Wieder sprechen lernen
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Für Elisabet nun kam die Zeit, da sie gebären sollte, und sie brachte einen Sohn zur Welt. Und ihre Nachbarn und Verwandten hörten, dass der Herr ihr so große Barmherzigkeit erwiesen hatte, und freuten sich mit ihr. Und es geschah am achten Tag, dass sie kamen, um das Kind zu beschneiden und ihm den Namen seines Vaters Zacharias zu geben. Da widersprach seine Mutter und sagte: Nein, Johannes soll er heißen! Und sie sagten zu ihr: Es gibt niemanden in deiner Verwandtschaft, der diesen Namen trägt. Und sie machten Zeichen, um seinen Vater zu fragen, wie er ihn genannt haben wolle. Und er verlangte eine kleine Tafel und schrieb: Sein Name ist Johannes. Und alle wunderten sich. Und auf der Stelle tat sich sein Mund auf, und seine Zunge löste sich; und er redete und pries Gott. Und Furcht überkam alle ihre Nachbarn; und im ganzen Bergland von Judäa erzählte man sich diese Geschichten, und alle, die davon hörten, behielten es im Herzen und sagten: Was wird wohl aus diesem Kind werden? Und die Hand des Herrn war mit ihm.

Und sein Vater Zacharias wurde von heiligem Geist erfüllt und weissagte:

Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat sich seines Volkes angenommen und ihm Erlösung verschafft und uns aufgerichtet ein Horn des Heils im Hause Davids, seines Knechtes, wie er es versprochen hat durch den Mund seiner heiligen Propheten von Ewigkeit her, uns zu retten vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, Barmherzigkeit zu erweisen unseren Vätern und seines heiligen Bundes zu gedenken, des Eides, den er unserem Vater Abraham geschworen hat, uns zu gewähren, dass wir, errettet aus der Hand der Feinde, ihm ohne Furcht dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor ihm all unsere Tage. Und du, Kind, wirst Prophet des Höchsten genannt werden, denn du wirst vor dem Herrn hergehen, seine Wege zu bereiten, Erkenntnis des Heils zu geben seinem Volk durch die Vergebung ihrer Sünden, aufgrund des herzlichen Erbarmens unseres Gottes, mit dem das aufgehende Licht aus der Höhe uns besuchen will, um zu leuchten denen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um zu lenken unsere Füße auf den Weg des Friedens.

 

Er stand da und brachte kein Wort heraus. Er holte Luft, doch die Kehle machte dicht. Er war Priester, er war Pfarrer, er hatte Dienst, er musste sprechen. Die Leute sind da, um ihn zu hören. Er musste was sagen. Aber er konnte nicht. Es hat ihm die Sprache verschlagen.

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Vieles kann einem die Sprache verschlagen. Die Bilder von zerstörten Häusern aus Kiew und Charkiw, was willst du noch sagen? Der brennende Regenwald im Amazonas. Was willst du noch sagen? Du sollst sagen, es ist Advent, die Erlösung steht vor der Tür. Du holst Luft, doch die Kehle macht dicht.

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Ich weiß nicht, was ein Priester im Tempel damals sagen musste, wenn er Dienst hatte. Opfern musste er. Sagen musste er sicher auch etwas. Gott an seine Gnade erinnert, und uns an Gottes Gnade erinnern und beten, dass er uns doch gut sein möge. Und die Hoffnung mit einem Psalm befeuern, etwa so: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet (Lk 1,68f) So was in der Art. Aber Zacharias konnte nicht. Er brachte keinen Laut hervor.

Er hatte nämlich Besuch von einem Engel und der hatte ihn dermaßen erschreckt, dass es ihm die Sprache verschlug. Obwohl der Engel als erstes gesagt hat, was Engel immer als erstes sagen: „Fürchte dich nicht!“ Hat aber nichts genützt, Zacharias erschrak trotzdem. Der Engel hatte nämlich gesagt, dass sein Gebet erhört worden sei und Elisabeth doch noch ein Kind kriegen würde. Dabei hatte er sich schon längst darauf eingestellt, dass sein Gebet doch nie erhört werden würden, nie. Aus Gewohnheit hatte er immer weiter gebetet. Auch um ein Kind. Auch als Elisabeth längst aus dem Alter raus war, in dem dieses Gebet noch erfüllt werden könnte. Er hatte einfach weitergebetet. Aus alter Gewohnheit. Aber geglaubt hat er es nicht mehr. Wie auch?

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Manches ist ja auch kaum zu glauben. „… und auf Erden Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen…“ Und dass unsere Gebete erhört werden. „… dein Reich komme… erlöse uns von dem Bösen“ Wann denn? Wir beten es einfach weiter. Und bald kommt der Engel schon wieder und sagt: „…ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Retter geboren.“ Und obwohl er sagt „Fürchte dich nicht!“, erschrickst du und denkst: Ach wirklich? Und gehst stumm nach Hause und bringst kein Wort mehr raus.

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Doch dann hat Elisabeth tatsächlich noch ein Kind gekriegt. Und sie kamen in den Tempel, um das Kind beschneiden zu lassen und seinen Namen über ihm auszurufen. Und als seine Frau sich durchsetzte gegen den Wunsch der Verwandtschaft und gegen die Tradition und sagte: „Nein, nicht Zacharias wie mein Mann, sondern Johannes!“ und Zacharias ihr dann ausdrücklich zustimmte - jedenfalls soweit das seine immer noch eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten zuließen – da plötzlich konnte er wieder sprechen.

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Die großen Verheißungen Gottes werden wohl noch auf sich warten lassen: Frieden auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen. Aber die kleinen Verheißungen werden wahr – ständig, in einem steten Fluss von Tag zu Tag: dass Kinder geboren werden, dass Eltern sich freuen, dass sie sich auf einen Namen einigen; dass Männer ihren Frauen recht geben.

Jesus meinte, das Reich Gottes fange im Kleinen an, im ganz Kleinen. Ich glaube, er hat recht – immer noch.

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Und das erste, was Zacharias nach mindestens neunmonatiger Stummheit, nach seiner Schweigeschwangerschaft, in seiner Hoffnung wieder zur Welt kommen musste, sagte, was dies:

Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk … durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, auf dass es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.

Den Worten, die vom Himmel kommen, wenn es dir die Sprache verschlagen hat, den Worten, die dir wieder Sprache schenken und Mut und Hoffnung, den braucht man nichts hinzuzufügen.

Amen.