Entweder oder – oder auch nicht?
Pfarrerin Senta Reisenbüchler

Liebe Gemeinde, Was ist der Mensch? Ja, es sind die ganz großen Fragen, denen wir uns heute widmen. Also: Was würden Sie darauf antworten? Ich stelle mir vor: Wenn ich Sie jeweils einzeln befragen könnte, „Was ist der Mensch für Sie, für dich“? – ich würde wohl ganz unterschiedliche Antworten erhalten. Ausgehend von den eigenen Erfahrungen, Prägung und Sozialisation und nicht zuletzt die ökonomische Lage. Was ist wichtig, was macht mich als Menschen aus? Wie bin ich die geworden, die ich heute bin. Und wer werde ich noch?

„Was ist der Mensch?“ – auf diese Frage gibt es vielleicht so viele Antworten, wie es Menschen gibt. Und vielleicht muss das so sein. Vielleicht ist es eines dieser Fragen, bei der es nicht darum gehen kann die eine gültige Antwort zu finden, sondern darum, die Frage überhaupt zu stellen. Immer wieder. 

Im Neuen Testament im Galaterbrief gibt es einem Abschnitt, in dem der Apostel Paulus Interessantes über den Menschen zu sagen hat. Paulus – wir erinnern uns – war kein Jünger oder Wegbegleiter von Jesus, sondern wurde erst nach Ostern Teil der Jesusbewegung. Was hat Paulus also zu sagen über den Menschen?

Ihm geht es nicht um eine abstrakte Anthropologie, also die Frage was der Mensch als solches ist, sondern es geht ihm ganz konkret um die Bedingungen unter denen christliche Gemeinschaft möglich ist. Um die Frage wie so ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen und miteinander ihren Glauben teilen können. Welchen Blick braucht es auf mich und auf die anderen damit Gemeinschaft gelingen kann? Wir hören was Paulus im Galaterbrief dazu zu sagen hat. Ich lese aus dem 3. Kapitel:

26 Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. 27 Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. 28 Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus. 29 Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Nachkommen Abrahams und gemäß der Verheißung seine Erben.

Paulus legt den Christ*innen in Galatien dar wie Gemeinschaft funktionieren kann. Und dabei ist doch interessant, dass er einerseits sagt – ihr seid alle gleich, ihr seid alle Geschöpfe Gottes und somit unendlich kostbar und fehlbar zugleich. Zum anderen übernimmt er aber die gängigen Kategorien seiner Zeit um die Unterschiede zwischen den Gemeindegliedern zu markieren.

Warum macht Paulus das? Kann er nicht auch einfach sagen es gibt keine Unterschiede zwischen euch. Punkt. Es gibt keine und es soll keine geben. Daran haltet euch als Christinnen und Christen. Als Imperativ sozusagen.

Paulus meine ich ist sehr modern in seiner Herangehensweise. Er behauptet nicht einfach, dass alle Menschen gleich sind. Wir kennen das: Sätze wie

 – „I don´t see colours“ oder gerade bei werdenden Eltern „das Geschlecht ist doch vollkommen egal“ – diese Sätze sind gut gemeint. Sie meinen es sollte so sein, dass Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung keine Rolle spielen sollten. Aber zu behaupten, dass es bereits so sei, das negiert die Erfahrung zahlreicher Menschen, die Diskriminierung aufgrund dieser Zuschreibungen erfahren - Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transfeindlichkeit sind reale Phänomene und verschwinden nicht einfach indem wir behaupten, dass sie nicht existieren.

Paulus nimmt also die Kategorien seiner Zeit und setzt diese ein Stück weit außer Kraft indem sie zumindest in der christlichen Gemeinschaft – also zumindest partiell – nicht gelten dürfen. Gewissermaßen sagt er: „Die Gesellschaft und wir als Teil dieser Gesellschaft unterscheiden anhand dieser Kriterien – aber hier tun wir das nicht. Nicht unter uns. Hier gelten anderen Maßstäbe. Hier setzen wir der Ungleichheit etwas entgegen. Hier reden wir anders, leben wir anders. Auf Augenhöhe, einander zugewandt, bemüht um Gleichheit.

Bei Paulus sind es drei Unterscheidungen, die er in der Gemeinde ausmacht: Zunächst den Unterschied von jüdischen und nichtjüdischen Menschen (in seinem wording „Griechen“ – „Heiden“), also die religiöse und ethnische Unterscheidung. Dann den sozialen Unterschied von Sklavinnen und Sklaven einerseits, und freigeborenen Bürgerinnen und Bürgern andererseits, also die ökonomische Unterscheidung und zuletzt die Unterscheidung anhand geschlechtlicher Kategorien: „Mann und Frau“ – ob sozial oder biologisch verstanden.

Andere Zeiten, andere Kategorien aber auch wir verwenden in der Regel „binäre Systeme“, also Gegensätze von Entweder – Oder: Entweder jung oder alt, arm oder reich, entweder Mann oder Frau, Junge oder Mädchen, Homo oder Hetero. Selten ist dazwischen Platz für Ambiguitäten, Uneindeutigkeiten. Und diese Gegensätzpaare sind selten „neutral“. Meist verbindet sich eine Wertung mit ihnen: Das eine ist besser als das andere. Auch für Paulus war das ganz klar: Jude ist besser als Grieche, freier Mensch besser als Sklave, Mann besser als Frau. Auch heute gilt das leider. Oft unausgesprochen: besser jung als alt, besser ohne als mit Migrationshintergrund, besser hetero als homo und so weiter.

Lassen wir die Influencerin Gülcan Cetin zu Wort kommen, die über ihre Erfahrungen mit Rassismus twittert.

„Ob im Supermarkt, auf der Straße, in der U-Bahn: Rassismus begleitet mich überall im Alltag – vor allem auch im Beruf. 

Während meiner Ausbildung zur operationstechnischen Assistentin wurde ich im OP gefragt, ob ich unterdrückt werde. Eine andere Frage war, ob mein Vater erlaubt habe, dass ich Nacht- und Bereitschaftsdienste machen darf. Und als mich der Oberarzt zum ersten Mal außerhalb des OPs sah, sagte er: "Ich dachte, du bist eine intelligente und emanzipierte Frau." An dem Tag sah er mich zum ersten Mal ohne OP-Haube und mit Kopftuch.

Diese Erfahrungen prägten meinen Arbeitsalltag: Einmal besprachen zwei Chirurgen die Operationsschritte mit anzüglichen Bemerkungen.  Alle im OP lachten schallend los – ich nicht. Daraufhin hieß es: Die Muslimin versteht das nicht. Dabei fand ich es einfach nicht lustig, sondern sexistisch. 

Als ich nach der Ausbildung den Entschluss fasste, Medizin zu studieren, rieten mir Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen ab, weil ich doch sowieso heiraten und viele Kinder bekommen würde.  

Im Lauf meines Medizinstudiums habe ich dann auch von einem Professor Rassismus erfahren. Und von Patientinnen und Patienten habe ich immer wieder gehört, dass ich gut Deutsch spreche. Oft werde ich gefragt, wo ich geboren bin und ob ich zurück "in mein Land" gehen will. 

Ich werde so oft dazu genötigt, mich zu beweisen und zu rechtfertigen: Aber ich bin niemand Rechenschaft schuldig, der mich mit rassistischen Vorurteilen über muslimische Frauen konfrontiert. 

Ausschluss und Anfeindung erfahre ich schon seit Schulzeiten: Auch Lehrer haben mich oft rassistisch diskriminiert. Das begann schlagartig ab dem Zeitpunkt, als ich angefangen habe, Kopftuch zu tragen. 

Meine Erfahrungen in der Schule, während der Ausbildung und im Studium zeigen, dass Rassismus zum Alltag gehört. Das haben manche immer noch nicht verstanden. Mir ist klargeworden, dass ich das nicht mehr dulden möchte. Darum berichte ich im Internet über Rassismus. 

Ich habe auf Instagram eine große Reichweite. Auf eine einzige Story zu diesem Thema habe ich mehr als 3.000 Nachrichten bekommen. Meine Follower*innen haben mir geschrieben, was ihnen selbst passiert ist. Viele Menschen sind von rassistischen Vorfällen so traumatisiert, dass sie sich für das schämen, was ihnen widerfährt. Aber schämen sollten sich dafür alle anderen, nicht sie.“

Nicht nur die konkreten Kategorien mit denen wir Menschen einordnen sind ein Problem, sondern vielleicht das Kategorisieren selbst. Natürlich ist es oft notwendig, aber es liefert unreflektierte Vorannahmen und Bewertungen und steuert, wie Menschen wahrgenommen werden. Das nennt man „Halo“- Effekt, habe ich diese Woche gelernt. Das meint, dass wir aufgrund von bekannten Eigenschaften einer Person oder Dingen auf Unbekannte schließt. Der Halo-Effekt - das kennen wir doch, oder? Die Erfahrung in einer Schulblade zu stecken, die der eigenen Selbstwahrnehmung so gar nicht entspricht und der eigenen Komplexität nicht gerecht wird. Mich einengend und unbarmherzig auf ein einziges Merkmal reduziert.

Und zugleich zu wissen, dass wir das natürlich auch machen. Da fällt dieses eine Wort oder da kommt diese eine bestimmte Geste und schon rolle ich mit den Augen – kenn ich schon. So einer ist der also. Oder auch sie.

Wir kategorisieren, stecken in Schubladen – uns und andere. Wie kommen wir da raus? Gibt es eine Pointe bei Paulus? Ja. Wie immer befiehlt Paulus nicht, kein Imperativ, sondern er wirbt mit Argumenten. Mit Glaubenserfahrungen. So auch hier: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht ‚Mann und Frau‘; Denn – und jetzt kommts: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“

Ein seltsames Bild: Mit der Taufe haben wir alle Christus wie ein Taufkleid angezogen. Die Getauften tragen ein Christus-Aussehen. Ich stelle mir das in etwa wie eine Schuluniform vor. Alle, unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft und ihres Geschlechts, gleich gekleidet. Nicht mehr sichtbar ist all das, was man damals wie heute sofort an der Kleidung, am Aussehen ablesen kann. All das, was wir sofort registrieren, wenn wir einem anderen Menschen begegnen. 

Natürlich wäre das auf Dauer langweilig und frustrierend unsere vorhandene Individualität nicht auch ausdrücken zu könnten aber das Bild zeigt doch, worauf es ankommt: Was uns als Christinnen verbindet ist nicht unser sozialer Status, unsere Herkunft, oder Einkommen, unser Milieu, unsere politische Ausrichtung, sondern Christus als unser gemeinsames Zentrum. Und es ist nicht so, dass es nicht sehr wohl Unterschiede zwischen uns gibt aber zumindest hier in Gottes Gemeinde, im Gottesdienst sollten wir bemüht sein uns an diese unsere Taufkleider zu erinnern. Christus als Grund unserer Gemeinschaft heißt nämlich: Du, als Mensch, als Geschöpf Gottes bist von Gott anerkannt, so wie du bist, und nicht erst, wenn du bestimmten Erwartungen oder Vorgaben entsprichst. Diese oder jene gesellschaftliche Kategorie auf dich zutreffen. Diese Botschaft macht frei: Sie macht frei von der Orientierung an überkommenen Normen im Umgang mit den anderen. Sie befreit zu einem neuen Miteinander.

Was ist der Mensch – wenn er nicht zuerst ethnisch, ökonomisch oder geschlechtlich einfangbar ist? Diese Frage konnten wir überraschenderweise in 10 Minuten nicht abschließend klären. Aber vielleicht können wir uns heute wieder neu vornehmen – metaphorisch gesprochen - unser Taufgewand aus dem Schrank zu holen, überzuwerfen und so auf die Menschen zugehen, denen wir diese Woche begegnen. Das ist doch ein Anfang. 

Amen.