Recht auf Zorn?
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Sekundenkleber ist ein teuflisches Zeug. Aber sehr wirksam. Ein Tröpfchen und das Ding klebt sofort und geht nicht mehr ab. Man muss nur höllisch aufpassen, dass man es nicht versehentlich an die Hände kriegt. Die kleben dann auch sofort fest.

In großen Städten verteilen junge Menschen Sekundenkleber auf ihre Handflächen und unter ihre Fußsohlen und kleben sich in Autobahnausfahrten auf den Asphalt. Vor ihnen liegen Plakate. Darauf steht: „Essen retten – Leben retten“ oder „sofortiges Ende der Ölbohrungen in der Nordsee“. Der Berufsverkehr staut sich, die Polizei hat Mühe, die Sitzblockierer wegzuschaffen – wegen des Sekundenklebers. Ein teuflisches Zeug.

„Last generation“ nennen sie sich. Junge Menschen, vermutlich meistens Kinder bildungsbürgerlicher linksalternativer Eltern, haben sich zu radikalem zivilem Ungehorsam entschieden. Ihr Ziel ist die Rettung des Planeten vor der Unbewohnbarkeit. Sie sind davon überzeugt, dass sie die letzte Generation seien, die das Umkippen noch verhindern könne, man muss nur sofort und entschieden und gründlich handeln. Dieses Ziel heiligt in ihren Augen fast alle Mittel. Natürlich ist ein Berliner Verkehrsstau ein geringeres Übel als die Unbewohnbarkeit der ganzen Erde. Und sie selbst bringen auch ein Opfer dar: ihre vom Sekundenkleber verätzten Handflächen. Es ist eine zornige Jugend. Aber haben sie - angesichts ihrer Jugend und der nicht mehr zu bezweifelnden Klimaveränderung - nicht alles Recht auf Zorn? Gibt es überhaupt ein Recht auf Zorn?

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Das ist die Frage, die man sich stellt, wenn man eine der skurrilsten biblischen Erzählungen liest. Gibt es ein Recht auf Zorn? Das ist eine ziemlich interessante Frage. Im Blick auf die Aktionen von „Last generation“ ist sie rechtlich wohl einfacher zu beantworten als moralisch. Wir wollen sie aber weder rechtlich noch moralisch betrachten, sondern theologisch. Dazu machen wir genau dort weiter, wo wir letzten Sonntag aufgehört haben, beim letzten Kapitel des kleinen Jonabuches.

Letzten Sonntag standen die Einwohner der großen Stadt Ninive im Fokus unserer Betrachtung. Jona, ein ihnen fremder Prophet, kündigte ihnen im Namen eines ihnen fremden Gottes den baldigen Untergang der Stadt an. Weil sie böse seien. Sie fragen nicht wieso und warum, stellen nichts in Frage und zweifeln auch nichts an. Sie geben keine Prüfungen und keine Gutachten in Auftrag, sondern gehen sofort in Sack und Asche und fasten, um öffentlich Buße zu tun. Sie wollen Gott umstimmen, ihn von seinem Zorn abbringen, ihn milde stimmen.

Wir haben letzten Sonntag durchaus eine Parallele zu heute gesehen. Unserer Erde wird seit einiger Zeit eine Klimakatastrophe, also fast sowas wie ihr Untergang angekündigt. Das führt durchaus zu einer Umkehr, zur Abkehr von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien und neuerdings angesichts der Gasdrosselungen auch zu einem Art Energiefasten. Ein gewisses Element der Umkehr kann man schon feststellen, heute wie damals in Ninive. Nur alles viel langsamer - vielleicht zu langsam. Und es hat heute nichts mit Gott zu tun. Es geht zwar um Umkehr, aber nicht um Buße, jedenfalls nicht gegenüber Gott. Das ist der Unterschied.

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Allerdings ist das ja scheinbar die Pointe der Jonageschichte. Gott lässt sich umstimmen. Unsere Umkehr bewirkt eine Umkehr Gottes. Er lässt ab von seinem Zorn, es reut ihn, er wird milde und freundlich.

Was aber macht das mit Jona? Er müsste sich ja freuen über seinen Erfolg. Tut er aber gar nicht. Der ist wirklich ein komischer Vogel. Doch hört selbst:

Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, tat ihm das Unheil leid, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Da kam großer Unmut über Jona, und er wurde zornig. 2Und er betete zum Herrn und sprach: Ach, Herr, war nicht eben das meine Rede, als ich in meiner Heimat war? Darum bin ich zuvor nach Tarschisch geflohen! Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Gnade, und einer, dem das Unheil leidtut.

3Und nun, Herr, bitte nimm mir mein Leben, denn besser als mein Leben ist mein Tod.

4Da sprach der Herr: Ist es recht, dass du zornig bist? 5Und Jona ging aus der Stadt, und östlich der Stadt ließ er sich nieder. Und dort baute er sich eine Hütte, und er saß darin im Schatten, bis er sehen würde, was in der Stadt geschah. 6Und der Herr, Gott, ließ einen Rizinus wachsen, und dieser wuchs über Jona empor, um seinem Kopf Schatten zu geben und ihn von seinem Unmut zu befreien. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus.

7Als aber am nächsten Tag der Morgen dämmerte, ließ Gott einen Wurm kommen, und dieser stach den Rizinus, und er verdorrte. 8Und als die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen sengenden Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, und er brach zusammen. Da wünschte er zu sterben und sprach: Besser als mein Leben wäre mein Tod. 9Gott aber sprach zu Jona: Ist es recht, dass du des Rizinus wegen zornig bist? Und er sagte: Es ist recht, dass ich zornig bin bis auf den Tod! 10Da sprach der Herr: Dir tut es leid um den Rizinus, um den du dich nicht bemüht und den du nicht großgezogen hast, der in einer Nacht geworden und in einer Nacht zugrunde gegangen ist. 11Und da sollte es mir nicht leidtun um Ninive, die große Stadt, in der über hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und um die vielen Tiere?

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Jona heißt „Taube“. Was ist das für ein komischer Vogel, dieser Jona. Ärgert sich schwarz, weil Gott gnädig ist. Ist enttäuscht, dass Gott sich umstimmen lässt, dass Gott umkehrt.

Überhaupt kehren in dieser Geschichte alle gerne um. Gott kehrt um, die Leute von Ninive kehren um, auch ihr König und ihre Tiere. Nur Jona nicht. Schon am Anfang der Geschichte flieht er vor Gott und muss fast gewaltsam von Gott zur Umkehr gebracht werden. Mittels eines Sturmes und eines großen Fisches holt Gott ihn zurück von seinem Ausreißen und bringt ihn dorthin, wo er ihn haben will: nach Ninive. Alle kehren um, sogar die Seeleute, die Jona über Bord geworfen haben, bitten Gott dafür um Verzeihung. Alle kehren um, nur Jona nicht. Der bleibt ein sturer Prophet des Unheils, der keine Gnade gelten lässt, obwohl er sie selbst am eignen Leib erfahren hat.

Komischer Vogel, dieser Prophet.

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Es könnte sein, dass die ganze Jonaerzählung eine Art Persiflage oder Satire ist. Dieses ständige, eilfertige Umkehren von allen, bis hin zu den Tieren, die nicht nur fasten sollen, sondern auch Trauergewänder anziehen und mit zu Gott rufen sollen. Auch die Übertreibung ist ein Element der Persiflage: die Rettung im Bauch eines Fisches, dass der Rizinus in einem Tag Jona über den Kopf wächst. Und auch diese ständige umkehren ist irgendwie übertrieben. Überdeutlich wird, dass Jona ein Problem hat. Aber mit was eigentlich? Was soll hier durch Überzeichnung und Karikatur bloßgestellt werden?

Vielleicht die Unheilspropheten. In der hebräischen Bibel gibt es bisweilen Kritik an den Heilspropheten. Das sind die, die dem König nach dem Mund reden, nur Gutes sagen, nur beschwichtigen, nur sagen, was der Auftraggeber hören will.

Vielleicht gab es aber auch die Gegensorte, die Unheilspropheten, die dauernd nur an allem rumnörgelten, die sich in der Attitüde der ewigen Mahner gefielen, die sich in ihrem Kritizismus sehr wichtig nahmen, die sich vielleicht gar für wachsamer, schlauer, intelligenter hielten, womöglich mit der Arroganz der Besserwisserei auftraten. In einige biblischen Prophetenbüchern, bei Jeremia und Ezechiel vor allem, gibt es Sammlungen von Unheilsprophezeiungen gegen andere Völker.

Es könnte sein, dass das Jonabuch sich über Propheten lustig macht, die kritischer sind, als der liebe Gott erlaubt. Eine Kritik, die das Maß verliert und sich zur absoluten Pose aufschwingt, verleugnet den gnädigen Gott.

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Im letzten Kapitel wird die Ironie auf die Spitze getrieben.

Jona ist sauer, ist zornig darüber, dass die Katastrophe nicht eintrifft. Er ist von Gott enttäuscht und sagt: Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Gnade, und einer, dem das Unheil leidtut.

Jona weiß um die Gnade Gottes. Aber er lässt sie nicht gelten. Weil dieses Gnädigsein Gottes seine eigene Bedeutung als der zornige, kritische Unheilsprophet schmälert.

Auch die Gnade Gottes bringt ihn nicht zur Umkehr. Er beharrt auf seinem Trotz. Er kann sich selber nur imponieren als rechthaberischer Prophet des Untergangs.

Jona setzt sich an den Rand der Stadt, um zu sehen, was passiert. Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie nicht doch noch untergeht. Um ihn aus seiner Schmollecke rauszuholen, lässt Gott ihm einen Rizinus wachsen, der ihm Schatten spendet. Und tatsächlich: Jona freut sich über den Rizinus. Es gelingt. Dieser Jona kann sich ja auch freuen! Sieh mal an: Er freut sich über dieses Bäumchen. Geht doch! Und wie nachhaltig ist diese Freude? Ist Freude für einen wie Jona eine Lebenserfahrung oder doch nur ein peinlicher Zwischenfall?

Am nächsten Tag lässt Gott den Rizinus wieder eingehen. Sofort ist Jona wieder zornig. Da fragt Gott ihn wieder: Ist es recht, dass du zornig bist? Ja, antwortet Jona. Er habe ein Recht auf Zorn und er habe ein Recht auf den Tod. Wenn es eben nicht so läuft, wie er denkt, dass es laufen müsse, dann hat er ein Recht auf Zorn und ein Recht zu sterben.

Das, liebe Gemeinde, ist nichts anderes als selbstbezogene Dummheit. Eine auf sich selbst bezogene Dummheit nennt man Idiotie. Jona ist ein Idiot.

Sich wegen eines eingegangenen Rizinusbäumchens den Tod wünschen! Das ist idiotisch. Wenn das eigene Empfinden und das Selbstmitleid zur Nabelschau werden und zum Maß aller Dinge.

Aber Gott versucht, den an Selbstmitleid erkrankten Jona zu heilen. Die Mischung aus Zorn und Selbstmitleid biegt er um zu echtem Mitleid. Wenn du nicht Mitleid mit dir hättest, sondern Mitleid mit dem Bäumchen haben könntest! Das wäre was Echtes. Daraus könnte was werden. Und ich habe Mitleid mit Ninive.

Mitleid ist der Antrieb, die Dinge zu verbessern. Mitleid ist der Motor, die Missstände zu beseitigen. Aber Mitleid darf nicht Zorn werden. Denn der Zorn macht blind.

Wenn Zorn zur Haltung wird, zur Attitüde. Dann wird er ein teuflisches Zeug. Wie Sekundenkleber. Zorn verklebt die Seele. Sie kann sich dann nicht mehr vom Negativen lösen, ergötzt sich an den Katastrophen und ist zu Tode betrübt, wenn das Unheil ausbleibt.

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Ist es recht, dass du zornig bist? Diese Frage stellt Gott dem Jona. Es ist die Frage des Jonabuches. Und man muss diese Frage auch heute manchen stellen, die so tun, als hätten sie ein Recht auf einen Zorn, der alle Mittel heiligt. Nein, es gibt kein Recht auf Zorn, denn Zorn macht blind. Blind dafür, dass Gott gnädig ist. Blind für das Wesen Gottes, das Gnade ist. Deshalb macht der Zorn auch blind für alle Wirkungen der Gnade. Denn es sind nicht die Drohungen der Unheilspropheten, die das Gute bewirken. Es ist die Gnade Gottes, es ist seine Güte, die das Gute unter den Menschen schafft.

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Was werden die Aktivisten von „Last generation“ einmal ihren Enkeln erzählen? Werden sie wie Jona depressiv im Schatten der Hütte ihres Schrebergartens hocken und sagen: Besser tot sein als leben? Oder werden sie ihnen stolz sagen: Wir haben mit unseren Aktionen mitgeholfen, dass alle, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schneller umgekehrt sind und schneller all das umweltschädliche Verhalten eingestellt haben. Wir haben geholfen, dass die Klimaveränderung nicht zu einer Klimakatastrophe geworden ist. Denn wir haben geglaubt, dass Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Gnade, und einer, dem das Unheil leidtut.

Es gibt kein Recht auf Zorn. Es gibt nur ein Recht auf Hoffnung.

Amen.

 

Fürbitten

 

Gnädiger und barmherziger Gott, langmütig und reich an Gnade,

wir ehren dich,

wir preisen deine Güte,

wir loben deine Langmut

wir danken für deine Nachsicht.

Zeige du deine Gnade allen, die schuldig geworden sind und nicht mehr aus ihrer Schuld herausfinden. Zeige sie allen, denen Unrecht getan wurde und die nicht vergeben können.

Sei allen Armen, Kranken und Sterbenden gnädig. Sieh nicht auf ihre Sünden, sondern gewähre ihnen, um was sie dich bitten.

Sei allen Starken, Gesunden und Reichen gnädig. Sieh nicht auf ihre Sünden, sondern mache sie selbst gnädig, dass sie helfen, raten, geben und vergeben.

Wir danken dir für die Propheten unserer Tage, für die Menschen, die das Unrecht benennen, für alle, die nach Gerechtigkeit schreien, die mahnen und warnen und anklagen. Berufe Propheten, wache und mutige und kritische Menschen und nimm deinen Geist nicht von ihnen. Mahne die Mahner aber, wenn sie sich verrennen, hilf ihnen zu erkennen, wenn die Dinge besser werden als sie befürchtet haben. Lass alle, die Ernstes zu sagen haben, nicht ohne Glaube und nicht ohne Humor. Bewahre uns alle vor Verbitterung.

Gib uns Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können. Gib uns Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die wir nicht ändern können. Und gib uns Weisheit, die einen von den anderen Dingen zu unterscheiden.

Gnädiger und barmherziger Gott, langmütig und reich an Gnade,

wir ehren dich,

wir preisen deine Güte,

wir loben deine Langmut

wir danken für deine Nachsicht.

 

Unservater