Heftig zu Gott rufen
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: 2Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!

3Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß. 4Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. 5Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.

6Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche 7und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen: Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe etwas zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; 8und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und heftig zu Gott rufen. Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände! 9Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben.

10Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Diese Geschichte haut einen doch wirklich um, liebe Gemeinde, oder? Das ist einerseits ganz wie heute: die Ansage einer Katastrophe und die Aufforderung zur sofortigen Umkehr, um diese Katastrophe zu vermeiden. Und es ist andererseits doch so ganz anders wie heute: Damals funktionierte es.

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Schauen wir uns diese Geschichte an! Was passiert da eigentlich?

Gott sendet Jona in die große Stadt Ninive, um ihr zu sagen, dass sie in 40 Tagen untergehen wird. Punkt. Und warum? Kein Wort darüber. Warum soll die Stadt untergehen? Wir erfahren es auch vorher im ersten Kapitel nicht wirklich. Jona wird ja zum zweiten Mal von Gott gesandt. Das erste Mal hat er sich seiner Einberufung entzogen, ist desertiert, mit einem Schiff geflohen. Dann kam ein Sturm, das Schiff geriet in Seenot. Die Mannschaft suchte nach der Ursache. Vom Klimawandel war noch nicht die Rede. Vielmehr musste einer im Schiff den Zorn der Götter erregt haben. Doch wer war es? Man befragte die Götter so wie man das damals tat, mit Losentscheid. Das Los fiel auf Jona. Jona gab gleich zu, dass sie die Misere ihm verdanken, weil er vor seinem Gott, dem Gott Israels, der Himmel und Erde gemacht hat, geflohen sei. Sie sollten ihn über Bord werfen, dann würde sich das Meer beruhigen. Das wollten sie erst nicht. Sie versuchten es mit noch kräftigerem Rudern. Aber es half nichts. Da warfen sie Jona ins Meer und baten Gott um Verzeihung für dieses unschuldige Opfer.

Tatsächlich beruhigte sich das Meer, was nicht heißen will, dass der Gott Israels Gefallen an Menschenopfern hat. Er rettete Jona mit Hilfe eines großen Fischs.

Diese ganze Inszenierung mit dem Sturm und der Rettung durch den Fisch sollten wir nicht als Bestrafung für Ungehorsam verstehen oder als Einschüchterung und Mahnung. Es ist wohl eher eine ganz praktische Maßnahme Gottes, den flüchtenden, weil leicht depressiven und suizidalen Jona doch noch dorthin zu bringen, wo er gebraucht wird, nach Ninive. Denn Jona hatte von Anfang an einen Auftrag.

Es geschah das Wort des Herrn zu Jona, dem Sohn Amittais: Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen. (Jona 1,1-2)

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Böse seien die Bewohner von Ninive gewesen. Worin aber ihre Bosheit bestand, wird nicht verraten. Offenbar interessiert es die Erzähler dieser Geschichte überhaupt nicht, worin die Bosheit der Einwohner von Ninive bestand.

Uns würde das doch sehr interessieren. Ist es Vorsatz oder Veranlagung? Ist es eine kollektive Schuld oder hat jeder was anderes ausgefressen? Wie schuldfähig sind sie überhaupt? Gibt es Opfer ihrer Bosheit und wer sind sie? Oder sind sie selbst Opfer falscher Strukturen nach dem berühmten Diktum: Es könne kein richtiges Leben im falschen geben? Fragen über Fragen, doch die Erzähler unserer Geschichte interessiert all das nicht und sie wollen offenbar, dass es auch uns nicht interessieren soll.

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Es ist schon erstaunlich und hat fast märchenhafte Züge: Ein fremder Mahner kommt in die Stadt und sagt: In 40 Tagen wird die Stadt untergehen. Daraufhin glauben die Einwohner von Ninive sofort an Gott. Was sind das für leichtgläubige Menschen in Ninive! Ein fremder Gott hat ihren Untergang beschlossen. Sie fragen nicht: Woher kommt dieser Fremde? Woher hat er seine Erkenntnisse? Wer ist dieser fremde Gott? Wie kommt er dazu, solches zu beschließen? Warum sind wir böse? Was haben wir getan?

Sie fragen nicht nach seiner Legitimation, sie stellen nichts in Abrede, ziehen nichts in Zweifel, hinterfragen und kritisieren nichts. Sie nehmen alles unmittelbar für bare Münze.

Für alle diese Fragen hat man keinen Sinn oder keine Zeit. 40 Tage sind nicht lang. Keine Zeit mit ewigen Diskussionen verlieren. Jetzt muss gehandelt werden. Die einzige Überlebenschance besteht darin, den ihnen fremden und unheilvoll drohenden Gott milde zu stimmen. Also Buße tun. Und zwar nicht kleinlaut und verdruckst, sondern öffentlich und sichtbar. Der König geht voran. Alle in Sack und Asche, der König obenauf. Und alle sollen fasten. Alle, auch die Tiere. Und heftig zu Gott rufen, zu dem ihnen unbekannten Gott. Und umkehren von ihren bösen Wegen – wir wissen immer noch nicht, was sie Böses getan haben – vielleicht, vielleicht, wer weiß, vielleicht kehrt auch dieser feindliche Gott um und wird ihnen wohlgesonnen, wird ein ihnen freundlicher Gott werden. Man darf doch angesichts dieser massiven Drohung nichts unversucht lassen.

Beeindruckend! Die Ansage einer Katastrophe. Keine langen Diskussionen, keine Prüfungen, keine Untersuchungen, keine Expertengutachten, sondern schnelles entschlossenes Handeln aller in großer Einmütigkeit durch alle Schichten dieser Gesellschaft von ganz oben bis ganz unten. Die Diagnose ist klar und die Therapie ebenso. Buße tun und diesen Gott umstimmen.

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Wie anders scheint das doch heute zu sein! Aber ist es wirklich so viel anders?

Es gibt Jona. Wir hören ihn täglich. Er hat viele Namen. Die Botschaft ist aber immer die gleiche: so kann es nicht weitergehen!

Seit ein paar Jahrzehnten wird uns verkündet, dass wir zu viel CO2 und Methan in die Atmosphäre geben und dass sich infolgedessen das Klima erwärmt; dass darum an einigen Stellen der Erden die Dürre zunimmt und an anderen der Starkregen und Überschwemmungen; dass der Meeresspiegel steigt und globale Meeresströmungen kippen. Ach, das muss ich nicht alles erklären, ihr hört diese Predigt aus berufenem Munde seit Jahren Tag für Tag. Anfangs waren wir noch skeptisch, haben es angezweifelt, hielten es für übertrieben, für wissenschaftlich noch nicht ganz bewiesen, für Panikmache. Mittlerweile aber sind wir überzeugt, wir sehen ja, dass eintrifft, was die Wissenschaftler, die Propheten unserer Zeit, prophezeit haben.

Wir müssen umkehren. Wir müssen unser Leben ändern. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. 40 Tage werden es wohl noch sein, 40 Jahre eher nicht mehr, wie es scheint.

In Ninive haben sie schnell reagiert, haben Buße getan, vom Kleinsten bis zum Größten, gefastet und vom bösen tun abgelassen, was immer das gewesen sein mag. Und wir? Nun, man wird nicht behaupten können, es tue sich gar nichts. Es stehen immer mehr Windräder und Solaranlagen in der Landschaft. Wasserstoff als Energieträger ist schwer im Kommen. Immer mehr Elektroautos fahren durch die Stadt. Vielleicht ist selbst im Autoland Deutschland eine Umkehr vom Individualverkehr zum öffentlichen Verkehr möglich. Die Götzen wackeln und können gestürzt werden. Und dieser unsägliche Krieg scheint noch etwas ganz anderes möglich zu machen: Energiesparen. Einfach weniger Energie verbrauchen, weil es gar nicht anders geht, wenn die Russen den Gashahn zudrehen. Auch das geht: ein großes Energiefasten. Jeder macht mit, vom Kleinsten bis zum Obersten.

Ob es reichen wird? Keiner weiß es.

Eines ist dann doch in dieser Geschichte von Ninive so ganz anders als es bei uns ist. Sie haben nicht nur gefastet, sie sind nicht nur umgekehrt von ihren bösen Wegen. Sie haben auch heftig zu Gott gerufen.

Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben, haben sie sich gesagt.

Heftig zu Gott rufen, damit rechnen, dass er hört, dass er sich umstimmen lässt, das dürfen wir nicht vergessen, nicht verlernen und nicht geringschätzen.

Ist denn unter uns schon ausgemacht, dass der liebe Gott nichts mit der Natur zu tun hat? Dass die Natur ihren eigenen Gesetzen gehorcht und unerbittlich reagiert, wenn wir diese übertreten? Und dass Gott daran auch nichts mehr ändern kann? Haben wir aus der Natur und ihren Gesetzen einen unbarmherzigen Götzen gemacht, der es ahnden wird, wenn wir nicht nach seinen Regeln spielen? Sollte Gott, der Herr des Himmels und der Erde, nicht auch der Gott der Natur sein und bleiben, also der Schöpfung, die ihm gehorcht und nicht nur ihren eigenen Regeln?

Heftig zu Gott rufen und darauf vertrauen, dass das auch eine Möglichkeit ist, eine, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Freilich, in Ninive hat der König mitgemacht. Das kann man heute nicht mehr erwarten. Für die Bundesregierung ist das keine Option. Harbeck kann zum Sparen, also zum Fasten aufrufen, aber nicht zum Beten. Doch wir können es. Wir können es als unseren Beitrag und unseren Auftrag ansehen. Ein Beitrag, der nicht eine Alternative zum Fasten und Sparen ist, sondern ein Zusatz.

Wir sollen nicht aufhören heftig zu Gott zu rufen, ihn um Nachsicht, Geduld und Vergebung bitten. Dabei aber selbst auch umkehren, uns ändern, fasten, unseren Energieverbrauch senken, unseren Luxus einschränken, unsere bequemen Gewohnheiten auf den Prüfstand stellen, unsere Ansprüchlichkeiten überdenken. Und dann auf Gnade hoffen. Es ist noch nicht ausgemacht, dass diese Welt, so wie sie ist, dem Untergang geweiht ist. Das ist so lange noch nicht ausgemacht, so lange wir an einen gnädigen Gott glauben, der Himmel und Erde gemacht hat und der nicht den Tod der Sünder will, sondern dass wir leben. Dann geht auch die Geschichte mit dem Klimawandel so aus, wie die Geschichte von Ninive ausging:

Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Amen.