Von Menschen, Priestern und Propheten
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Der Prophet Jesaja schrieb folgendes auf:

Im Todesjahr des Königs Ussijahu sah ich den Herrn auf einem Thron sitzen, hoch und erhaben, und der Saum seines Gewandes füllte den Tempel. Über ihm standen Serafim; sechs Flügel hatte ein jeder, mit zweien hielt ein jeder sein Angesicht bedeckt, mit zweien hielt ein jeder seine Füße bedeckt, und mit zweien hielt ein jeder sich in der Luft. Und unablässig rief der eine dem anderen zu und sprach:

Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen! Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit.

Und von der Stimme dessen, der rief, erzitterten die Türzapfen in den Schwellen, und das Haus füllte sich mit Rauch.

Wie schön, dass einer das mal für uns gesehen hat! So haben wir doch wenigstens eine kleine Vorstellung davon, wie es im Himmelstempel Gottes aussieht. Dass Gott auf einem hohen Thron sitzt, dass Engel um ihn herum sind und viel Rauch. Also ungefähr so wie in vielen alten Kirchen mit erhöhter Apsis, in der Mitte der erhöhte Stuhl des Bischofs, bunte Fresken oder Mosaiken mit vielen Engeln und von der Messe hängt noch der Weihrauch in der Vierung.

Wie schön, dass einer das mal für uns gehört hat! So haben wir doch wenigstens eine kleine Vorstellung davon, was im Himmel gesungen wird.

Heilige, heilig, heilig. Doch wahrscheinlich wird im Himmel hebräisch gesungen: kadosh, kadosh, kadosh oder doch lateinisch? Sanctus, sanctus, sanctus.

Während der Priester um den Altar geht und mächtig Rauch macht, schallts vom hohen Chor: Sanctus, sanctus, sanctus.

Dreimal. Das „Trishagion“ – vielleicht sangen die Engel weder hebräisch noch Lateinisch, sondern griechisch. Die drei heiligen Sprachen der Theologie: Hebräisch, Griechisch und Latein.

Hauptsache dreimal. Dreimal heilig. Denn die drei steht heute, am Sonntag Trinitatis, am Sonntag der göttlichen Dreieinigkeit, im Mittelpunkt. Gott ist drei in eins. Steht so zwar nicht in der Bibel, ist aber zum ehernen Dogma aller christlichen Theologie geworden. Jeder christliche Gottesdienst beginnt im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wenn die Engel gewusst hätten, welche gedanklichen Anstrengungen sie damit bei christlichen Theologen ausgelöst haben, hätten sie es wahrscheinlich viermal „heilig“ gesungen oder siebenmal.

Das göttlichste Sanctus stammt vom Bach. Das wundert Sie jetzt nicht, oder? In der h-Moll Messe singen die Oberstimmen es in unzähligen Triolen, also drei auf einen Schlag. Beim Vierertakt ergibt das 12. Das wundert Sie jetzt nicht, nicht bei Bach! Alles ganz heilig bei Bach. Alles, was zählt, ist heilig. Und das verrückte ist, dass es trotz der Zahlenmanie auch noch so schön klingt.

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Wie schön also, dass das einer mal für uns gesehen und gehört hat. Gott im Himmel mit den Engeln. So können wir uns in der Kirche den Himmel nachbauen. Den Himmel auf die Erde holen, ein bisschen wenigstens. Eine klare Raumordnung von oben und unten, prächtige Gewänder, Weihrauch, ein Chor, am liebsten mit hellen Knabenstimmen, der in einer Tour dreimal Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Zebaoth singt. Schön! Danke, Jesaja für diese Sicht der Dinge, dann kannst du jetzt ja Priester werden, dich prächtig gewandten, räuchern, opfern und unablässig Gottes Lob singen.

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Doch die Priesterweihe des Jesaja scheint aus dem Ruder zu laufen. Ich lese, wie es mit der Vision des Jesaja weiterging:

Da sprach ich: Wehe mir, ich bin verloren! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen, und ich wohne in einem Volk mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den Herrn der Heerscharen gesehen! Da flog einer der Serafim zu mir, eine glühende Kohle in seiner Hand, die er mit einer Dochtschere vom Altar genommen hatte. Und die ließ er meinen Mund berühren, und er sprach: Sieh, hat das deine Lippen berührt, so verschwindet deine Schuld, und deine Sünde wird gesühnt. Und ich hörte die Stimme des Herrn sagen: Wen werde ich senden? Und wer von uns wird gehen? Da sprach ich: Hier bin ich, sende mich! Und er sprach: Geh, und sprich zu diesem Volk: Hören sollt ihr, immerzu hören, begreifen aber sollt ihr nicht! Und sehen sollt ihr, immerzu sehen, verstehen aber sollt ihr nicht! Mach das Herz dieses Volks träge, mach seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört und damit sein Herz nicht begreift und damit es nicht umkehrt und sich Heilung verschafft. Da sprach ich: Herr, bis wann? Und er sprach: Bis die Städte verödet sind und niemand mehr in ihnen wohnt und die Häuser menschenleer sind und der Boden völlig verwüstet wird. Und der Herr wird die Menschen weit fortführen, und die Einsamkeit wird groß sein im Herzen des Landes. Und ist noch ein Zehntel darin, so soll es noch einmal kahl gefressen werden, wie es bei der Terebinthe und wie es bei der Eiche ist, von denen beim Fällen etwas stehen bleibt. Ein heiliger Same ist, was von ihm stehen bleibt.

Die Priesterweihe des Jesaja ist aus dem Ruder gelaufen. Statt dass er sich auf den Boden wirft und sich weihen und segnen lässt, weicht er zurück und ruft entsetzt: Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen, und ich wohne in einem Volk mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den Herrn der Heerscharen gesehen!

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Wer Gott schaut, gerät nicht in Verzückung und Ekstase. Wer Gott schaut, gerät nicht außer sich – (das heißt ja, in Ekstase geraten), sondern im Gegenteil: Wer Gott sieht, gerät in sich, sieht tief in sich hinein, tief in das verborgene Dunkel seiner Selbst, das wir inkognito mit uns herumtragen, und erschrickt. Gott zu schauen, das ist wie eine Röntgenaufnahme. Doch statt der Knochen sieht man das Unreine in sich, den Unrat, das Peinliche, das Misslungene, das Missratene, die Kränkungen und Verletzungen, die ich anderen zugefügt habe, die Eitelkeit, den Hochmut, die Verzagtheit, die Dummheit. Eben das Menschliche und Allzumenschliche, mit dem man sich ja vor den Menschen immer rausreden und entschuldigen kann. Aber das geht dann vor Gottes Angesicht nicht mehr. Da kannst du nicht mehr sagen: „Ich bin doch auch nur ein Mensch, lass mich leben!“ Da musst du sagen: „Weh mir, ich bin ein Mensch. Ich vergehe.“ Das ist die Wahrheit über mich und vor Gott wird sie mir unerträglich. Im Angesicht Gottes kann ich mir keine Illusionen mehr über mich machen. Da kommt alles raus. Es gibt kein Entrinnen.

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Jesaja soll nicht Priester werden. Jesaja soll Prophet werden. Dies ist keine Priesterweihe, dies ist eine Prophetenweihe. Jesaja wird nicht mit einem schönen Kleid umhüllt, sondern mit glühenden Kohlen entsühnt.

Jetzt kann er von Gott gesandt werden, jetzt kann er Gottes Wort sagen. Und was er zu sagen hat, wird verstörend sein. Hören sollt ihr, immerzu hören, begreifen aber sollt ihr nicht! Und sehen sollt ihr, immerzu sehen, verstehen aber sollt ihr nicht!

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Liebe Gemeinde, in der Kirche gibt es zwei Sorten von Menschen, die vor und für Gott arbeiten. Sie haben beide ihren Auftrag und ihre Aufgabe, aber die sind kaum miteinander zu vereinbaren. Die einen sind die Priester, die anderen sind die Propheten.

Die einen, die Priester, loben Gott und bringen die Bitten und Gebete der Menschen vor sein Ohr. Das ist eine wichtige Aufgabe. Denn Gott wird verschwinden, wenn er von uns nicht unablässig gelobt wird. Und dann werden auch wir verschwinden, wenn wir keinen mehr haben, den wir loben können.

Und die anderen, die Propheten, sagen die Wahrheit. Sie sollen Botschaften von Gott ausrichten. Sie wollen es aber nicht, denn sie ahnen, dass diese Berufung kein Spaßberuf sein wird. Die meisten dieser Botschaften will keiner hören, denn sie sind unangenehm. Sie tun weh. Keiner der Propheten hat sich diesen Beruf freiwillig ausgesucht. Jesaja wehrte sich: Ich kann das nicht, denn ich bin ein unreiner Mensch. Ich halte die Wahrheit Gottes nicht aus, denn sie ist auch die Wahrheit über mich. Jeremia reif: „Ich bin noch zu jung!“. Samuel war auch sehr jung und erkannte erst gar nicht, dass Gott ihn rief und zu ihm sprach. Jona wollte auch nicht, er haute ab. Nützte auch nichts. Sie alle wurden Propheten wider Willen.

Jesaja träumte. Aber Prophetsein ist kein Traumberuf, es ist ein Scheißjob. Man macht sich extrem unbeliebt. Und wird sich auch selber sehr unangenehm.

Priester müssen rein sein und Propheten müssen glaubwürdig sein. Vielleicht ist am Ende das Rein Sein weniger anstrengend als das glaubwürdig Sein.

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Priester und Propheten. Pfarrerinnen und Pfarrer sind beides oder haben von beidem etwas. Vielleicht ist es am Ende für viele von uns leichter, zu beten und Gott schöne Lieder zu singen, als seine unangenehmen Wahrheiten zu predigen.

Priester und Propheten. Pfarrerinnen und Pfarrer sie alle sind Menschen. Der Mensch aber ist ein Gewohnheitstier. Wenn die Berufung zum Beruf wird, braucht man Routine. Man kann nicht jeden Sonntag von neuem anfangen, man kann sich nicht jeden Sonntagmorgen von neuem berufen lassen. So kommt es vor, dass man den Kontakt zu Gott und den Kontakt zu den Menschen verliert und an seinem Auftrag vorbei agiert.

Die Priester und Priesterinnen stehen in der Gefahr den Kontakt zu den Menschen zu verlieren, deren Bitten und Nöte sie doch vor Gott bringen sollen. Dann werden ihre Gebete abgestanden und fad, allgemein und belanglos. Sie deuten den Auftrag, Gottes Lob zu singen und die Bitten der Menschen zusammenzutragen, um in den Auftrag, schöne Gottesdienste zu feiern, mit schönem Gesang und schönen Gewändern und vielleicht auch ein bisschen Weihrauch.

Und die Propheten und Prophetinnen stehen in der Gefahr den Kontakt zu Gott zu verlieren, dessen Worte sie doch in die Welt bringen sollen. Dann verwechseln sie Gottes Wort mit politischen Parolen und sind überzeugt: Je unangenehmer und je radikaler die Minderheitenposition ist, die sie vertreten, desto prophetischer sei ihr Wort.

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Liebe Gemeinde, nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer sind berufen Priester und Propheten zu sein. Wir alle sind es. Wir alle sollen Gott loben, wir alle sollen füreinander beten. Wir alle sollen Gottes Wort in die Welt tragen. Als Wort an und für die Welt, ist dieses Wort immer ein politisches Wort. Prophetie ist immer politisch.

Aber echte Propheten und Prophetinnen haben den Kontakt zum lebendigen Gott und nicht zu den Götzen ihrer politischen Überzeugungen. Politische Überzeugungen kann man gerne haben. Aber mit denen sollte man Politiker werden und nicht Prophet.

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Priester und Propheten müssen sich immer wieder und immer wieder schmerzlich mit der Tatsache konfrontieren lassen, dass sie sündige Menschen sind.

Bevor die Priester am Ende der Messe das Dreimalheilig, das Sanctus, sanctus, sanctus singen, müssen sie am Anfang dreimal das Kyrie eleison singen, Herr erbarmen dich.

Bevor ein Prophet mit Gottes Wort im Mund auf die Menschheit losgelassen wird, muss er im Angesicht Gottes schamvoll erkennen: Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen!

Die Erkenntnis der eigenen Unwürdigkeit und der eigenen Unfähigkeit öffnet uns die Ohren für das, was Gott wirklich sagt, und für das, was die Menschen wirklich sagen. Wir sind uns dann selbst nicht mehr genug, sondern können und wollen hören, was uns gesagt wird.

Wie kann es sein, dass durch unsere unreinen Lippen Gottes Wahrheit geht? Wie kann es sein, dass durch unsere unreinen Lippen lautere Gebete an Gottes Ohr gelangen sollen?

Es kann gar nicht sein. Es ist unmöglich.

Und doch geschieht es. Es ist dann jedes Mal ein Wunder. Wenn Gott es will, werden wir alle zu Priestern und Priesterinnen, zu Prophetinnen und Propheten. Das ist nicht immer schön. Aber Gott wird uns nicht im Stich lassen.

Amen.