Liebe Gemeinde, die Passionszeit biegt jetzt auf die Zielgerade ein. Ostern ist nahe. Es ist die Zeit, in der der Rhythmus des Kirchenjahres uns dazu einlädt, über das Leid und das Leiden nachzudenken. Allem voran das Leiden von Jesus. Aber auch das Leid der Welt und unser Leiden kommen in dieser Zeit verstärkt in den Blick. Anlass gibt es schließlich genug. Und trotzdem: Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber mich fordert es schon heraus, gerade jetzt das Leiden in den Fokus zu rücken. Jetzt, da die Tage immer heller, länger und wärmer werden. Die Natur um uns herum zu erwachen beginnt. Die Farben zurückkommen und die Vögel zwitschern – der Frühling endlich kommt. Und doch – kein Ostern ohne Passion.
Und das Leid ist ja da. In Frühlingstagen nicht weniger als an einem grauen Herbsttag. In unserer Zeit nicht weniger als zu biblischen Zeiten. Der Predigttext für den heutigen Sonntag wirft uns mitten hinein in das Leid und das Nachdenken darüber.
Ich lese aus dem Alten Testament aus Hiob 19:
Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Irmhild K., 89, beschreibt ihre Erfahrungen während einer schweren Corona-Erkrankung vor zwei Jahren so:
Ich sehe keine Gesichter mehr. Mund und Nase sind verdeckt. Davor ein Plastikschutz vor dem ganzen Gesicht. Das Licht reflektiert, sodass auch die Augen nicht zu erkennen sind. Ich habe das Gefühl, dass sich mir unbekannte Wesen nähern. Wenn sie mich berühren, trifft Plastik auf meine Haut. Die Schmerzen sind schlimm. Ich kann mich nicht bewegen. Alles tut weh. Die Luft will nicht in die Lunge. Das Atmen ist eine Kraftanstrengung. Und die Einsamkeit frisst mich von innen auf. Niemand kommt. Die ich lieb hatte, dürfen mich nicht besuchen. All das zum Schutz. Alle tun ihr Bestes – die vermummten Wesen, die sich aufopferungsvoll um mich kümmern. Die Familie, die nicht kommen darf. All das muss so sein. Das sagt mein Verstand. Aber es fühlt sich so falsch an. Es fühlt sich so an, als ob mich alle verabscheuen und sich gegen mich wenden. So sehr sehne ich mich nach Gesichtern und Nähe und Berührungen.
Liebe Gemeinde,
Hiobs Krankheit wird wie eine hochinfektiöse Krankheit beschrieben. Das Wissen um Infektionen war damals noch gering. Die Menschen, die sich von Hiob abgewandt haben, haben das intuitiv getan, aus Angst vor Ansteckung. Er fühlt sich verlassen, verraten, vergessen. Er kann es nicht fassen, wie sie ihr Gesicht bedecken, wenn sie ihn auch nur von Ferne sehen. Er kann es nicht fassen, dass alle einen großen Bogen um ihn machen. Die Straßenseite wechseln. Er sieht darin eine Verachtung, die ihn verzweifeln lässt. Die Einsamkeit frisst ihn von innen auf. Tausende Jahre später hält uns ein neues Virus jahrelang in Schach. Wir sind alle Expert*innen geworden für Inkubationszeiten, Ansteckungswege, Impftechnologien. Aber die Empfindungen eines kranken Menschen damals und heute – ob Corona oder eine Krankheit - ähneln sich doch auf erstaunliche Art und Weise.
Zunächst diese tiefe Verzweiflung und Erschütterung. „Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt.“ So klagt Hiob. Und Grund zur Klage hat er reichlich. Denn Hiob ist Schlimmes widerfahren. Wir erinnern uns.
Die Bibel zeichnet Hiob zunächst als glücklichen, erfolgreichen und angesehenen Mann – er ist zufrieden, mit sich, mit seiner Familie, seinen Freunden und seinem Besitz. Es geht ihm gut. Er hat es zu was gebracht. Er ist da angekommen wo wir doch alle hinwollen – das gute Leben. Was auch immer das dann individuell heißen mag.
Doch von einem Tag auf den anderen ist nichts, wie es war. Nach und nach wird Hiob alles genommen. Die Rinder und Esel geraubt, die Schafe verbrannt, die Kamele gestohlen, die Knechte erschlagen, die Söhne und Töchter unter einem eingestürzten Dach begraben. Und – als sei der Verlust seiner Liebsten und all seines Besitzes noch nicht genug – er selbst geschlagen mit schwerer Krankheit, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Alleine und isoliert ist Hiob ganz unten angekommen - zurückgeworfen auf seine nackte Existenz.
Und inmitten dieser Verzweiflung steht dann dieser berühmte Satz: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Ganz unvermittelt.
Hiobs Verzweiflung war groß. Seine Erschütterung tief. Er fühlte sich zerbrochen, elend, einsam. Und auf einmal setzt er all dem Elend und seiner Not diese Zuversicht entgegen. Sein Leben ist von Hoffnung und Vertrauen getragen. Ja, auf den ersten Blick erscheint es tatsächlich wie eine unvermittelte Wendung. Aber wenn ich darüber nachdenke, gewinne ich den Eindruck, dass genau diese Gleichzeitigkeit von Verzweiflung und Zuversicht, von Leiden und Hoffnung doch etwas ist, dass für uns Christinnen und Christen sehr anschlussfähig ist. Von Jesus ist der Satz überliefert: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Dieses „Ich bin da“, „Ich bin bei euch“ ist ganz schlicht und dadurch so kraftvoll, weil es alles und alle umschließt. Kein „Ich bin da, wenn es euch gut geht“ oder wenn ihr lacht oder wenn ihr Gutes tut oder wenn ihr betet. Dieses „Ich bin da“ ist an keine Bedingungen geknüpft. Und deshalb ist Gott da und lebendig, in der größten Verzweiflung, in der Einsamkeit, bei Krankheit und Not. Hiob findet Trost in diesem Glauben. Und er vertraut auf Gottes Nähe sogar über den Tod hinaus.
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Es gibt da diese berühmte Arie von Händel. Vielleicht kennen Sie die. Die berührt mich jedes Mal erneut. Da heißt es: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und dass er erscheint am letzten Tag dieser Erde. Wenn Verwesung gleich mir drohet, wird dies mein Auge Gott doch sehen. Denn Christ ist erstanden von dem Tod. Der erste derer die schlafen.
Die Zeit des Leidens ist beendet. Freude kommt auf. Neue Hoffnung, neues Leben. Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden!
Doch halt – ist es dafür nicht zu früh? Wir sind ja noch mitten in der Passionszeit. Noch ist es nicht Ostern. Dürfen wir wirklich schon vorausschielen, was da kommt? – Ja, wir dürfen. Vielleicht müssen wir es sogar. Das gerade zeigt uns doch Hiob. Wenn das Elend am größten ist, ist der richtige Zeitpunkt, auf die Hoffnung zu setzen. Hiob erfährt unsägliches Leid. Und trotzdem hält er fest an diesem Gott. Er vertraut darauf, dass er ihn wieder ins rechte Licht rücken wird, ihm wieder zu seinem Recht verhelfen wird, ihn erlösen wird. Ein Hoffnungsschimmer mitten im Leiden. Er hilft, das Leiden auszuhalten. Ein Funken Hoffnung, der vor der Verzweiflung bewahrt. Damals bei Hiob – und heute in allem Leiden, das uns widerfährt, und in allem Leid, das die Welt und uns mit ihr erschüttert.
Darum sollen wir es auch heute schon hören: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Als Christinnen beziehen wir diesen Satz ganz konkret auf Christus. Auf Christus, der gestorben und am dritten Tage auferstanden ist. Auf Christus, der wiederkommen wird am Ende der Zeiten und „als der Letzte aus dem Staub sich erheben“ wird. Es stimmt - wir gehen in der Passionszeit auf Ostern zu. Und doch kommen wir als Christen auch immer schon von Ostern her.
Denn die Gewissheit, dass es nicht beim Leiden, ja nicht einmal beim Tod bleiben wird, bei Jesus nicht und bei uns auch nicht - diese Gewissheit schenke uns Gott immer wieder neu.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.