Da stand ein Gesetzeslehrer auf und sagte, um ihn auf die Probe zu stellen: Meister, was muss ich tun, damit ich ewiges Leben erbe?
26Er sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du da? 27Der antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst.
28Er sagte zu ihm: Recht hast du; tu das, und du wirst leben. 29Der aber wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
30Jesus gab ihm zur Antwort: Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter die Räuber. Die zogen ihn aus, schlugen ihn nieder, machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab, sah ihn und ging vorüber. 32Auch ein Levit, der an den Ort kam, sah ihn und ging vorüber. 33Ein Samaritaner aber, der unterwegs war, kam vorbei, sah ihn und fühlte Mitleid.
34Und er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm. Dann hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in ein Wirtshaus und sorgte für ihn. 35Am andern Morgen zog er zwei Denare hervor und gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn! Und was du darüber hinaus aufwendest, werde ich dir erstatten, wenn ich wieder vorbeikomme.
36Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden? 37Der sagte: Derjenige, der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Geh auch du und handle ebenso.
Wer ist mein Nächster? Ein Gesetzeslehrer fragt nach dem Gesetz der Nächstenliebe. Wie lauten die Regeln der Nächstenliebe? Gibt es dafür Formeln und Algorithmen? Gibt es Gebrauchsanweisungen oder wenigstens ein Handout, wie man das macht?
Wer ist mein Nächster? Wie kriege ich das raus?
Jesus erzählt eine Geschichte. Da liegt einer halbtot. Ein Priester sieht ihn und geht vorbei. Ein Lewit sieht ihn und geht vorbei. Ein Samariter sieht ihn und geht nicht vorbei, sondern hilft ihm.
Der Priester und der Lewit kennen das Gesetz. Beide Kirchenleute. Sie kennen seine Hauptformel: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Doch offenbar können die, die das Gesetz kennen, es nicht anwenden.
Der Samariter ist einer von dieser alten israelischen Sekte, Reste einiger Nordstämme in Samarien, die nur die 5 Bücher Mose haben. Immerhin das Gesetz, das kennt der Samariter auch. Sonst aber trauen die „richtigen“ Israeliten den Samariter nicht viel zu. Allerdings, der vom wahren Glauben Abgefallene hat Mitleid, die Nächstenliebespezialisten der richtigen Religion indes haben kein Mitleid. Dafür haben sie es eilig. Im Dienst der richtigen Religion am Tempel von Jerusalem.
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Ich bin auch ein Spezialist für Nächstenliebe. Ich bin Pfarrer, Pfarrer am Französischen Dom. Bei den Reformierten, im Dienst der richtigen Religion. Ich habe es auch immer eilig.
Ich bin immer an ihm vorbeigegangen. Ich habe ihn nicht bemerkt. Er lag an der Nordseite des Französischen Doms. Dort, geschützt vor Regen und Sonne, hatte er sich sein Refugium zurechtgemacht. Dort hauste er seit Wochen. Ich habe öfter seinen Schlafsack und seinen Regenschirm gesehen und gedacht: Kann der sich nicht einen anderen Platz suchen? Muss es ausgerechnet der Französische Dom sein? Wie sieht denn das aus?
Der Französische Dom, an dem er lag, gehört ja nicht uns, sondern dem Land Berlin. Die zuständige Domverwalterin beim Bezirk Mitte hatte uns gesagt, wir sollten die Polizei rufen, wenn Obdachlose hinter den Säulen des Doms hausen. Ich mochte nicht die Polizei rufen. Ich mag Obdachlose nicht vertreiben, nicht, wenn sie Schutz im Schatten einer Kirche suchen, wenn sie an den Mauern des Tempels meinen, ein Asyl gefunden zu haben. Aber so ganz recht war es mir auch nicht, dass er dort lag. Ich habe aber nie mit ihm gesprochen. Ich habe es immer eilig auf dem Weg zwischen Berlin und Teltow. Ich habe gehofft, das Problem werde sich von selber lösen.
Es hat sich von selber gelöst. Vor zwei Wochen ist er gestorben. Auf den Stufen des Französischen Doms, hinter den Säulen. Drei Tag lag er tot dort oben - unbemerkt. Während er dort lag, feierten wir eine Trauerfeier in der Kirche für ein im hohen Aller verstorbene Frau aus der Gemeinde und am nächsten Tag einen Gottesdienst zum Gedenken an die Bartholomäusnacht vor 450 Jahren, der im Radio live übertagen wurde. Keiner der vielen Menschen, die an diesen Tagen in der Kirche waren und mitfeierten, beachtete ihn, den toten Schwarzen hinter den Säulen auf der Nordseite des Doms.
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Wer ist mein Nächster, fragt der Gesetzeslehrer. Es gibt aber kein Gesetz dafür. Es gibt keinen Indikator, es gibt kein Gerät, das man bauen könnte und das einem verlässlich anzeigt: Der ist mein Nächster, aber der nicht.
Nachdem Jesus seine Geschichte erzählt hat, fragt er den Gesetzeslehrer: Wer von den dreien ist dem, der unter die Räuber gefallen war, zum Nächsten geworden. Die Frage ist ungewöhnlich gestellt. Das Objekt wird zum Subjekt. Nicht der Verletzte wird zum Nächsten für den Samariter, sondern der Samariter wird zum Nächsten des Verletzten. Nicht du suchst dir deinen Nächsten, um ihm zu helfen. Sondern du wirst zum Nächsten dessen, dem du hilfst. Nicht deine Werte, deine Ethik, deine Haltung, dein Denken und Urteilen suchen deinen Nächsten, um an ihm deine Nächstenliebe zu üben. Sondern dein Mitleid macht dich zum Nächsten.
Wer ist mein Nächster, fragt der Gesetzeslehrer. Schon die Frage ist falsch. Als hätte man eine Wahl. Es gibt keine Regeln, es gibt nichts zu entscheiden. Es gibt nur das Mitleid. Den Samariter jammerte es. Den Priester und den Lewiten nicht. Dein Mitleid macht dich zum Nächsten.
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Er nannte sich Jean Senghor, nach Léopold Senghor, dem langjährigen und ziemlich europhilen Präsidenten des Senegal. Er lebte schon lange in Deutschland, hat eine deutsche Frau und eine Tochter und eigentlich einen anderen Namen. Er war Jurist. Aber er änderte seinen Namen und sein Alter, um in Deutschland bleiben zu können. Die verzweifelten Taten der Flüchtlinge. Du kannst in diesem Land nicht bleiben, ohne zu tricksen. Aber wenn das Tricksen rauskommt, kannst du auch nicht bleiben. Die Behörden entdeckten, dass etwas mit seiner Identität nicht stimmte. Er konnte nie richtig Fuß fassen. Alle Pläne für ein Leben in Deutschland scheiterten. Er verlor den Kontakt zur Frau, zur Tochter. Er landete auf der Straße. Er wurde sehr verbittert. Er wurde aggressiv. Er suchte sich seinen Flecken Heimat in der Mitte der Hauptstadt, am Französischen Dom, hinter den Säulen auf der Nordseite, ein Schlafsack, ein Regenschirm, weniger gegen Regen und Sonne, mehr, um nicht gesehen zu werden. 2 qm Deutschland, zu wenig zum Leben, aber genug zum Sterben.
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Es gab Menschen, die ihm zum Nächsten hätten werden können. Es gab Menschen, die Mitleid mit ihm hatten, denen es jammerte, als sie ihn sahen, die zu ihm gingen und ihm einen Kaffee bringen wollten, ihm Hilfe anboten, sich erkundigten. Aber er ließ nicht zu, dass sie ihm zum Nächsten wurden. Er wies sie ab. Er brauche nichts. Es braucht immer zwei, um einander nächste zu werden. Beide müssen wollen.
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Die erste Frage des Gesetzeslehrers an Jesus war nicht: Wer ist mein Nächster. Die erste Frage war: Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Jesus lenkt die Frage nach dem ewigen Leben um in einer Frage nach dem Leben. Leben ist, Mitleid zuzulassen und Hilfe zuzulassen. Leben ist nicht, ungestört deine Wege zu gehen, und auch nicht, alles allein und ohne Hilfe zu bestehen. Leben ist auch Leiden und Mitleiden, helfen und sich helfen lassen. Tu das, so wirst du leben, sagt Jesus. Noch deutlicher: Lass es zu, so wirst du leben! Lass beides zu: das Mitleid und die Hilfe!
Jean Senghor hat es nicht zugelassen. Doch auch er wird das ewige Leben erhalten. Das glauben wir. Denn unseren Unwillen, unseren verkehrten Stolz, unsere Trägheit hat Gott am Kreuz auf sich selber genommen, um es uns nicht mehr anzurechnen. Gott ist uns in Christus zum Nächsten geworden. Um Christi willen: Jean Senghor wird leben.
Wir werden alle Jean Senghor oder wie immer er auch heißt, an sein Grab begleiten. Wir werden sein Leben bedenken, wir werden Gott um Verzeihung bitten und ihm danken, dass Jean ihn in Ehren aufnehmen wird, dass er ihm einen Platz geben wird, an dem er ewig wird leben können – und endlich er selbst sein darf. Amen.
Fürbitten:
Ewiger und barmherziger Gott,
du hast uns dein Gesetz gegeben und dein Gebot, aber auch ein Gewissen und ein Gemüt, Empfindung und eine Seele. Du hast uns so ausgestattet, dass wir die Nächsten derer werden, die du uns an den Weg legst. Dafür danken wir dir und bitten dich, dass wir auch so tun, wie wir tun können.
Nimm uns die Eile, mit der wir durchs Leben hechten. Dreh uns die Köpfe auf unseren Wegen, damit wir die an der Seite sehen.
Errege uns das Mitleid, wenn wir lieber unempfindlich bleiben wollen, und fall uns ins Gewissen, wenn wir uns hartherzig geben wollen.
Erbarme dich der Verbitterten und der Verwirrten und auch der Sturen und Stolzen, die immer meinen, alles alleine machen zu können.
Wir bitten dich für Jean Senghor: Nimm ihn auf in deinen Frieden, gib ihm einen Platz, an dem er bleiben kann und der sein kann, der er ist. Verzeih allen, die achtlos an ihm vorbeigegangen sind und verzeih auch ihm, dass er keine Hilfe angenommen hat.
Amen.