Schritte nach vorne zurück ins Leben
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Den Schlaf noch in den Augen, den Winter noch in den Knochen ereilt uns ein Ruf. „Er ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.“

Was sagt er uns? Wie berührt er uns? Wie begreifen wir, was er sagt? Wie realisieren wir das? Und wie wird es uns verändern?

Was Gott früh am morgen gewirkt hat, erweckt hat in einem Augenblick – wir brauchen Zeit, wir brauchen Schritte, wir brauchen Stufen, um Ostern zu realisieren. Ostern ist ein Prozess.

„Realisieren“, das Wort meint beides: wahrnehmen und verwirklichen. Schritt für Schritt, eins nach dem andern.

Was am Ende des Lukasevanglium erzählt wird, deutet die Stufen eines Prozesses der Lebensgewinnung an.

 

Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte, und er sagt zu ihnen: Friede sei mit euch! Da gerieten sie in Angst und Schrecken und meinten, einen Geist zu sehen. Und er sagte zu ihnen: Was seid ihr so verstört, und warum steigen solche Gedanken in euch auf? Seht meine Hände und Füße: Ich selbst bin es. Fasst mich an und seht! Ein Geist hat kein Fleisch und keine Knochen, wie ihr es an mir seht. Und während er das sagte, zeigte er ihnen seine Hände und Füße. Da sie aber vor lauter Freude noch immer ungläubig waren und staunten, sagte er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen hier? Da gaben sie ihm ein Stück gebratenen Fisch; und er nahm es und aß es vor ihren Augen.

Dann sagte er zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch mit euch zusammen war: Alles muss erfüllt werden, was im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. Dann öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften.

 

Während sie noch darüber redeten…

Stufe 1: Erinnern und reden

Auch den Tod muss man erst realisieren, wahrhaben und für sich verwirklichen. Wenn Menschen plötzlich aus dem Leben gerissen wurden, etwa durch einen Unfall, können es die Angehörigen zunächst nicht fassen. Es braucht Zeit, um so etwas zu wahrzuhaben, zu realisieren. Es gibt Menschen, die wünschen sich für sich einen plötzlichen Tod. Aber das ist egoistisch, denn für die Angehörigen ist das umso schlimmer.

Nach der ersten Sprachlosigkeit reden die Freunde über Jesus, der nicht mehr da ist. Sie können es erst nicht glauben. Dass einer, der eben noch war, nicht mehr ist. Sie fangen an, von ihm zu erzählen: Was er zuletzt gesagt hat, was er zuletzt gemacht hat. Als sie noch zusammensaßen und aßen. Aber da war schon die Ahnung. Sie erinnern sich. Sie, die man die Hinterbliebenen nennt. Es gab Andeutungen. Jetzt erst wird es ihnen klar. Wie er beim letzte Pessachfest das Brot nahm. Wie er es teilte. Wie er es ihnen gab. So hat er das vorher nie gemacht. Seltsam war das. Jetzt erst fällt es ihnen auf.

 

2. Stufe: Beruhigung und Friede

Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!

Sie redeten über ihn, sie erinnerten sich. Da war er da. Mitten unter ihnen.

Jeder Tod ist ein Weggang, jeder Weggang ist ein Abschied. Jeder Abschied ist tut weh. Jeder Abschied ist eine Verletzung.

Man muss damit seinen Frieden finden. Den Frieden damit, das einer weggegangen ist. Den Frieden damit, dass er mich alleine lässt.

Mit anderen erzählen, mit anderen sich erinnern, gemeinsam einen, der gegangen ist, vergegenwärtigen. Im Meer der Trauer tauchen Inseln des Friedens auf.

Auferstehung ist ein Prozess, ein Weg. Auf diesem Weg gibt es auch Rückschritte.

 

Stufe 3: Angst und Unsicherheit

Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Sie erschraken und hatten große Angst, denn sie meinten, einen Geist zu sehen.

Trauernde traue dem Frieden nicht. Oft berichten sie davon, dass die verstorbene Frau, der verstorbene Mann da ist. Als stehe sie dort in der Ecke, wo sie immer stand, als säße er dort im Sessel, wo er immer saß. Die Gegenwart der Verstorbenen ist selten tröstlich. Meistens ist sie unheimlich. Sie scheinen wieder da zu sein – als sei nichts gewesen. Das irritiert die sogenannten Hinterbliebenen und sie sagen sich: Ich darf es mir nicht einbilden. Es gibt doch keine Geister!

Die Erinnerung, die am Anfang heftig ist, ist manchmal so heftig, dass sie die Gegenwart der Verstorbenen vorgaukelt.

 

4. Stufe: Wahrhaben und Berühren

Da sagte er zu ihnen: Was seid ihr so bestürzt? Warum lasst ihr in eurem Herzen solche Zweifel aufkommen? Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht. Bei diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und Füße.

Man kann einen anderen Menschen nur dann richtig treffen, wenn man ihn berührt. Der Händedruck, die Umarmung oder gar der Kuss macht einen Menschen zum Mitmenschen. Wenn ich einen anderen Menschen wirklich wahrnehmen will, weil ich einige Zeit mit ihm verbringen, gemeinsam mit ihm was machen will, dann gebe ich ihm die Hand. Oder umarme ihn.

Der andere ist ein lebendiges Gegenüber. Jeder Mensch stellt eine Wahrheit dar. Die Wahrheit, die der andere ist, fordert mich heraus. Um sie zu begreifen, muss ich sie greifen. Um eine Wahrheit zu begreifen, um sie für mich zu realisieren, um sie für mich Wirklichkeit werden zu lassen, muss ich mich von ihr berühren lassen. Eine Wahrheit, die mich nicht berührt, bleibt Theorie, wie ein Geist, bleibt in den Sternen stehen und ist mir Schnuppe. Ein Schauspiel bloß. Schauspiel heißt im Griechischen theoria. Aber das, was wir sehen – den Auferstandenen – darf keine Theorie bloß bleiben, kein Schauspiel und keine Gespensterstunde. Es muss mich berühren. Und zwar im Guten, nicht im Erschrecken.

Das, liebe Gemeinde, ist des Pudels Kern. Wenn Ostern die Hoffnung des Lebens ist, dann muss mich die Osterbotschaft berühren. Die Auferstehung von den Toten muss leiblich werden. Denn eine Wahrheit, die nicht zum Anfassen ist, berührt mich nicht.

Wenn die Leute zur Trauerfeier auf den Friedhof kommen, geben sie sich die Hand. Verlegen oft, man hat sich lange nicht gesehen, hat sich vielleicht noch nie gesehen, nur voneinander gehört.

Aber dann am Grab berühren sie zunächst die Erde und werfen sie auf den Toten. Sie selbst begraben den Verstorbenen. Dann gehen sie auf die nächsten Angehörigen zu. Da kommt keiner um eine Berührung herum. Ein langer Händedruck, noch mit Erde an den Händen, viele nehmen beide Hände und drücken sie fest. Andere umarmen sich lange und kräftig.

Die Wahrheit, dass wir leben, auch und gerade im Angesicht des Todes, diese Wahrheit muss man spüren. Oder man verliert sie.

 

Stufe 5: Essen und lachen

Sie staunten, konnten es aber vor Freude immer noch nicht glauben. Da sagte er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen hier? Sie gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch; er nahm es und aß es vor ihren Augen.

Nachdem man die Erde berührt hat, nachdem man die Freundin umarmt hat und vom Ort der Toten weggegangen ist, trifft man sich in der Gaststätte. Man trinkt was Warmen, denn auf den Friedhöfen ist es immer kalt. Manchen brauchen einen Schnaps. Man isst. Man stärkt sich. Essen ist die elementarste Lebensvergewisserung. Die Gespräche werden lebhafter, man lacht wieder. Das Leben ist zurückgekehrt.

Gemeinsam essen. Wir sind noch nicht tot. Wir leben noch. Da sagte er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen hier?

Wir leben noch – wir leben wieder!

 

Stufe 6: Einordnen und Verstehen

Dann sprach er zu ihnen: Das sind die Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist. Darauf öffnete er ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift.

Sich erinnern und miteinander reden, sich beruhigen und seinen Frieden finden, Verunsicherungen aushalten, wahrhaben und sich berühren, essen und lachen – Stationen der Trauerarbeit, Stationen der Lebensgewinnung. Ostern realisieren, wahrhaben, dass Christus wahrhaftig auferstanden ist, wahrnehmen, dass Gott den Tod besiegt und das Leben gewonnen hat.

Ein letzter Schritt fehlt noch: Dass wir uns einen Reim darauf machen. Dass wir es einordnen. Dass aus dem Erlebten eine Erfahrung wird. Dass wir es verstehen, dass es so sein muss, weil Gott Gott ist, weil Gott der Schöpfer des Lebens ist, und nicht nur der Schöpfer, auch der Erhalter des Lebens, jeden Lebens, auch wenn es stirbt, weil Gott Himmel und Erde gemacht hat, weil Gott Bund und Treue hält ewiglich und nicht preisgibt das Werk seiner Hände, weil Gott es versprochen hat, weil Gott und Treue und Wahrheit dasselbe sind.

Es gibt so viele Gründe für Ostern. Es gibt so viele Gründe, an die Auferstehung von den Toten zu glauben. Und es wird Gelegenheiten geben, den Glauben wahrzuhaben. Der Auferstandene wird uns treffen, wird uns die Augen öffnen und wir werden verstehen, was geschrieben steht. Es muss alles in Erfüllung gehen.

Die 6 Stufen der Realisierung der Osterbotschaft nach einer Erzählung aus dem Lukasevangelium.

Sechs Stufen? Wenn es biblisch mit rechten Dingen zugeht, müsste noch eine letzte kommen, die siebente. Oder? Bibelmathematik macht kreativ.

Ich schaue nochmal ins Lukasevangelium. Wir sind fast ganz am Ende. Ich lese die letzten Verse. Ja, da ist es! Ganz am Ende, letzter Vers des Evangeliums: Und sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott.

 

7. Stufe: Ergebnissicherung

Wer so weit gekommen ist, dass er den Auferstandenen getroffen hat, wem die Freude darüber, dass Gott den Tod bezwungen hat, über alle Angst und allen Zweifel geht, der kann, der muss, der wird Gott dafür preisen. Und das ist dann keine Pflichtübung, sondern ein Bedürfnis. Das soll es für uns alle werden.

Amen.