Taube und Wal
Pfr. Dr. Karl Friedrich Ulrichs

 

  1. Taube, flieg!

Tauben mag ich eigentlich gar nicht, in der großen Stadt sind sie ja auch eine Plage. Einmal las ich das böse Wort, Tauben seien „die Ratten der Luft“. Aber nun freunde ich mich gerade mit ihnen an. Verborgen im Kastanienbaum ist ihr Gurren auf dem Hof doch ganz schön. Nur ihr Fliegen ist gemessen an ihrer Größe doch ein ziemlich nerviges Flattern – elegant ist anders. Aber sie gelten ja als friedfertig, haben seit dem Auftritt bei Noah mit dem Olivenzweig im Schnabel eine gute Presse. Da kann man seinen Filius ja auch nach diesem friedfertigen Vogel benennen. Was heute a la mode ist, dachte sich auch Herr Amittai, der uns im Alten Testament begegnet, der also hebräisch sprach und seinem Sohn den Namen „Jona“ gab. Und dieser taubenbenannte Sohn Jona flattert durch seine Geschichte mit Gott wie nichts Gutes – elegant ist anders. Gott spricht ihn an, Jona antwortet nicht. Gott hat einen Weg für ihn, er haut ab. Gott hat einen Auftrag, Jona will nichts davon wissen.

 

Die große Stadt macht ihm Angst. Und deren Bosheit, mit der Gott seinen Auftrag begründet, erst recht. Wer will es ihm verdenken? Es hat denn auch noch niemand gesagt, dass es ein Leichtes sei, von Gott angesprochen zu werden, sich als Mensch des Glaubens auszuprobieren und sich damit im ungemütlichen Gegenüber zu den Vielen in der „großen Stadt“ wiederzufinden.

 

Jona ben Amittai – vom Vater hat er den Name, von seinen Aussehen und Wesen und der Erziehung erfahren wir nichts. Aber eben „Amittai“: Treue Gottes. Das ist dem Sohn Jona, der Taube, mitgegeben: Du lebst von der Treue Gottes. Wir verdrängen das, wie wir jahrelang den Vater ausblenden, um vermeintlich freier zu werden. Das geht meistens nicht gut. Jona, vergiss nicht die Treue Gottes. Und du auch nicht!

 

 

  1. Weg nach unten

Jona „geht hinunter“, heißt es wiederholt. Jonas Weg weg von Gott ist ein Weg nach unten. Auf abschüssige Bahn gerät, wer Gottes Wort nicht hören, ihm nicht folgen will. Was sich arg moralisch und frömmelnd anhört, ist tatsächlich die biblische Weisheit, dass solche Etappen abwärts besondere Erfahrungen und Einsichten für uns bieten. Darum folgen wir Jona auf seinem Weg hinunter.

 

Zum Hafen geht er hinunter. Ein interessanter Ort, wo Meer und Land – beides von Gott geschaffen, wie Jona bald bekennen wird (V. 9) – sich berühren, von Menschen so gestaltet, dass sie von einem zum anderen wechseln können, um über das Meer in andere Länder zu gelangen. Der Hafen ein interessanter Ort, der sich zudem im Verlauf der Menschheitsgeschichte sein zwielichtiges Ansehen redlich erworben hat. Ein interessanter Ort, an dem es für Jona teuer wird. Eine Fahrtkarte kauft er sich.  Dass das eigens erwähnt wird, erkläre ich mir damit, dass wir ja auch, wenigstens als Kinder, Fahrscheine als Andenken aufbewahren und ins Album oder ins Tagebuch kleben. Jonas in die Bibel eingeklebte Fahrkarte ist der Beleg dafür, dass es uns ganz schön was kostet, von Gott wegzulaufen und „dem Herrn aus den Augen zu kommen“ (V. 3).

 

Kaum auf dem Schiff steigt Jona noch weiter nach unten; er verzieht sich unter Deck, in den Bauch des Schiffes. In der Kulturkirche St. Matthäus kann man sich unerwartet auf einer Glasplatte wiederfinden, unter der eine Treppe nach unten führt (Micha Ullman, Stufen/Stairs). Da stehe ich dann erschrocken und mir kommt in den Sinn: Was finde ich, wenn ich hinuntersteige? Das Dunkle unter der Oberfläche, auf der ich lebe, auch im Glaube lebe? Stoße ich auf die sprichwörtlichen Leichen im Keller?

Im Bauch des Schiffes, die steile Treppe hinunter, liegt Jona bequem, er arbeitet nicht wie die Besatzung – es gibt moralische Abstiege, die muss man sich leisten können. Jona zieht sich die Decke über den Kopf und verschläft die Gefahr: Augen zu und durch! Er nimmt nicht wahr, wie verzweifelt die anderen sind. Die rufen nach Hilfe durch verschiedene Götter und wissen als erfahrene Seeleute doch, dass das Unfug ist. So ein Verzweiflungsgott ist ja immer kleiner als die gewaltige Natur.

Jona verschläft das interreligiöse Gebet, kommt auch nicht zum Gebet, als man ihn weckt und zum Gebet auffordert. Gefahr und Angst der Anderen nicht zu sehen, nicht einmal ein Gebet für sie zu sprechen – viel weiter unten kannst du nicht mehr sein, wenn deine selbstgewählte Quarantäne zeigt: kein Fünkchen Solidarität hast du mehr im Leibe, um von Empathie zu schweigen. Und komm nur nicht mit dem Argument, du willst andere vor dir schützen, dass sie sich nicht infizieren mit deiner Gottesflucht.

 

Es geht aber noch weiter hinunter, nicht aber auf den Meeresgrund, ins feuchte Seemannsgrab, wie Jona selbst und die Seeleute wohl erwarten. Genau hier, wo für Menschen ein „weiter hinunter“ die Grenze des Lebens ist, kommt Gott ins Spiel. Wie zuvor den Wind lässt Gott den Wal kommen, ein Seeungeheuer, eine Naturgewalt, gefährlich, todbringend. Bevor Jona in den Fluten untergeht, wird er geschluckt. Eine Todesart kommt der anderen zuvor, Tod hoch zwei gewissermaßen. Wäre es nicht so tragisch, wäre es witzig, als sollten wir hier über diesen Tod lachen, ein Tod, der dann ja auch gar keiner ist. Gott hat ein Faible für die Überwindung des Todes in drei Tagen. Fragt die Frauen am Grab und Petrus und den Lieblingsjünger.

Unversehens wechselt Jona den Schiffbauch mit dem Fischbauch. Und gerät damit in einen veritablen Lockdown und er wird erlebt haben, was wir und besonders unsere Kinder erlebt haben in den vergangenen Monaten des Lockdowns: Viel Zeit ist übrig nach den ersten Gedanken und Aktionen. Jonas Psalm braucht nur zwei Minuten, da ist also noch reichlich Zeit für andere Worte und Gedanken: der Panik, der Angst, des Ekels, der Wut, der Hoffnungslosigkeit. Das nimmt ihm die Luft und die Lust zum Leben. Jona ist am „toten Punkt“ angekommen. „Toter Punkt“ nannte am Freitag Reinhard Kardinal Marx diesen Augenblick, in dem es keine Bewegung nach unten und keine nach oben gibt wie bei einem Pendel oder einem Jojo. Weiter hinunter kann es nicht mehr gehen, wenn alle Glaubwürdigkeit verloren ist, wenn Menschen in der Kirche – nicht nur in der katholischen, auch bei uns – gebrochen und verletzt und verschwiegen werden statt Glaube und Liebe und Hoffnung zu erleben. Das ist der „tote Punkt“ und niemand weiß, woher die Energie kommen soll, damit es wieder aufwärtsgeht. Der Kardinal wagte davon zu sprechen, dass das ein österliches Geschehen sein werde. Und dass das bei Jona dazu kommt, dafür sorgt dann auch Gott. Der bedient sich wieder des nicht nur gefährlichen, sondern auch gehorsamen Wals. Wessen Gott sich wohl bedienen wird bei unseren toten Punkten, auch bei jenem kardinalen toten Punkt nach jahrzehntelangem Missbrauch und Schweigen?

Jonas toter Punkt wird zum Wendepunkt: mit dem Wal taucht er auf. Und seine neue Geburt, von der wir am vergangenen Sonntag bei Nikodemus gehört haben, können wir uns verrückter nicht denken: Jona wird hochgewürgt und ausgekotzt (entschuldigen Sie bitte, so steht es da wörtlich). Der Wal mag ich seit Kindergottesdiensttagen: Anders als die Taube, anders als „Jona“, kommt er Gottes Auftrag nach. Ihm wird das unterdrückte Gotteswort schwer im Magen gelegen haben. Ungenießbar ist, wer meint, ein Leben gegen Gottes Willen führen zu können.

 

  1. Dass Gott eine große Tat an dir tun will

„Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.“ Unter diesem Luther zugeschriebenem Satz auf einem Dachbalken im Tor zum Lutherhaus in Wittenberg bin ich oft gegangen. Auf diesen Satz haben wir Dozent/innen unsere Vikar/innen hingewiesen: Was für eine Ermutigung! Gott hat etwas mit euch vor! Wir Dozenten haben uns nicht wenig gewundert, dass dieser großartige Satz kaum verfing. Ich argwöhne denn auch, dass ihn unsere Vikar/innen eher als Drohung gelesen haben. Und da kommen einem dann so Jona-Gedanken: Gott hat etwas mit mir vor, etwas Großes? Will ich das überhaupt? Kann ich das? So hatte ich mir das mit der Berufswahl und auch mit dem Glauben gar nicht gedacht! Kann ich jetzt noch abhauen? Zum nächsten Hafen rennen, das nächste Schiff nehmen – das wäre es! Mich aus der göttlichen Affäre ziehen, mich dem Anspruch Gottes entziehen.

Gehe nicht den Jona-Weg abwärts, abschüssig, abwegig. Sondern: Höre seine Geschichte, freue dich daran, schmunzle über diese Tiefsee-Taube und wisse: „Gott will eine große Tat an dir.“