Weihnachten bis die Wölfe Lämmer werden
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

 

„Es begab sich aber zu der Zeit...“ Weihnachten. Wir tauchen wieder ein in die Geschichte aller Geschichten. Das ist wie: „Es war einmal…“, nur noch schöner und viel wahrer. „Es begab sich aber zu der Zeit...“

Letztes Jahr ist mir das Eintauchen nicht ganz gelungen. Ich bin schon gleich am Anfang der Geschichte hängen geblieben. Diejenigen, die letztes Jahr auch schon da waren, erinnern sich. Ich bin nicht reingekommen in diese Geschichte, weil es ja auch schon schwer war, in die Kirche reinzukommen. Letztes Jahr. Es gab Einlasskontrollen: Schon beim ersten Satz: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging“ war man schon wieder draus aus der Geschichte und dachte nur noch an Coronaverordnungen, und bei „dass alle Welt geschätzt würde“ an Infektionszahlen und Inzidenzen, an Impfpässe und Namenslisten. Ich kam letztes Jahr nicht über den ersten Satz hinaus. Das war noch ein Corona-Weihnachten letztes Jahr.

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Dieses Jahr ist alles anders. Gefühlt jedenfalls, die Aufregung ist weg, die Pandemie-Panik verschwunden. Keine Störung mehr bei der Weihnachtsgeschichte. Wir lesen vom Gebot des Kaisers Augustus, vom Statthalter Quirinius, wir finden die Tür zur eigentlichen Geschichte: Da machte sich auf auch Josef… Nicht mehr abgelenkt von allen Aktualitäten werden wir wieder sensibel für die leisen göttlichen Fügungen in dieser Geschichte. Wir tauchen ein in andere Zeiten, in göttliche Zeitläufe. Sie müssen nach Bethlehem, in die Stadt Davids, denn der, den Gott vor Zeiten zu Rettung verheißen hat, wird ein Sohn Davids sein. …darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war. Und dann kommt sie, endlich, Maria, sein vertrautes Weib; die war schwanger.

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Ich finde, diese Geschichte muss man in der uns so vertrauten Lutherübersetzung hören. Weihnachten ist ja auch ein bisschen die Rettung der alten Wörter und der alten Sprache. Die Wörter, die du das ganz Jahre nicht hörst, nur an Weihnachten: Das Weib statt der Frau, die Krippe statt dem Futtertrog, die Herberge statt „airbnb“, gebären statt Kind kriegen. Und die Hürden und die Menge der himmlischen Heerscharen. Freilich kann man darüber streiten, ob „Sein vertrautes Weib“ für Maria wirklich noch angemessen ist. Zu Luthers Zeit bedeutete es einfach Frau, ganz neutral. Mit der Zeit erhielt das Wort einen ziemlich abwertenden Klang und passt so gar nicht mehr zu Maria, die in unserer Geschichte so aufgewertet wird, dass sie ihren Verlobten Josef gänzlich in den Schatten stellt. Die Weihnachtsgeschichte mit ihren schönen alten Wörtern und ihrer einzigartigen Sprache vom Sprachkünstler Martin Luther.

Und dann ist er schon da, der Hauptsatz dieser Geschichte, der Satz, wegen dem es überhaupt Weihnachten gibt, der Weihnachtssatz also: Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in einer Krippe.

So schnell er gekommen ist, dieser Weihnachtssatz, eine erzählerische Sturzgeburt, so schnell ist er auch wieder vorbei. Szenenwechsel: Hinaus aufs Feld, zu den Hürden und den Hirten. Der Erzähler lässt uns nicht lange im Stall bei der Geburt verweilen und staunen und anbeten. Er führt uns gleich hinaus auf das Feld der Deutung und Bedeutung, in die Nacht, in das Dunkel des zu lichtenden Geheimnisses dieser Geburt.

Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Biblische Geschichten liefern oft auch ihre Deutung mit. Engel kommen und verraten, wie wir es verstehen sollen. Heute ist uns der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Und mit den Gedanken lenkt der Engel auch unsere Gefühle in die richtigen Bahnen: Große Freude.

Weil jede Deutung von Ereignissen sich wieder in die Wirklichkeit, die sie deuten, rückbinden muss, sich also verifizieren muss, werden in der Weihnachtsgeschichte die beiden Szenen gleich miteinander verbunden, die Deutung – Christus geboren – mit der Verheißung: Ihr werdet es finden. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

Das hat der Erzähler Lukas großartig gemacht. Der Engel spricht die Hirten an und sagt: Ihr werdet finden. Natürlich fühlen wir uns dabei mitangesprochen. Wir werden finden!

Aber bevor das nun geschieht, bevor die Hirten hingehen – und wir mit ihnen, um nachzusehen, ob denn stimmt, was ihnen vom Himmel her so Großes und doch Merkwürdiges angekündigt wurde, bevor die Hirten also das machen, was wir alle immer wieder machen müssen, nämlich hinzugehen und zu sehen, ob das, was wir glauben, auch wahr ist, ob es also die Wirklichkeit, die wir vor Augen haben, in ein neues Licht bringt, so dass die Wirklichkeit nicht mehr so aussichtslos ist, bevor das also geschieht in dieser Geschichte und die Hirten sprachen: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat, geschieht noch etwas anderes. Da kommt noch etwas dazwischen, ein himmlischer Zwischenfall, ein himmlischer Jubelruf, eine Halleluja-Zwischenakts-musik: Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

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Und jetzt, liebe Gemeinde, jetzt haut es mich doch raus. Jetzt haut‘s mich aus der Kurve. Ich war so schön drin in dieser Geschichte, in ihrer Spur und ihrer Sprache, auf der Bahn, die sie gekonnt zwischen Himmel und Erde, zwischen Zeit und Ewigkeit legt. Wir waren froh, dass uns Corona nicht mehr aufgehalten hat wie letztes Jahr. Aber ihr habt euch sicher schon gefragt: Wann kriegt er in seiner Predigt wohl die Kurve zum Krieg in der Ukraine, muss ja kommen. Und da ist es: Friede auf Erden, sagen sie, Friede auf Erde! Wie soll man denn da nicht an die Ukraine denken, daran, dass grad kein Friede ist, dass die Menschen im Nachbarland unserer Nachbarn Weihnachten im Luftschutzkeller verbringen müssen, oft ohne Strom und Heizung.

Die Menge der himmlischen Heerscharen, die waren bei dem Engel und sprachen „Friede auf Erden!“ Zu wem sprachen sie das eigentlich? Zu den Hirten auf dem Feld? Falscher Adressat! Oder? Wieso zu den Hirten? Wieso marschierten sie nicht im Himmel über Rom auf und rufen dem Kaiser und Feldherrn Augustus zu: Frieden auf Erden! Wieso nicht über Moskau, überm Kreml oder über dem komischen Palast auf den Klippen von Sotchi, wo immer dieser Putin grad ist, die himmlischen Heerscharen müssten das doch wissen, auch ohne Drohnen, wieso marschieren die himmlischen Heerscharen nicht dort auf zu einer himmlischen Spezialoperation und tröten dem Putin ins Ohr: Frieden auf Erde! Hörst du, Putin? Frieden auf Erden!!! Ab jetzt!

Aber die himmlischen Heerscharen ziehen auf dem Feld über den Hirten auf. Über den friedfertigsten Menschen, die man sich denken kann. Die werden das gehört haben und sich denken: Na schön, Frieden auf Erden. An uns soll’s nicht scheitern. Wer Schafe hütet, kann nichts Böses im Sinn haben.

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Obwohl! Ganz wehrlos sind sie nicht. Einen Stock haben sie dabei, Stecken und Stab, die trösten die Schafe. Oder eine Schleuder, wie der junge David und einen wachen Hütehund. Denn es gibt Wölfe. Nicht nur in Brandenburg. Die Wölfe haben lange Ohren und hören doch nicht, was die himmlischen Heerscharen sagen, wollen es nicht hören, können es nicht hören. Es gibt Wölfe.

Homo homini lupus est, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, behauptet ein lateinisches Sprichwort. Aber es stimmt nicht. Lateinische Sprichwörter haben nicht immer recht. Wir sind uns keine Wölfe, wir sind uns Menschen. Wir töten einander nicht, wir helfen einander zu leben. Wir sind keine Wölfe, wir sind Menschen. Freilich, es gibt Wölfe. Einzelne. So wie es schwarze Schafe gibt, so gibt es auch Wölfe. Leider, man kann es nicht leugnen. Es ist die Wirklichkeit. Deshalb haben die Hirten Stöcke und Schleudern und Hunde. Deshalb werden wieder Waffen dorthin geliefert, wo die Wölfe lauern. Es ist ein Jammer! Sich gegen einen wahnsinnigen Wolf wehren, das ist es, was die Menschen in der Ukraine in diesem schrecklichen Jahr lernen mussten. Und wir mussten lernen, ihnen vorsichtig aber entschieden zu helfen.

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So, jetzt bin ich ganz raus aus der Weihnachtsgeschichte und ganz hart in der sogenannten Realität gelandet, in einer Zeit, in der wieder Krieg in Europa ist. Ich komme auch nicht mehr rein in diese Geschichte. Für heute ist es vorbei. In diese Geschichte komme ich nicht mehr rein. Aber in eine andere Weihnachtsgeschichte könnte ich noch reinkommen, in die märchenhafte Fabel des Propheten.

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. … Und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. (Jes 11,1.4b-6)

Ist das eine andere Geschichte, liebe Gemeinde, oder ist es die gleiche? Es ist ja zumindest auch eine Geschichte dieser Nacht. Die Geburt dieser Nacht ist auch die Geburt einer ganz großen Verheißung: Gerechtigkeit überall und für alle, Treue und Vertrauen, alle können allen vertrauen. Und die Gewalttätigen werden mit dem Stab seines Mundes geschlagen, werden also durch Worte, nur durch Worte überwunden und friedfertig. Werden durch Worte ganz andere. Das ist nach Stand der Dinge nichts anderes als eine Utopie. Denn die Worte seines Mundes müssten auch die Natur verwandelt haben, unsere Natur müsste eine andere geworden sein, zumindest die der Wölfe. Wir sollen Menschen werden. Und auch der letzte Wolf soll ein Mensch werden. Der Wolf wird beim Lamm wohnen.

Wie oft noch müssen wir diese Geschichte hören, wie oft noch müssen wir Weihnachten feiern, bis auch der letzte Wolf es hört: Frieden auf Erden? Und ein Mensch geworden ist?

Gott hat den Anfang gemacht und ist Mensch geworden. Uns wird das doch auch einmal gelingen!

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Frohe Weihnachten, liebe Gemeinde! Ich weiß nicht, wo es mich nächstes Jahr aus dieser Geschichte raushaut. Irgendwas wird schon wieder passieren, die nächste Krise wird nicht auf sich warten lassen. Aber was immer kommen wird – es ist schon mitbedacht worden von Gott, irgendwo in all seinen Geschichten und Verheißungen. Es passiert nichts in dieser Welt, zu dem Gott nicht schon längst einen Trost gespendet und einen Grund zur Hoffnung gelegt hat. Gehet hin, ihr werdet finden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.