Heilung einer liebeskranken Seele
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Ostern braucht Zeit. Das ist nicht mit einem Tag, einem Morgen getan. 40 Tage war der Auferstandene bei ihnen, bevor er sie endgültig gen Himmel verließ. 40 Tage, nicht nur, um sie davon zu überzeugen, dass er lebt. Sondern auch 40 Tage, um dich davon zu überzeugen, dass auch du lebt. Denn was nützt dir der Glaube, dass er lebe, wenn nicht auch du lebst. Und Leben – wir wissen es – ist ja nicht nur Atmen und Stoffwechsel, Leben, das ist auch Seligkeit. Leben, das Lachen kann. 

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Petrus etwa konnte nicht mehr lachen. Auch nicht, nachdem er wahrgenommen hatte, dass Jesus lebt. Petrus, der Fels, der Anführer, der erste Bekenner, der treuste Freund von Jesus und sein Verleugner, diese schillernde, ja tragische Gestalt, dieser Petrus also, der hatte ein Trauma. Das muss erst geheilt werden, bevor Petrus nach Ostern selig werden kann. Bevor Petrus ein neues Leben nach Ostern bekommt, muss er erst mit seinem alten abschließen, und das ist sehr belastet. 

Ein Trauma, so nennen die Psychologen entsetzliche Erlebnisse, die so schlimm waren für die Seele, dass jede Erinnerung an sie vermieden wird, weil jede Erinnerung daran neues Erleben des Entsetzlichen bedeutet, und das verkraftet die Seele nicht. Und wenn dann doch etwas an dieses Erlebnis rührt, ein Wort, ein Ort, ein Gegenstand, eine Person, dann reagieren die traumatisierten Menschen auf scheinbar ganz normale Eindrücke heftig, oft mit körperlichen und schmerzlichen Reaktionen. 

Ich kann’s mir nicht anders denken: Petrus hatte ein Trauma. Und das Symptom – denk ich mir – war dies: Jedes Mal, wenn er einen Hahn krähen hörte, fiel er in einen Weinkrampf. Da der Hahn jeden Morgen kräht, quälte sich Petrus jeden Morgen mit den Psalmworten vom Lager: „Ich bin so müde vom Seufzen. Ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager. Mein Auge ist trübe geworden vor Gram“ (Ps 6,7f)

Dann steht er ihm wieder vor Augen, der Alptraum jener Nacht, als sie Jesus im Palast verhörten. „Nein, den kenne ich nicht!“, hat er gesagt. Dreimal. Dann krähte ein Hahn zweimal und Petrus weinte bitterlich. Hatte sich vorgenommen, hatte sich und seinem Herrn geschworen, ihm der Treuste von allen zu sein. „Auch wenn alle anderen an dir Anstoß nehmen – ich nicht!“ 

Und da war noch etwas. Petrus liebte Jesus, eine Freundschaft, zwischen die kein Blatt passte, auch nicht das Leiden. Petrus bekannte sich zu Jesus: Du bist der Christus. Doch als Jesus sagte, dass dazu auch das Leiden und Getötetwerden gehöre, wollte Petrus das nicht wahrhaben. Da wurde er von Jesus heftig kritisiert.

Wer das Vertrauen einfach und die Liebe doppelt und dreifach versagt, der hat einen Schaden weg. 

Nun hat ihn die Lebensfreude verlassen. Nun verfolgt ihn ein Alptraum. Jeder Hahnenschrei zerreißt ihm die Eingeweide. Vielleicht fährt er deshalb wieder so oft hinaus mitten auf den See. Dort hört er die Hähne nicht mehr. Dort findet eine gemarterte Seele ein wenig Ruhe. 

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Dort, am See, findet ihn Jesus.

Als sie nun gegessen haben, sagt Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als diese mich lieben? Er sagt zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Er sagt zu ihm: Weide meine Lämmer!

Und er sagt ein zweites Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Der sagt zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Er sagt zu ihm: Hüte meine Schafe! 

Er sagt zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und er sagt zu ihm: Herr, du weißt alles, du siehst doch, dass ich dich lieb habe. Jesus sagt zu ihm: Weide meine Schafe! 

Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selber gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst. 

Das aber sagte er, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde. Und nachdem er dies gesagt hatte, sagte er zu ihm: Folge mir! 

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Dreimal hatte Petrus, der erklärte Jesusfreund, Nein zu Jesus gesagt. Nun gibt Jesus ihm die Chance, dreimal Ja zu ihm sagen zu dürfen. Die glückliche Wiederholung, die eine schwierige Liebe heilt. Ein therapeutisches Ostergespräch.

Hast du mich lieb? Liebst du mich? Ist das die Frage aller Fragen? Und ist: ‚Ich liebe dich!‘ das Bekenntnis aller Bekenntnisse? Dreimal stellt Jesus die Frage aller Fragen. Es klingt, als frage Jesus dreimal das gleiche. Doch das tut er nicht. Er stellt die Frage aller Fragen in bedeutsamen Nuancen. Wir müssen uns das genau ansehen. 

Die erste Frage ist: Liebst du mich mehr, als diese mich lieben? 

Die erste Frage ist die nach der Liebe im Komparativ. Denn das ist das erste, was Jesus der Liebe, will er sie retten und heilen, austreiben muss: den Komparativ. Das sich vergleichen wollen. Gift jeder Liebe. Denn Liebe gibt es nur ganz oder gar nicht. Mehr oder weniger lieben geht nicht. 

Schwierig war die Liebe des Petrus darin, dass sie mehr sein wollte, dass sie sich nicht beim einfachen Liebhaben begnügte, was das höchste ist, sondern immer noch lieber haben wollte. Der Komparativ ist das Einfallstor der Sünde, das Sich Vergleichen, die Konkurrenz.

Darauf antwortet Petrus nun nicht: Ja, ich liebe dich mehr als die anderen dich lieben. Er antwortet: Ja, Herr, du weißt, dass ich die lieb habe. Den Komparativ, das Sich-Vergleichen-Wollen hat Jesus dem Petrus in der ersten Frage abgewöhnt. Aber ganz gesund ist seine Liebe noch nicht. Sie ist noch nicht direkt, sie ist noch verlegen. Noch kann Petrus nicht einfach sagen; Ja, Herr, ich liebe dich. Er sagt: Du weißt, dass ich dich lieb habe. Noch ist Petrus mit seinem Bekenntnis nicht in der Gegenwart angekommen Noch bezieht sich sein Bekennen auf Vergangenes. 

Es ist wie bei einem alten Paar. Sie fragt: „Hast du mich lieb?“ Und er antwortet: „Och Schatz, das weißt du doch, hab ich dir doch vor 30 Jahren schon gesagt.“ 

Liebesbekenntnisse sind wie Fisch, die müssen frisch sein. Glaubensbekenntnisse dagegen sind wir Wein, die werden meist mit zunehmendem Alter besser. Wenn Liebesbekenntnisse länger liegen, fangen sie an zu stinken - und zwar vom Kopf her. Mit „das weißt du doch!“ auf die Fragen: „Hast du mich lieb?“ zu antworten, die Liebe also auf ein vergangenes und erinnertes Wissen zurückzuführen, führt komplett am Kern der Liebe vorbei. Und mit einem Glaubensbekenntnis zu antworten, wenn ein Liebesbekenntnis erwartet wird, macht alles nur noch schlimmer: „Liebst du mich?“ – „Ja, ich glaube!“ 

Lieber Petrus, deine Antwort: „Das weißt du doch“ ist doch keine so gute Idee. 

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Dreimal also fragt Jesus den liebesgehemmten Petrus nach seiner Liebe. Beim zweiten Mal nicht mehr im Komparativ – therapeutischer Fortschritt, exegetisch evaluierbar - nicht mehr: „Liebst du mich mehr als die anderen mich lieben?“, sondern nur noch: „Liebst du mich?“ Aber auch beim zweiten Mal setzt Petrus zu seinem Ja noch das „Das weißt du doch“ hinzu. Er traut dem Augenblick reiner Gegenwart immer noch nicht. Er hängt immer noch in der Erinnerung fest. Die Freundschaft, der Verrat. Die Liebe, der Schmerz. Er kommt nicht los. „Du weißt doch… trotz allem liebe ich dich.“

Er ist noch nicht so weit. Es braucht noch einen dritten Durchgang. Die dritte Wiederholung. 

Und jetzt? Wird es jetzt endlich? … Leider immer noch nicht. Immer noch kein einfaches JA auf die Frage „Hast du mich lieb?“. Im Gegenteil: Petrus wird traurig, weil er das zum dritten Mal gefragt wird. 

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Ja, so ist das mit unserer komplizierten Liebe. Irgendwie unheilbar. Selbst wenn Jesus der Therapeut ist und zwischen Ostern und Himmelfahrt noch Sondersitzungen einlegt. 

Aber er akzeptiert es. Bei Petrus und bei uns. Er beauftragt uns trotzdem damit, dass wir uns um seine Herde kümmern. „Weide meine Schafe!“

Es stimmt ja nicht, dass wir erst eine reine, einzigartige und unvergleichliche Liebe zu Jesus empfinden müssen oder uns zu ihr bekennen müssen, bevor wir in der Lage sind, uns um andere zu kümmern. Jesus jedenfalls verlangt von Petrus nicht die konkurrenzlose Liebe, eine Liebe, die ungetrübt einzig ihm, dem Herrn gilt. Päpste und Pfarrerinnen, Diakoninnen und Älteste müssen nicht in reiner Liebe zu Jesus entbrannt sein, frei von allen anderen Bindungen, um Gott und den Menschen dienen zu können. Auch mit unserer Unfähigkeit, einfach Ja zu Jesus zu sagen, traut er uns zu, uns gut um die anderen zu kümmern, um die Schafe, um die, die den Weg zu den grünen Auen aus den Augen verloren haben. 

Und noch etwas fällt hier auf – leider nur, wenn man Griechisch kann. Da stehen zwei verschiedenen Wörter für Liebe in Frage und Antwort. Es gibt zunächst auch deshalb keine Übereinstimmung zwischen Jesus und Petrus, weil Petrus mit einer anderen Liebe antwortet als nach der Jesus gefragt hat. Jesus fragt zweimal nach der agape. Petrus antwortet: „Du weißt doch, dass ich dich liebe – philo.“ 

Der Unterschied ist gar nicht so ganz klar. Manche sagen, es seien nur zwei verschiedene Wörter für mehr oder weniger das gleiche. Die meisten sehen aber doch einen Bedeutungsunterschied. Die agape sei die selbstlose Liebe, die vor allem die Liebe zwischen Gott und Mensch benennt, und die philia die auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe und die die Liebe zwischen den Menschen meint. Nehmen wir es mal so. Zweimal fragt Jesus nach der selbstlosen Liebe und Petrus antwortet mit der anderen. Und bei dritten Mal? Da gibt es endlich eine Übereinstimmung. Jedoch nicht so, dass Petrus endlich auf die selbstlose agape kommt, sondern beim dritten Mal fragt Jesus „phileis me?“ und nicht mehr „agapas me?“ Beim dritten Mal lässt Jesus sich auf die Liebe ein, die Petrus zu geben vermag, nämlich die auf Gegenseitigkeit beruhende Freundesliebe. 

Wir wollen halt immer was für unsere Liebe. Bisschen was muss doch rausspringen – und sei es nur ein bisschen Gegenliebe. Hat Jesus das endlich eingesehen? Wie schwierig das mit der Liebe ist – in dieser Welt, in diesen Zeiten und überhaupt. 

Eine nachösterliche Therapie, in der allerdings weniger der Patient als vielmehr der Therapeut zur Einsicht gekommen zu sein scheint. Auch eine Form von Gnade. Zur Einsicht nämlich, dass auf die einfache Frage: „Liebst du mich?“ ein ebenso einfaches JA einstweilen nicht zu haben ist. Nicht bei uns schwierigen Menschen. Auch nicht in der Kirche, wo frische Fragen oft mit alten Glaubensbekenntnissen beantwortet werden. Erst, wenn es die Kirchen nicht mehr gibt, weil das Reich Gottes endlich da ist, erst, wenn wir dem Herrn ins Angesicht sehen dürfen, erst, wenn es nur noch den Augenblick reiner Gegenwart geben wird und alle Traumata und Peinlichkeiten, alles Versagen und aller Verrat wirklich vergeben und vergessen ist, erst dann wird es uns wohl gelungen, auf die einfache Frage nach unserer Liebe mit einem einfachen JA zu antworten. 

Amen.

Gebet:

Christus, Auferstandener, 

frag uns nicht nach unserer Liebe, mach dich nicht unglücklich. Wir würden so gerne einfach Ja sagen, wenn du uns fragst. Aber wir sind so kompliziert. Nimm all das Verworrene von uns, mach uns einfach. Mach uns den Glauben kindlich und die Bekenntnisse ehrlich. 

Und erkläre uns, wie Nächstenliebe geht. Hilf uns beim Helfen, rate uns beim Raten, stütze uns beim Auffangen und stärke uns beim Mahnen. Gib uns Geduld und Freundlichkeit und bring uns dahin, immer öfter Ja als Nein zu sagen. 

Du bist die Auferstehung und das Leben, durch dich finden wir Gott, durch dich kommt das Leben wieder, Du Licht im Dunkeln, Du Wärme in der Kälte, Du Grün in der Wüste, Du Stimme im Schweigen, Du Erlösung aus Starre. Dich loben und Dich preisen wir.

Amen.