Christus ist Ukrainer
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Ein Mann fährt mit seinem Rad durch eine Straße. Er kommt an eine Kreuzung, ein Schuss, ein zweiter aus zwei Schützenpanzern. Der Mann fällt tot um, das Rad noch zwischen den Beinen. Seine Leiche bleibt wochenlang liegen, bis die Russen abziehen, die Fotografen kommen und alle Welt den Mann sieht, wie er auf der Straße liegt, in Butscha, der Stadt bei Kiew, die vor einer Woche noch niemand kannte und die jetzt zu den Städten gehört, deren Namen Mahnmale menschlicher Grausamkeit sind. Wie Dachau, wie Auschwitz, wie Srebrenica. Jetzt auch Butscha.

Die Bilder dieser Woche werden nicht so leicht aus unseren Köpfen weichen.

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Was denken die sich eigentlich dabei? Was denken sich die russischen Soldaten dabei, wehrlose Zivilisten ohne Vorwarnung abzuknallen? Was denkt sich Putin dabei, so einen irrsinnigen Krieg zu führen und dabei auch Terrormethoden anzuwenden? Und manchmal kommt dann auch noch diese Frage: Was denkt Gott sich eigentlich dabei, all diese Unmenschen gewähren zu lassen?

An manchen Türen möchte man gern einmal lauschen, um zu hören, was die sich dabei denken. An den Türen der Kommandeure dieser Mordsrotten. An der Kremltür zu Putins Büro, um zu erfahren, was der wirklich vorhat. Wahrscheinlich aber wird man dort nichts hören, weil Putin einsam ist und sich isoliert, wie man hört, ein in seinem Wahn gefangener Despot, an den niemand mehr rankommt. An Selenskis Bürotür braucht man auch nicht zu lauschen, denn die steht immer offen. Selenski scheint ununterbrochen online zu sein und von früh bis spät in Parlamente und Versammlungen zu sprechen.

Und an der Himmelstür, an der Tür zum Allerheiligsten, wo Gott regiert, dort möchte man auch gern mal lauschen.

Heute wird uns das gewährt. Was wir im Folgenden hören, klingt wie ein Gespräch in höchsten Kreisen hinter verschlossenen Türen. In allerhöchsten Kreisen! Lauschen an der Himmelstür. Was denkt sich Gott eigentlich?

Wir hören mal rein. Da redet einer. Die Stimme kennen wir. Es ist nicht Gott, es ist Jesus, der zu Gott spricht.

Jesus hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

Jesus erstattet Bericht. Es ist ein Gebet, klingt aber eher wie ein Bericht. Ein Abschlussbericht, eine Evaluation seines Wirkens. Mission beendet, sie war ein Erfolg. Ich habe meinen Auftrag erfüllt.

Da ist viel von Geben die Rede. Gott hat seinem Sondergesandten einiges mit auf den Weg gegeben, damit er seine Mission erfüllen kann. Das zählt er in seinem Bericht auf und gibt Rechenschaft. Was ihm gegeben wurde, hat er auftragsgemäß weitergegeben. Gott hatte ihm ein Wort gegeben, einen Namen gegeben und ein Werk gegeben. Das alles hat Jesus weitergegeben – offenbar mit Erfolg. Die Menschen haben nun den Namen und das Wort und die Erkenntnis. Sie kennen nun Gott und erkennen ihn. Mission accomplished. Der Sondergesandte darf jetzt seine Belohnung in Anspruch nehmen, seine Verherrlichung.

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Ich finde diese Lauscherei an der Himmelstür ein bisschen ernüchternd. Vielleicht hätten wir doch nicht lauschen sollen! Manchmal ist es doch besser, sich seine Illusionen zu bewahren.

Dieser Jesus hat seinen Auftrag ausgeführt. Bei den Menschen. Bei uns. Aber war er wirklich bei uns? In unserer Welt? Hat er gesehen, was hier los ist? Hat er uns zugehört? Hat er uns überhaupt wahrgenommen?

Jesus betet merkwürdig unberührt von allem, was auf Erde geschieht, als ging es einzig und allein darum, dass die Menschen Gott erkennen, wenn sie Jesus hören und sehen. Erschöpft sich darin seine ganze Mission? War das der ganze Sinn und Zweck dieser Gesandtschaft?

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Liebe Gemeinde, dieses Gebet Jesu zu Gott, diesen Rechenschaftsbericht hat der Evangelist Johannes Jesus in den Mund gelegt. Man kann wahrscheinlich nicht einmal sagen, dass Johannes es sich so vorgestellt hat, so müsse es sein, wenn Jesus zu Gott betet. Es ist eher eine literarische Inszenierung.

Im Johannesevangelium steht Jesus irgendwie über den Dingen, merkwürdig unberührt von allem Übel auf Erden. Zwar lesen wir am Anfang des Johannesevangeliums den wunderbaren Satz: „Und das Wort ward Fleisch.“ Aber das in Jesus fleischgewordene Wort agiert und redet dann erstaunlich blutleer.

Auch im Johannesevangelium wird Jesus verhaftet und verhört, von Pilatus als unschuldig befunden und trotzdem gekreuzigt. Am Kreuz regelt Jesus letzte Dinge und spricht dann – kaum anders als in seinem Gebet: „Es ist vollbracht“ und stirbt.

Manchmal hilft mir ein Gott, der über den Dingen steht, wie der Jesus des Johannesevangeliums, eine Erhabenheit die mich herausholt aus dem Klein-Klein des Alltags, aus den kleinen Sorgen und Ängsten dieser Welt und mich versetzt in die Welt Gottes, in der schon alles zu meinem besten geregelt ist. Manchmal hilft der Jesus des Johannesevangeliums, mit seiner Gewissheit, mit seinen großen Worten, mit seinem: Alles ist vollbracht. Alles ist gut. Manchmal hilft das. Manchmal beruhigt und tröstet das. Aber nicht immer.

In diesem Jahr müssen wir Ostern feiern, während ein grausamer Krieg wütet, dessen Schreckensbilder uns auch an Ostern nicht loslassen werden. Da will die Botschaft: Alles ist vollbracht, mission accomplished, alles ist gut, nicht ankommen in unseren verschreckten Seelen. Nichts ist gut in der Ukraine.

Ich kann in diesem Jahr nicht mit der Gewissheit des Johannesevangeliums in die Karwoche gehen. Ich brauche leisere Töne. Vielleicht habe ich an der falschen Tür gelauscht. Es gibt ja noch mehr Türen, an denen man lauschen kann, um von Gott zu hören. Ich gehe weiter im Korridor der Evangeliumsetage der Bibel und stelle mich vor die Tür, an deren Türschild „Markusevangelium“ steht. Ich lege mein Ohr auf die Tür und lausche. Nichts. Stille. Ist da keiner drin? Moment … Ich höre Geräusche. Da ist jemand drin. Plötzlich geht die Tür auf und ein römischer Hauptmann kommt heraus. Ich erschrecke. Der wird mich sicher gleich abführen. Aber er sieht mich nur entgeistert an und sagt: „Ja, dieser Mensch war wirklich Gottes Sohn!“ Ich fasse mich schnell und frage: „Vom wem redest du?“ – „Von dem, den ich ans Kreuz habe nageln lassen.“ - „Jesus ist tot?, frage ich. Und du warst dabei, als er starb? Du hast es gesehen? Was waren seine letzten Worte?“, frage ich. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, das hat es zuletzt gesagt“, antwortet der Hauptmann, geht und lässt mich vor der offenen Tür stehen. Ich trau mich nicht hinein. Ich will es nicht sehen. Und doch kann ich den Blick nicht abwenden. Ich schaue hinein. Auf dem Boden liegt ein Mann. Bewegungslos. Zwischen den Beinen klemmt ein Fahrrad.

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Wir werden die Bilder nicht los, liebe Gemeinde. Auch an Ostern nicht. Nicht in diesem Jahr. Wir müssen sie mit hineinnehmen in diese Woche, in den Karfreitag und auch nach Ostern.

Was heißt es denn, wenn Jesus im Johannesevangelium zu Gott betet und sagt: Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen? Was heißt es, Gott erkennen und Jesus erkennen?

Kann es denn in diesem Jahr etwas Anderes heißen, als zu erkennen, dass in jedem einzelnen unschuldig Getöteten dieses Krieges der Sohn Gottes getötet wurde – wieder und wieder?

In Christus Gott erkennen – das ist das Thema der Evangelien. In diesem Jahr merken wir deutlicher als sonst: Erst wenn Jesus durchsichtig wird für die Opfer der Unmenschlichkeit, wird auch Gott sichtbar.

In den Bildern, die wir nicht aus dem Kopf kriegen, in dem Mann, der tagelang auf der Straßenkreuzung in Butscha liegt, sein Fahrrad zwischen den Beinen, erkennen wir Jesus Christus. Und in den anderen unschuldigen Opfern dieses Krieges. Als der Radfahrer erschossen wurden, war er gottverlassen. Aber er wird es nicht bleiben. Er wird vor Gott zu Ehren kommen, so wie Christus, der unschuldig getötete, von Gott verherrlicht wurde.

In diesem Jahr ist Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, ein Ukrainer.

Amen.