Frühmorgens kam Jesus wieder in den Tempel, und das ganze Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Lehrer, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. In der Tora aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen. Was sagst nun du? Das sagten sie aber, ihn zu prüfen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun dabei blieben, ihn zu fragen, beugte er sich hoch und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber beugte sich hoch und fragte sie: Frau, wo sind sie? Hat dich niemand verurteilt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige von nun an nicht mehr.
Zu einem Ehebruch gehören zwei. Doch wo ist der Mann? Die Ankläger sagen über die Frau, die sie angeschleppt haben, Mose habe in der Tora geboten, solche zu steinigen. Doch in der Tora steht: beide müssen sterben, der Ehebrecher und die Ehebrecherin. Und da die Ankläger außerdem sagen, dass die Frau auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen wurde, muss der Mann ja buchstäblich in greifbarer Nähe gewesen sein. Will der Erzähler zeigen, dass diese Ankläger frauenfeindlich sind, einem Mann durchgehen lassen, was sie bei einer Frau anklagen und geahndet wissen wollen? Das kennen wir von Mördern, die ihre Taten als Ehrenmorde bezeichnen und betrachten. Will er andeuten, dass die, die sich auf die Tora stützen, es mit ihr selbst nicht genau nehmen, nur das aus der Bibel heranziehen, was ihnen passt? Doch auch dann geben sie sich eine erstaunlich offensichtliche Blöße, machen sich angreifbar, selbst anklagbar. Was also soll es dann bedeuten, dass hier die Frau ohne Mann, die Ehebrecherin ohne Ehemann im Mittelpunkt steht, gewaltsam in die Mitte gestellt wird?
In der Bibel wird der Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel oft mit einem Ehebund verglichen. Darum wird Israel Ehebruch vorgeworfen, Hurerei, wenn es seinem Gott und Befreier untreu wird, vor allem in den Prophetenbüchern und da wiederum ganz besonders bei Ezechiel und Hosea. Der Gott Israels klingt da wie ein verschmähter, ein verlassener Liebhaber, der klagt und schimpft: Was willst du denn mit denen! Du könntest es so gut haben bei mir und mit mir! Vergiss nicht all das Gute, das ich für dich getan habe! Und weiterhin tun könnte und würde. Deutlich wird da aber auch: Er gibt nicht auf, er wirbt um seine treulose Geliebte. Bei Hosea kündigt er an, er werde einen Neuanfang bewirken, sie in die Zeit der ersten Liebe zurückführen, als noch keine Konkurrenten, keine Nebenbuhler eine störende Rolle spielten.
Diese Mächte und Herrschaften, Gestalten und Wahrheiten, die Israel seinem Gott vorzieht, sind zwar wirkmächtig, aber nicht sichtbar. Das erklärt, warum hier zwar die Ehebrecherin angeschleppt wird, nicht aber der dazugehörige Ehebrecher. In der Bibel ist da oft von Baal die Rede – ein Fruchtbarkeitsgott, der Götze des Wachstums. Anders als der Gott Israels ein Gott der Natur und nicht der Geschichte, der darum auch keine verheißungsvolle Wirklichkeit ist, keine Hoffnungen weckt. Diese Versuchung kennen wir auch aus der Geschichte des Christentums. Immer wieder hat die Kirche etwas als natürlich und naturgegeben bezeichnet und darum als unveränderlich, was durchaus geschichtlich und darum änderbar ist. Das Wort Baal bedeutet zugleich Ehemann und Besitzer, und schon das ist eine deutliche Warnung. Im Neuen Testament heißt der Gegengott, vor dem Jesus warnt, Mammon, das personifizierte und vergöttlichte Geld. Und von dem sagt Luther, er habe sehr viel mehr Anhänger als der Gott Israels, der Gott der Bibel.
Unser Text ist also keine Geschichte, von der der Verfasser meint, sie sei so geschehen, sondern ein Bild, ein Gleichnis. Die Frau in der Mitte verkörpert das Volk Israel. Ein Indiz dafür findet sich gleich zu Beginn. Das ganze Volk kam zu ihm, heißt es da – in einer Erzählung wäre das eine gewaltige Übertreibung. Die Ankläger werfen der Frau, also Israel, Untreue, Bundesbruch vor. Und diese Ankläger nehmen nun uns sehr bekannte Züge an. Sie sehen aus wie christliche Theologen, Kirchenleute. Jahrhundertelang hat die Kirche gelehrt und gepredigt, Gott habe sein Volk wegen dessen Untreue, wegen Unglaubens verstoßen und durch ein neues Bundesvolk, nämlich die Kirche, ersetzt.
Dass Israel den Bund oft gebrochen hat, ist kein Geheimnis. Die Bibel redet offen davon, nicht nur in den genannten Prophetenbüchern. Doch Jesus sagt: wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Er macht damit uns, seiner Kirche klar: wenn ihr ernsthaft behauptet, dass Gott seinen Bund wegen der Untreue des Bundespartners aufkündigt, dann sägt ihr an dem Ast, auf dem ihr sitzt. Wie wärt ihr dran, wenn menschliche Untreue Gottes Treue aufhebt?
Zu der Frau sagt er: Ich verurteile dich nicht. Er sagt aber auch: Sündige von jetzt an nicht mehr. Er denkt gar nicht daran, es für unvermeidlich zu halten, dass wir sündigen. Als wäre das so etwas wie ein Naturtatbestand. Also eigentlich keine Sünde, sondern Schicksal. Schicksalsglaube aber, Fatalismus ist der ganzen Bibel wesensfremd.
Das Evangelium, die frohe Botschaft dieser Geschichte klingt einstweilen utopisch, doch das spricht nicht gegen sie: Wer im Lehrhaus Jesu sitzt, wird nicht mit Steinen werfen.
Amen.