Text und Gegentext: In zwei Welten leben
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Und als sie an den Ort kamen, der Schädelstätte genannt wird, kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen zur Rechten, den anderen zur Linken. Und Jesus sprach: Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun. Sie aber teilten seine Kleider unter sich und warfen das Los darüber. Und das Volk stand dabei und sah zu. Und auch die vornehmen Leute spotteten: Andere hat er gerettet, er rette jetzt sich selbst, wenn er doch der Gesalbte Gottes ist, der Auserwählte. Und auch die Soldaten machten sich lustig über ihn; sie traten vor ihn hin, reichten ihm Essig und sagten: Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst! Es war auch eine Inschrift über ihm angebracht: Dies ist der König der Juden. Einer aber von den Verbrechern, die am Kreuz hingen, verhöhnte ihn und sagte: Bist du nicht der Gesalbte? Rette dich und uns! Da fuhr ihn der andere an und hielt ihm entgegen: Fürchtest du Gott nicht einmal jetzt, da du vom gleichen Urteil betroffen bist? Wir allerdings sind es zu Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sagte: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und er sagte zu ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

Und es war schon um die sechste Stunde, und eine Finsternis kam über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verfinsterte sich; und der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei. Und Jesus rief mit lauter Stimme: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Mit diesen Worten verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sagte: Dieser Mensch war tatsächlich ein Gerechter! Und alle, die sich zu diesem Schauspiel zusammengefunden und gesehen hatten, was da geschah, schlugen sich an die Brust und gingen nach Hause. Alle aber, die ihn kannten, standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa gefolgt waren, und sahen alles.

 

Das ist eine sehr traurige Geschichte. Die Geschichte vom Ende eines Menschen. Die Geschichte eines Gescheiterten.

Nicht immer sind die Geschichten vom Ende eines Menschen traurig. Wenn ein Mensch seine Jahre gehabt hatte, sein Leben leben konnte, seine Werke tun und seine Worte sagen konnte, dann ist sein Ende ein Abschluss, vielleicht gar eine Vollendung, ein Schlusspunkt mit Respekt und Dankbarkeit.

Aber dieses Ende war nicht so. Es war ein Abbruch, ja mehr noch: Es war ein Scheitern. Erwartungen wurden enttäuscht, Veränderungen sind nicht eingetreten, Ideen haben sich nicht erfüllt, die Hoffnung ist zuletzt gestorben.

Das Scheitern bahnte sich an. Die, die bei ihm waren, die die mit ihm hofften und sich von ihm alles erhofften, haben ihn verlassen, haben ihn allein gelassen. Wie die Ratten das sinkende Schiff. Er starb einsam.

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Wir aber sind heute hier. Und nun gibt es für uns zwei Möglichkeiten: Wir können uns auf die Dynamik dieser drei Tage einlassen, wir können die Dramatik von Ostern inszenieren, indem wir die drei Tage liturgisch im Gottesdienst, aber auch in unseren Gefühlen nachfeiern. Wir wissen zwar, dass übermorgen Ostern ist, wir wissen, was uns dann gesagt werden wird, wir wissen also, dass das mit Karfreitag und mit diesem traurigen Tod nicht das letzte Ende ist. Aber wir könnten dieses Wissen heute zurückstellen, so tun, als wüssten wir es nicht und uns ganz auf diesen Tag einlassen.

Ich habe viel übrig für diese Möglichkeit. Sie böte uns Gelegenheit, an das Scheitern dieses guten Menschen von Nazareth anzuknüpfen und über alle unsere enttäuschten Hoffnungen, über all das zu sprechen, was gescheitert ist.

Etwa davon, dass unser Glaube an eine von allen akzeptierte Friedensordnung in Europa gescheitert ist, dass die Zeiten, in denen ein Land ein anderes überfällt, um es sich einzuverleiben, der Vergangenheit angehörten. Diese Hoffnung ist gescheitert. Und dass wir den Frieden mit Diplomatie und immer weniger Waffen sichern könnten.

Karfreitag. Wenn Gewissheiten wegschwimmen, wenn Hoffnungen verlorengehen. Ein trauriger Tag, ein Tag zum Trauern.

Das also wäre die eine Möglichkeit, mit diesem Tag umzugehen. Das Scheitern aushalten – wenigstens ein, zwei Tage. Die Hoffnungslosigkeit auszuhalten, zu trauern – wenigstens ein zwei Tage.

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Die zweite Möglichkeit, mit diesem Tag umzugehen, ist, dass wir uns der vorgeschlagenen Festinszenierung verweigern, nicht am Karfreitag Trauer und an Ostern Freude inszenieren, sondern dass wir das, was uns immer schon gesagt wurde, seit wir Christen sind, das, was das Christsein im Ursprung und im Kern ausmacht, auch an diesem Karfreitag zur Geltung bringen: Gott ist Herr auch über den Tod, Gott hat den Tod besiegt, Christus ist auferstanden von den Toten. Wir tun also nicht so, als wüssten wir nicht, was übermorgen gesagt werden wird. Wir erlauben dem Licht von Ostern, schon in diesen Karfreitag zu leuchten. Wir lassen einen Hoffnungsschimmer in diesen traurigen Tag.

Diese zweite Möglichkeit ist die, die uns der für heute vorgegebene Text anbietet. Es ist kein trauriger Text. Es ist ein hymnischer Text, beinahe euphorisch und triumphierend.

Warum eigentlich nicht? Hört diesen Text, hört ihn als Text zur traurigen Geschichte von Karfreitag.

 

Gott hat uns der Macht der Finsternis entrissen und uns versetzt ins Reich seines geliebten Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden. Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm wurde alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, ob Throne oder Herrschaften, ob Mächte oder Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.

Und er ist vor allem, und alles hat in ihm seinen Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem der Erste sei.

Denn es gefiel Gott, seine ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn das All zu versöhnen auf ihn hin, indem er Frieden schuf durch ihn, durch das Blut seines Kreuzes, für alle Wesen, ob auf Erden oder im Himmel.

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Das also ist der Gegentext zur traurigen Erzählung vom Scheitern des Jesus von Nazareth.

Gott hat uns der Macht der Finsternis entrissen und uns versetzt ins Reich seines geliebten Sohnes. Ja, so ist es: Mit diesem Hymnus, mit diesem jubelnden Bekenntnis entreißt uns Gott der Macht des finsteren Karfreitags und versetzt uns in das Reich seines Sohnes, der nicht verzweifelt ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, sondern in dem Gott seine ganze Fülle hat wohnen lassen. Mehr geht nicht. Christus, Erlöser, Versöhner, erster Mensch, ja sogar Schöpfer von Himmel und Erde, Herrscher über allem, Haupt der Kirche, ein Christus, der von Anfang an war und ewig sein wird, ein Christus, mit dem es nicht zu Ende gehen kann, ein Christus, dessen Tod nicht sein Ende ist und schon gar kein Scheitern, sondern ein voller Erfolg. Denn damit machte er Frieden zwischen Himmel und Erde.

Ich sprach von einem Hoffnungsschimmer, der mit diesem Text von Ostern auf den Karfreitag fällt. Das war untertrieben. Es ist nicht nur ein Schimmer. Das ist gleisendes Sonnenlicht. Zieht die Sonnenbrille auf! Die Finsternis, die im Bericht von seiner Kreuzigung über das ganze Land zog, weil die Sonne ihren Schein verloren habe, wurde durch die Strahlkraft dieses Textes vertrieben.

Der Hymnus aus dem Kolosserbrief ist ein Gegentext zu den Passionsberichten der Evangelien. Es sind Texte aus verschiedenen Welten. Die Passionsberichte sind Texte aus der unserer Welt, aus der Welt, wie wir sie wahrnehmen, wie wir sie mit unseren Sinnen erfahren, Texte aus der sogenannten Realität. Sie sind zwar auch keine historischen Protokolle. Auch sie sind konstruiert, literarisch theologische Bearbeitungen der Hinrichtung des Jesus von Nazareth. Aber sie haben den Anspruch, die Welt so drastisch zu zeichnen, wie sie uns oft erscheint. Es geht um Tod und Scheitern, um Gewalt und Brutalität, um Lüge und Feigheit.

Der Hymnus dagegen ist ein Text aus der Welt Gottes. Da wird die gleiche Geschichte vollkommen umgedeutet. Er geht um Erlösung und Vergebung, um Regierungswechsel und die Entmachtung falscher Mächte und es geht um Friede, Friede auf Erden und im Himmel.

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Wie kann man beide Texten zugleich lesen? Wie kann man in beiden Welten leben? Wie kann man sich in zwei Wahrheiten orientieren?

Man kann. Man muss es sogar. Wer nur in der traurigen Realität lebt, wer nur immer alles aufsaugt, was scheitert und im Elend und Tod endet, der wird verrückt und depressiv und verliert den Bezug zur Hoffnung. Wer nur in einer Gegenwelt lebt, in der alles gut ist, wird entrückt und verliert den Bezug zur Realität.

Man muss also in beiden Welten leben, in dieser Welt mit allen Sinnen, und in der Welt Gottes mit dem Glauben. Wir müssen in dieser Welt mit allen Sinnen aufmerksam alles wahrnehmen, was in ihr geschieht und uns dem stellen. Und wir müssen gleichzeitig mit dem Glauben die Worte aufnehmen, die davon berichten, dass in den Augen Gottes alles schon gut ist. An Karfreitag und Ostern hat Gott alles wieder gut gemacht, die Todesmächte entmachtet, alles beseitigt hat, was zwischen uns und Gott steht, und den Frieden zwischen Himmel und Erde wiederhergestellt.

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Spannend ist die Spannung, die ja unleugbar zwischen den beiden Texten, den beiden Welten, den beiden Sichtweisen herrscht. Diese Spannung muss man aushalten. Die Spannung zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, die werden soll.

Sie lässt sich aushalten. Denn wir haben eine Aufgabe.

Die Aufgabe ist nicht, die gute Welt Gottes zur Welt zu bringen und sie also zu realisieren. Das werden wir nicht schaffen, damit würden wir uns hoffnungslos übernehmen und nur verzweifeln. Unsere Aufgabe ist nur, genau hinzusehen. Denn Gott lässt aus seiner Welt Keime des Guten in unsere blutgetränkte Erde träufeln. Wer genau hinguckt, wird sie finden.

In der finsteren Szene auf Golgatha steht dieser römische Hauptmann, der diese Hinrichtung durchführen ließ. Jesus starb und er sah, was geschehen war. Was sah er denn? Nichts Anderes als das, was wir sehen: Ein Mensch wurde hingerichtet. Wahrlich kein Grund, Gott zu preisen. Aber der Hauptmann pries Gott und sprach: Tatsächlich, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen.

An diesem Punkt unterscheiden sich die Evangelien. Bei Markus sagt der Hauptmann: Dieser Mensch war tatsächlich Gottes Sohn. Auch bei Matthäus erkennt der Hauptmann, der Getötete sei Gottes Sohn gewesen. Aber dort erkennt er es nicht unmittelbar, nachdem Jesus gestorben ist, sondern erst aufgrund des Erdbebens, das daraufhin geschehen sei.

So ist das, wenn man in die Welt des Glaubens hinüberschreitet, da ist alles Deutung. Und deshalb nicht mehr eindeutig.

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Deutung ist alles, Deutung und Bedeutung. Dem Sichtbaren eine neue Dimension geben.

Lassen wir uns also heute die Finsternis, die auf dem Hinrichtungshügel Golgatha liegt, gleich wieder durch einen strahlenden Text aus der Welt Gottes, aus der Welt des Glaubens und des Bekenntnisses vertreiben. Warum eigentlich nicht? Wir brauchen doch einen Hinweis Gottes, dass die Realität der Welt, so traurig wie sie gerade ist, nicht die letzte Wirklichkeit ist, die Gott für die Welt und uns vorgesehen hat. Zumal es ja am Ende in der Welt und in diesem Text um Frieden geht.

Gott hat uns der Macht der Finsternis entrissen und uns versetzt ins Reich seines geliebten Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden.

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm wurde alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, ob Throne oder Herrschaften, ob Mächte oder Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. … Alles hat in ihm seinen Bestand. …

Denn es gefiel Gott, seine ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn das All zu versöhnen auf ihn hin, indem er Frieden schuf durch ihn, durch das Blut seines Kreuzes, für alle Wesen, ob auf Erden oder im Himmel.

Der Hauptmann des Pontius Pilatus hat es begriffen. Vielleicht hat er daraufhin seinen Dienst quittiert. Vielleicht hat es auch Pontius Pilatus selbst irgendwann begriffen. Vielleicht begreift es auch Wladimir Putin irgendwann. Hoffentlich.

Die Hoffnung stirbt nicht. Der Glaube stirbt nicht. Die Liebe stirbt nicht. Auch nicht am Karfreitag

Amen.

 

Fürbitten:

Allmächtiger und ewiger Gott!

Du hast uns der Macht der Finsternis entrissen und uns versetzt ins Reich deines geliebten Sohnes. Dafür danken wir dir. Füll uns den Glauben wieder auf, damit wir uns in diesem Reich auch wohlfühlen.

Durch den Tod deines Sohnes am Kreuz haben wir die Erlösung und die Vergebung der Sünden. Dafür danken wir dir. Nun wollen auch wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Hilf uns dazu.

Durch den Tod deines Sohnes am Kreuz hast du Frieden geschaffen für alle Wesen auf Erden und im Himmel. Das sollen aber auch die Menschen in der Ukraine merken. Gebiete du dem Krieg dort endlich Einhalt mit all deiner Macht, mit all deinem Einfluss. Du hast die Mächte des Todes besiegt. Das glauben wir. Wir sollen es aber auch einmal sehen. Lass Friede werden, wir bitten dich, in der Ukraine und überall, wo Krieg und Gewalt herrschen.

Beschütze alle Christen in diesen Ostertagen vor Gewalt und Verfolgung. Beschütze alle Juden in diesen Tagen des Pessach vor Gewalt und Verfolgung. Beschütze alle Muslime in diesen Tagen des Ramadans vor Gewalt und Verfolgung.

Die Zweifelnden ermutige und tröste die Verzweifelten. Die Kranke heile und erlöse die Sterbenden.

Amen.