiser, den Römern, was Gottes ist?

Mit einem der Schriftgelehrten aber stimmt Jesus vollkommen überein darüber, was das höchste der vielen Gebote ist. Jesus zitiert da das Grundbekenntnis Israels, das Schma Israel, in dem ein Zusammenhang anklingt zwischen der Einheit Gottes und der ungeteilten Ganzheit seiner Anhänger: Höre Israel, der HERR, unser Gott ist Einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen. Da könnte das Tun der Witwe doch vorbildlich sein. Wenn sie auch nur einen Pfennigbetrag gibt, er besteht doch aus zwei Münzen. Sie aber macht nicht Halbe-Halbe, will keine halbe Sachen, sondern gibt das Ganze. Man mag das unvernünftig und leichtsinnig finden, aber es ist ein eindrucksvolles Zeugnis ihres Vertrauens, dass dieser Gott die Witwen und Waisen, die Armen, die Fremdlinge erhält, sie mit ihrer Hingabe also nicht ins Leere fällt; sie gibt Gott in jeder Hinsicht Kredit. Aber in der Sicht Jesu, jedenfalls in der Sicht des Markus, ist doch zweifelhaft, ob es sich bei dieser Gabe tatsächlich um einen Dienst am Gott Israels handelt oder um Sklavendienst für ganz andere Mächte und Gewalten.

Denn unmittelbar vor unserem Text beschimpft Jesus andere Schriftgelehrte. Sie fressen die Häuser der Witwen, sagt er. Sie werden sie ja nicht mit vorgehaltener Pistole ausgeraubt haben, sondern mit religiösen, ideologischen Mitteln dazu gebracht, ihnen ihre Habe zu geben. Und dann sieht Jesus einer solchen armen Witwe zu, wie sie ihre letzte Habe dem Tempel gibt, und macht seine Jünger auf sie aufmerksam. Dies Zusammentreffen gibt zu denken, zumal das die beiden einzigen Stellen sind, an denen im Markusevangelium das Wort Witwe fällt. Und unmittelbar nach unserer Geschichte hören wir, wie einer seiner Jünger Jesus bewundernd und staunend auf das Gebäude aufmerksam macht: sieh nur, was für Steine! was für Bauten! Doch Jesus entgegnet: ja, sieh die gewaltigen Bauten; hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben. Diese Umrahmung ist der Deutungsrahmen unserer Geschichte. Jesus beklagt die Witwe als ein Opfer ideologischer Irreführung, ein Opfer derer, die Häuser fressen. Er warnt vor irregeleiteter Hingabe an falsche Instanzen und Objekte. Wandelt als Kinder des Lichts – das meint nicht nur das tröstliche Licht des Evangeliums in finsteren Zeiten, sondern auch sein aufklärendes Licht, das uns davor bewahren soll, im Zwielicht, im Nebel von Ideologien, Verblendungen und Verschleierungen in die Irre zu gehen, den Gott Israels mit allerlei religiös aufgeladenen Gestalten, Mächten und Wahrheiten verwechseln.

Doch es ist nicht nur Warnung, nicht nur Klage, dass Jesus unseren Blick auf diese arme Witwe lenkt. Witwen, besonders arme Witwen, sind in der Bibel oft ein Bild für ein Israel ohne Zukunft, jedenfalls mit gefährdeter Zukunft – etwa die, deren Sohn Jesus im Lukasevangelium auferweckt. Jesus will die Witwe nicht denunzieren, sich von ihr nicht distanzieren. Er solidarisiert sich mit ihr. Sie hat ihr ganzes Leben gegeben, sagt er über sie in einer auffälligen Formulierung. Auch wenn damit gemeint ist: alles, was sie zum Leben hatte – und so wird es auch meist übersetzt –, Jesus sagt das, kurz bevor er selbst sein Leben hingibt. So wird die Witwe zwar zum Gegenbild, aber damit auch zum Bild fürs Leiden und Sterben Jesu. Er macht sich die verlorene Sache, die Irrwege und damit die zukunftslose Situation seines Volkes zu eigen, für die diese Witwe steht, übernimmt sie, nimmt sie ihm damit ab: Das Großartige wie das Schreckliche aller menschlichen und darum leider oft auch unmenschlichen Religion nimmt er weg, nimmt er auf sich. In dieser Hingabe Jesu, für die diese Witwe ein etwas irritierendes Bild ist, solidarisiert sich zugleich der Gott Israels, der seinen Sohn hingibt, mit seinem Volk und dadurch mit allen Völkern. Es ist uns gut, am heutigen 9. Aw daran erinnert zu werden.

Amen.