Liebe Gemeinde, an Karfreitag ist uns aufgetragen, Jesu Leidens- und Todesgeschichte zu bedenken. Das fällt nicht immer leicht, denn mit dem Tod tun wir uns doch schwer. Die eigene Vergänglichkeit, das eigene Sterben. Wir gehen dem Tod möglichst aus dem Weg, außer vielleicht im Kino, auf der Leinwand oder auch in einem Roman, wo wir das Sterben aus sicherer Distanz betrachten können. In den gegenwärtigen Kriegen und Umweltkatastrophen erscheint der Tod doch vor allem als abstrakte Zahl von Verstorbenen, in einer Statistik. Erdbebentote in der Türkei, Syrien und Kurdistan 50.000, Getötete Menschen im Ukrainekrieg: je nach Schätzung 200-300.000, Hungertote weltweit im Jahr 2022 gibt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler mit 30-40 Mio. an.
Dazu begegnet uns der Tod medial anhand von Euphemismen, die das menschliche Sterben in die Ferne rücken. Denken wir etwa an den Krieg in der Ukraine: schwere Verluste in der Armee, erfolgreiche Offensive oder Gegenoffensive, Schaden in der Militäreinheit - allesamt Euphemismen, die wir seit einem Jahr hören statt der erschütternden Tatsache, dass es jeden Tag Menschen sind, die massenweise einen elenden Tod sterben.
Manchmal werden wir mit dem Tod ganz direkt konfrontiert, unmittelbar - bei Menschen, die uns nahe sind. Aus purer Hilflosigkeit kann es dann passieren, dass wir in gespielten Optimismus verfallen um den Tod zu verdrängen: „Das wird schon wieder. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!“ Wir kennen diese Sätze, die vor allem Ausdruck unserer eigenen Vermeidungsstrategie sind.
Wir tun uns schwer mit dem Tod. Das mag auch daran liegen, dass das Sterben weitgehend aus unserem Lebensumfeld, aus unserem Sichtfeld verschwunden ist. Gestorben wird bei uns meist nicht mehr zu Hause, sondern in Altersheimen und Krankenhäusern, auf Intensivstationen. Außerhalb unserer Wohnungen, außerhalb unseres Bewusstseins. Das führt dazu, dass wir uns vom Tod entwöhnen. - Der Karfreitag aber stellt uns die Aufgabe, über den Tod nachzudenken: allem voran Jesu Tod. - „Wie kann Gottes Sohn am Kreuz sterben?“, haben die Jünger sich damals gefragt. Wir fragen heute vielleicht eher danach ob und wenn ja welche Bedeutung Jesu Tod für unser Leben - und unser Sterben - hat.
Lassen Sie uns dieser Frage nachgehen. Ich lese den Predigttext aus Joh 19:
Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.“ Das taten die Soldaten. Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, sprach er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach sprach er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, sprach er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.
Liebe Gemeinde,
Es ist vollbracht! Es ist vollbracht - Das klingt zunächst wie Es ist vorbei! Und es ist gut, dass es jetzt vorbei ist - der Spott der Soldaten, die dem Sterbenden Essig statt Wasser zu trinken geben und um seine Kleider würfeln. Es ist gut, dass die Peitschenschläge vorbei sind, die die Menge befriedigen sollen. Es ist gut, dass der Kampf am Kreuz vorbei ist, das Ringen um den Atem. Gut, dass dies nun alles mit Jesu Tod vorbei ist.
Aber „Es ist vollbracht!“ meint mehr als: Es ist vorbei! „Es ist vollbracht!“ heißt: Mein Auftrag ist erfüllt, mein Werk zum Ziel gekommen. Was geschehen sollte, ist geschehen.
Am Kreuz ist zum Ziel gekommen, was damals begann, als Jesus einige Fischer in seine Nachfolge berief, um das befreiende Evangelium von der Liebe Gottes zu den Menschen zu bringen. Und Jesus hat Gottes Liebe unter die Menschen gebracht. In seinen Gleichnissen und Predigten, in seinen Heilungen und Wundern gab er den Menschen Antworten auf ihre Lebens- und Gottesfragen. In seinen Mahlgemeinschaften saß er mit den Verstoßenen und Ausgegrenzten zusammen und hat so bereits ein Stück vom kommenden Reich Gottes in die Gegenwart gebracht.
Viele ließen sich von seiner Botschaft mitreißen und begeistern – Gott ist da. Auch für dich! Für diese Botschaft hat Jesus den Tod auf sich genommen.
Seine Jünger bergreifen das damals nicht. Sie sehen nur das Scheitern. Ihr Meister ans Kreuz geschlagen und mit ihm all die Hoffnungen, die sie auf ihn gesetzt hatten. All der Lebensmut, den er ihnen gegeben hatte. All der Lebenssinn, den sie bei ihm gefunden haben. All das ist nun aus und vorbei. Ans Kreuz geschlagen. Das Entsetzen über dieses scheinbar sinnlose Geschehen – diese Niederlage - treibt die Jünger in die Flucht. Zweifel kommen auf. Das Kreuz – zunächst also ein Zeichen der Niederlage.
Dabei soll es aber nicht bleiben. Paulus wird einige Jahre später über Jesus schreiben: „Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tode am Kreuz.“ Das Kreuz – kein Zeichen mehr der Niederlage, sondern ein Zeichen für Jesu Gehorsam. „Gehorsam“ – ein Begriff den ich sperrig finde. Gehorsam – das steht hier nicht für einen prinzipiellen Gehorsam als menschliche Grundhaltung gegenüber anderen Autoritäten – sei es gegenüber Institutionen oder Einzelpersonen, die Machtansprüche behaupten. Nein Jesu Gehorsam besteht darin, dass er an seinem Auftrag festhält die Liebe Gottes zu verkündigen, die in Freiheit führt. Einige fanden das so anstößig, dass sie ihm nach dem Leben trachteten. In Jerusalem kommt es zur Entscheidung, zum Prozess. Aber Jesus hält an seiner Botschaft fest - bis zum Tod. Jesus klammert sich an seine Botschaft, lässt sich verurteilen und verteidigt diese noch am Kreuz. Deswegen diese letzten Worte: „Es ist vollbracht.“ Ja – Jesu Werk ist vollbracht.
Das Kreuz vom Zeichen der Niederlage zum Zeichen des Triumphs. Was kann aber das Kreuz für uns heute bedeuten? Ich denke das Kreuz steht für das Dunkle, das Brüchige, das ich in meinem Leben erfahre. Das Kreuz erinnert daran, dass ich Erfahrungen der Ohnmacht mache, Mächten und Mechanismen ausgesetzt bin. Nicht alles in der Hand habe. Nicht alles im Griff habe.
Das Paradox, in das wir uns als Christen immer wieder begeben, ist, dass genau dieser Tod am Kreuz für uns Grund zur Hoffnung ist.
Weil Jesus am eigenen Leib erlebt hat, wie das ist, ohnmächtig und ausgeliefert zu sein, kann ich wissen, dass er mir nahe ist in meinem Leben – auch und vielleicht gerade da, wo nicht alles rundläuft, wo ich scheitere.
Weil Jesus am eigenen Leib Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erlebt hat, kann ich wissen, dass er mich im Dunkeln meines Lebens nicht alleine lässt. Auch nicht im Sterben.
Und weil Jesus so exponiert und schutzlos am Kreuz hängt, kann ich darauf vertrauen, dass ich vor Gott so treten kann wie ich bin – mit meinen Fehlern, meinen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Es gibt keinen Grund mich zu erhöhen oder mich besser zu machen als ich bin. Gott hält mich aus. Ich kann mich mit allem was mich ausmacht und alles was ich bin Gott zumuten.
Wenn ich in meinem Leben Leere und Verlassenheit erfahre, kann ich das eine wissen: Ich bin Jesus ganz nahe. Die Hoffnungslosigkeit, die mich quält, hat er gekannt. Die Verzweiflung, die mich heimsucht, hat er erlebt.
Und so begehen wir den Karfreitag mit dem Wissen, dass auf Jesu Tod die Auferstehung folgen wird. Am Ostermorgen wird Gott die Antwort geben auf Jesu Frage nach der Verlassenheit, indem er ihn nicht im Tode lässt, sondern ihn zu sich nimmt.
Nicht der Tod, sondern Gott hatte das letzte Wort über Jesu Leben und Sterben. Und wir, die wir zu Jesus gehören, wissen: Seine Geschichte ist auch unsere Geschichte. Auch über uns wird nicht der Tod, sondern Gott das letzte Wort haben. Und es wird ein Wort des Lebens sein, der Barmherzigkeit und des Friedens. Das ist unsere Hoffnung. Das ist unser Glaube.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.